Arbeitsgericht Wiesbaden

Urteil vom - Az: 5 Ca 3585/03

Außerordentliche Kündigung eines Krankenpflegers; Abmahnung entbehrlich bei großer Gefahr

Die außerordentliche Kündigung eines Krankenpflegers, welcher zugleich auch stellvertretender Stationsleiter ist, ist gerechtfertigt, wenn dieser es unterlässt einen diensthabenden Arzt an eine Bluttransfusion bei einem Patienten auf der Intensivstation zu erinnern. Eine Abmahnung ist in diesem Fall aufgrund der verursachten großen Gefahr (hier: Lebensgefahr für Patienten) entbehrlich.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 9.900,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer durch die Beklagte ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung.

Der am ... geborene Kläger ist verheiratet und hat zwei minderjährige Kinder.

Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) in R. Mit Arbeitsvertrag vom 23.04.1990 wurde der Kläger ab dem 01.05.1990 als examinierter Krankenpfleger eingestellt. Er arbeitete fortan auf der Intensivstation und war seit 11 Jahren stellvertretender Stationsleiter. Das durchschnittliche Bruttomonatsentgelt belief sich zuletzt auf 3.300,00 EUR.

Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als fünf Arbeitnehmer.

Unter § 2 des Arbeitsvertrages vereinbarten die Parteien, dass für das Dienstverhältnis die "Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes" (AVR) in ihrer jeweils geltenden Fassung zur Anwendung gelangen sollten.

Bei der Beklagten bestand eine spezielle Mitarbeitervertretung (MAV), deren Rechte und Pflichten im Einzelnen von einer Rahmenordnung für eine Mitarbeitervertretungsordnung (Rahmen-MAVO) geregelt sind. § 31 Abs. 1 der Rahmen-MAVO hat in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 20.11.1995 (abgedruckt in dem Band "Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR)", erschienen im Lambertus Verlag, Stand Juli 1999) folgenden Wortlaut:

"Der Mitarbeitervertretung ist vor einer außerordentlichen Kündigung nach Ablauf der Probezeit durch den Dienstgeber schriftlich die Absicht der Kündigung mitzuteilen."

Der Kläger war Mitglied der für den Betrieb der Beklagten zuständigen Mitarbeitervertretung.

In der Nacht vom 16.11. auf den 17.11.2003 hatte der Kläger auf der Intensivstation Nachtschicht. Zu diesem Dienst war ebenfalls die Krankenpflegerin Frau ... eingeteilt. Bei der Beklagten ist es üblich, dass jedem Krankenpfleger auf der Intensivstation bestimmte Patienten zugeordnet werden. Dem Kläger war in der Nachtschicht u. a. der 76-jährige Patient ... zugeordnet.

Um 17.45 Uhr ordnete der diensthabende Anästhesist Dr. ... hinsichtlich des Patienten ... die Verabreichung eines Erythrozytenkonzentrates an. Die Blutkonserve musste zunächst in einem hauseigenen Labor hergestellt werden. Diese Transfusion kann nur durch einen Arzt vorgenommen werden. Für die Transfusion verbleibt nach der Herstellung maximal sechs Stunden zur Zeit. Um 19.00 Uhr erschien auf der Station der diensthabende Arzt der Chirurgie, Herr Dr. ..., untersuchte den Patienten nochmals und bestätigte die angeordnete Transfusion. Um 19.30 Uhr wurde die bestellte Konserve von der diensthabenden Krankenpflegerin F. abgeholt.

Um 20.45 Uhr übergab die Zeugin ... im Rahmen eines üblichen Übergabegespräches die Station vom Spätdienst an den Nachtdienst, also auch an den Kläger. Dabei informierte Frau ... den Kläger auch darüber, dass die Blutkonserve noch transfundiert werden müsse.

Unstreitig wusste der diensthabende Arzt Dr. ... ebenfalls Bescheid darüber, dass die Blutkonserve noch transfundiert werden musste.

Der Kläger dokumentierte in seinem Pflegebericht in der Patientenkurve bezüglich des Patienten ... während der Nachtschicht folgendes:

"Patient geht es sehr schlecht, schreit laut, ist verwirrt, BGA, kein AS mehr, AVD weis Bescheid, leichte Sedierung, EK hängt zum Transfundieren, AZ sonst stabil, Pflege, Prophylaxen und Therapie nach Plan, heute Kontrolle Verband durchgenässt am Bein."

Die Zeugin ... versorgte während des Nachtdienstes mehrmals den Patienten ... pflegerisch. Bis zur Übergabe des Nachtdienstes an den Frühdienst wurde die Blutkonserve nicht transfundiert.

Mit Anhörungsbogen vom 25.11.2003 wurde die Mitarbeitervertretung zu der von der Beklagten beabsichtigten außerordentlichen Kündigung angehört. Gleichzeitig wurde der Vorsitzende der Mitarbeitvertretung, Herr ... von dem Geschäftsführer der Beklagten und dem Pflegedienstleiter Herr ... in einem Gespräch über die Einzelheiten der Kündigungsgründe, wie sie in dem späteren Kündigungsschreiben niedergelegt wurden, informiert. Bezüglich der Einzelheiten des Anhörungsbogens wird ergänzend verwiesen auf Blatt 33 bis 34 d. A. Die Mitarbeitervertretung widersprach der fristlosen Kündigung am 27.11.2003, da die Maßnahme nicht angemessen sei.

Mit Schreiben vom 28.11.2003, welches dem Kläger am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte das Dienstverhältnis außerordentlich. Bezüglich der in dem Kündigungsschreiben angegebenen Gründe wird ergänzend verwiesen auf Blatt 10 bis 11 d. A. Mit seiner bei Gericht am 03.12.2003 eingegangenen und der Beklagten am 11.12.2003 zugegangenen Klage macht der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend.

Er ist der Auffassung, dass die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt sei. Er behauptet, der diensthabende Arzt Dr. ... habe noch vor Dienstbeginn des Klägers der Zeugin ... mitgeteilt, dass die Konserve erst noch warm werden müsse. Die Zeugin ... habe dem Kläger bei Dienstantritt mitgeteilt, dass Herr Dr. ... Bescheid darüber wisse, dass die Blutkonserve noch zu transfundieren sei. Durch die unterlassene Transfundierung sei eine Gefährdung des Gesundheitszustandes des Patienten ... nicht eingetreten, vielmehr habe sich sein Zustand nach dem 16.11.2003 gebessert. Er ist der Ansicht, dass bei einem erstmaligen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten angesichts seiner langen Betriebszugehörigkeit eine Abmahnung möglicherweise angemessen wäre, keinesfalls jedoch eine außerordentliche Kündigung. Schließlich bestreitet er die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates und macht geltend, dass seine schriftliche Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen der Mitarbeitervertretung nicht vorgelegen habe.

Der Kläger stellt die Anträge,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch schriftliche außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.11.2003, zugegangen am 28.11.2003, nicht mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden ist;

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag zu 1. zu den im Arbeitsvertrag vom 28.04.1990 geregelten Arbeitsbedingungen als stellvertretende Stationsleitung auf der Intensivstation zu einem Bruttogehalt von 3.300,00 EUR bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die außerordentliche Kündigung berechtigt sei. Sie behauptet, dass der Kläger während des Nachtdienstes von der Krankenschwester ... auf die bislang unterbliebene Transfusion angesprochen worden sei. Der Kläger habe sodann geäußert, dass es nicht seine Aufgabe sei, den Dienstarzt zu erinnern, da dieser bereits vom Spätdienst informiert worden sei. Die Beklagte meint, dass der Kläger als verantwortliche Bezugsperson während der Nachtschicht dafür hätte Sorge tragen müssen, dass die Transfusion rechtzeitig von einem Arzt vorgenommen werde. Der Kläger hätte eine Garantenstellung bezüglich des Patienten ... verletzt. Es sei möglich und auch übliche Praxis gewesen, dass der diensthabende Chirurg, oder, sofern dieser nicht erreichbar sein sollte, der diensthabende Anästhesist angepiepst und an die Erledigung dringender ärztlicher Handlungen auf der Intensivstation erinnert wurde. Dies sei dem Kläger als langjähriger stellvertretender Leiter der Intensivstation bekannt gewesen. Er habe von der Notwendigkeit der Verabreichung der Blutkonserve gewusst und sehenden Auges eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten hingenommen. Dieses Fehlverhalten hätte ohne weiteres zu erheblichen gesundheitlichen Schäden bis hin zum Tod des Patienten führen können, da sämtliche Patienten auf der Intensivstation latent vital gefährdet seien. Die Beklagte meint, dass ihr aufgrund dieses Sachverhaltes eine weitere Beschäftigung des Klägers als Krankenpfleger nicht mehr zumutbar sei.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird ergänzend Bezug genommen auf sämtliche gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, materiellrechtlich jedoch unbegründet.

I. Die Klage ist zulässig.

Insbesondere ist es keine Zulässigkeitsvoraussetzung eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens, wenn das zwischen den Parteien obligatorisch vorgesehene Schlichtungsverfahren nicht durchgeführt worden ist. In dem Arbeitsvertrag haben die Parteien in § 2 vereinbart, dass die "Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes" (AVR) zur Anwendung gelangen sollen. Nach § 22 Abs. 1 der AVR Allgemeiner Teil (A. T.) sind Dienstgeber und Mitarbeiter verpflichtet, bei Meinungsverschiedenheiten, die sich bei der Anwendung der AVR oder aus dem Dienstverhältnis ergeben, zunächst die bei dem zuständigen Diözesancaritasverbandes errichtete Schlichtungsstelle anzurufen. Die Durchführung des Schlichtungsverfahrens ist aber keine Voraussetzung, um das Arbeitsgericht anrufen zu können (vgl. LAG Hamm vom 20.01.1995, Az. 10 Sa 882/94 -juris). Dies stellt § 23 Abs. 4 AVR A. T. klar, wonach die Behandlung eines Falles vor der Schlichtungsstelle die fristgerechte Anrufung des Arbeitsgerichtes nicht ausschließt.

II. Die Klage ist unbegründet. Die außerordentliche Kündigung vom 28.11.2003 hält einer gerichtlichen Überprüfung stand.

1. Die für das Arbeitsverhältnis der Parteien zuständige Mitarbeitervertretung (MAV) wurde wirksam angehört. Nach § 5 Rahmen-MAVO stellt die für Betriebe des Caritasverbandes errichtete Mitarbeitervertretung das von den wahlberechtigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gewählte Organ dar, welches die Rechte der Belegschaft nach Maßgabe der Rahmen-MAVO wahrnimmt. Nach § 31 Abs. 1 Rahmen-MAVO ist der Mitarbeitervertretung vor einer außerordentlichen Kündigung nach Ablauf der Probezeit durch den Dienstgeber schriftlich die Absicht der Kündigung mitzuteilen. Dieses Verfahren wurde eingehalten, denn dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung, Herr ..., wurde am 25.11.2003 das Anhörungsschreiben vom gleichen Datum übergeben. Aus dem Anhörungsbogen ist unzweifelhaft die schriftliche Absicht der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung zu entnehmen, denn es wurde um entsprechende Mitwirkung nach § 31 der MAVO gebeten. Darüber hinaus, und nach dem Wortlaut der Vorschrift an sich nicht mehr erforderlich, wurden dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung am gleichen Tag die Kündigungsgründe mündlich erläutert. Wie die Beklagte im Kammertermin am 06.05.2004 klarstellte, sprach sie die Gründe für die Kündigung, so wie sie in dem Kündigungsschreiben vom 28.11.2003 niedergelegt wurden, bei diesem Gespräch an.

Dabei gilt § 31 Rahmen-MAVO in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 20.11.1995. Nicht hingegen gilt eine Fassung der gleichen Vorschrift, wie sie z. B. derzeit in der Gesetzessammlung Nipperdey, Stand Oktober 2003, abgedruckt ist. Die dortige Fassung von § 31 in Abs. 1 lautet: "Der Mitarbeitervertretung sind vor einer außerordentlichen Kündigung durch den Dienstgeber schriftlich die Absicht der Kündigung und die Gründe hierfür mitzuteilen." Diese Fassung hat keine gültigen Bestand. Wie sich aus einer Anmerkung zu den Regelungen in der Gesetzessammlung Nipperdey ergibt, hätte die dort aufgeführte Fassung der MAVO bis zum 31.12.2003 kirchenrechtlich noch umgesetzt werden müssen. Dabei kommt es darauf an, ob für das jeweilige Bistum die Fassung durch den Bischof umgesetzt worden ist. Jedenfalls für das Bistum Limburg hat der Bischof von Limburg derzeit die neue Fassung einer Rahmenordnung der MAVO noch nicht umgesetzt. Für Rüdesheim und damit für den Betrieb der Beklagten, welcher sich im Zuständigkeitsbereich des Bistums Limburg befindet, galt damit noch die alte Fassung fort. Dies wurde auf eine Anfrage an das Bistums Limburg dem Gericht auch schriftlich bestätigt.

2. Die außerordentliche Kündigung vom 28.11.2003 ist nach § 626 Abs. 1 BGB wirksam.

a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist.

Nach diesen Grundsätzen ist davon auszugehen, dass auf der ersten Stufe ein Grund vorlag, der an sich geeignet ist, die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dieser Grund ist darin zu sehen, dass es der Kläger pflichtwidrig im Nachtdienst in der Nacht vom 16.11. auf den 17.11.2003 unterlassen hat, für eine rechtzeitige Transfundierung der ärztlich angeordneten Blutkonserve zugunsten des Patienten ... zu sorgen.

Dem Kläger ist der Vorwurf zu machen, dass er in einem erheblichen Maße gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis verstoßen hat. Er war als diplomierter Krankenpfleger für die Beklagte tätig, darüber hinaus war er stellvertretender Stationsleiter auf der Intensivstation. Aus dieser Stellung ergab sich die vertraglich geschuldete Verpflichtung, für das Wohl der Patienten zu sorgen und insbesondere eine Gefährdung ihrer Gesundheit abzuwenden. Dies gilt im besonderen Maße bei der Betreuung von Patienten auf der Intensivstation. Dem Kläger war in der Nachtschicht der Patient ... zugeordnet. Es bestand für den Kläger daher die Pflicht, alles Erforderliche und ihm Zumutbare zu tun, um eine Gefährdung des Gesundheitszustandes dieses Patienten abzuwenden.

Gegen diese Pflicht hat er verstoßen, denn er hat es unterlassen, dafür zu sorgen, dass die ärztlich angeordnete Blutkonserve an den Patienten verabreicht wurde. Unstreitig wusste der Kläger darüber Bescheid, dass die Blutkonserve ärztlich angeordnet war. Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass der Kläger bei dem Übergabegespräch von der zuvor diensthabenden Krankenpflegerin Frau ... über die noch zu verabreichende Blutkonserve unterrichtet worden war. Diesem Vortrag ist der Kläger nicht entgegen getreten. In dem Wissen, dass die Blutkonserve nur von einem Arzt verabreicht werden durfte, blieb er untätig und machte insbesondere nicht den Versuch, den diensthabenden Chirurgen oder einen diensthabenden Anästhesisten auf die Station zu rufen. Dies wäre ihm ein Leichtes und auch ohne weiteres zumutbar gewesen. Nach dem Vortrag der Beklagten, dem der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten ist, war es übliche Praxis, dass der diensthabende Arzt, der naturgemäß nicht auf allen Stationen gleichzeitig sein kann, von dem jeweiligen Krankenpfleger angepiepst wurde, wenn eine wichtige ärztliche Handlung vorgenommen werden musste. Der Kläger blieb jedoch untätig, in dem Wissen, dass es dem Patienten - zumindest möglicherweise - schlechter gehe. In der Patientenkurve notierte der Kläger selbst, dass es dem Patienten sehr schlecht ginge, er schreie laut und sei verwirrt. Es ist auch kein Anhaltspunkt vorgetragen, dass der Kläger in dem Nachtdienst mit anderen Patienten in einer solchen Weise ausgelastet gewesen wäre, dass sich die Vernachlässigung seiner Pflichten bezüglich des Patienten ... als eine fahrlässige Vernachlässigung darstellen könnte. So bleibt nur der Schluss, dass der Kläger durch seine Kenntnis, dass die Blutkonserve noch nicht transfundiert worden ist, eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten billigend in Kauf genommen hat.

Dieser Vorwurf wird nicht dadurch entkräftet oder geschmälert, dass der diensthabende Chirurg Dr. ... grundsätzlich über die Notwendigkeit der Verabreichung der Transfusion Bescheid wusste. Unstreitig war Herr Dr. ... jedoch nicht speziell der Intensivstation zugeordnet, sondern er war ebenfalls auf anderen Stationen tätig. Nach dem Vortrag des Klägers habe Herr Dr. ... der Krankenpflegerin Frau ... mitgeteilt, dass die Konserve noch warm werden müsse. Dies deckt sich mit dem Vortrag der Beklagten, nach dem die Blutkonserve zunächst hergestellt und anschließend erwärmt werden musste. Das Bestreiten des Klägers, dass grundsätzlich die Blutkonserve erwärmt werden musste, ist unerheblich, weil es jedenfalls in dem vorliegenden Fall so durchgeführt worden ist, dass die Konserve erwärmt wurde. Vor diesem Hintergrund ist der Vortrag der Beklagten plausibel, dass Herr Dr. ... keine genaue Kenntnis darüber hatte, wann die Transfusion beginnen konnte, weil diese zuvor einen bestimmten Wärmegrad erreicht haben musste. Er konnte daher erwarten, von dem Kläger benachrichtigt zu werden.

Aber selbst wenn man annehmen wollte, dass Herr Dr. ... von sich aus hätte nachfragen müssen bzw. die Transfusion von sich aus hätte durchführen müssen, so wäre allenfalls ein Mitverschulden von Herrn Dr. ... anzunehmen. Dies vermag den Kläger, der unmittelbar ständig vor Ort bei dem Patienten war und der während des Nachtdienstes für den Gesundheitszustand des Patienten in erster Linie verantwortlich war, nicht zu entlasten. Bei dieser Sachlage kann auch unentschieden bleiben, ob, wie die Beklagte vorträgt, der Kläger auf Nachfrage von Frau ... geantwortet habe, dass er es nicht als seine Aufgabe ansehe, den Dienstarzt zu erinnern.

b) Die Kündigung ist auch nicht unverhältnismäßig, insbesondere war vor Ausspruch der Kündigung keine Abmahnung erforderlich. Zwar entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass bei einem steuerbaren Verhalten vor Ausspruch einer Kündigung grundsätzlich eine Abmahnung erforderlich ist, und zwar auch bei Fehlern im Vertrauensbereich, wenn zu erwarten ist, dass die Vertrauensgrundlage wieder hergestellt wird (BAG vom 04.06.1997, AP Nr. 137 zu § 626 BGB).

Von diesen Grundsätzen hat die Rechtsprechung allerdings bereits mehrfach Ausnahmen zugelassen, insbesondere dann, wenn durch einen Fehler des Arbeitnehmers die Gefahr eines besonders großen Schadens verursacht worden ist (vgl. BAG vom 14.10.1965, AP Nr. 27 zu § 66 BetrVG für die Gefährdung von Fluggästen; sowie BAG vom 11.03.1999, Az. 2 AZR 51/98 - juris für eine besonders gravierende Vermögensgefährdung). Der Kläger war als stellvertretender Leiter der Intensivstation beschäftigt. Ein Fehler bei einer solchen Tätigkeit führt zwangsläufig zu einer möglichen Gefährdung von Leben bzw. zumindest zu dem Risiko einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Patienten. Das Gericht verkennt nicht, dass bei einer Fehlleistung eines Arbeitnehmers dem Arbeitgeber u. U. relativ leicht große finanzielle Nachteile entstehen können, z. B. in dem Fall, in dem ein Arbeiter eine Maschine sachwidrig bedient und es dadurch zu einem Produktionsausfall kommt. Anders als in einem solchen Fall stand hier jedoch die Gefährdung von einem Menschenleben auf dem Spiel. Deshalb ist es gerechtfertigt, einen deutlich strengeren Maßstab anzulegen. Ferner muss Beachtung finden, dass nach dem gesamten Vortrag beider Parteien davon auszugehen ist, dass der Kläger bezüglich des ihm vorzuwerfenden Unterlassens der Benachrichtigung eines Arztes zumindest mit bedingtem Vorsatz handelte. In einem solchen Fall ist es der Beklagten, die auch auf ihre Reputation nach außen zu achten hat, nicht länger zuzumuten, den Kläger als Krankenpfleger weiterzubeschäftigen.

c) Schließlich geht die insgesamt vorzunehmende Interessenabwägung aller Vertragsinteressen ebenfalls zu Lasten des Klägers aus. Zu seinen Gunsten spricht die lange Betriebszugehörigkeit. Ferner ist zu beachten, dass er einer Familie unterhaltspflichtig ist. Auf der anderen Seite muss gesehen werden, dass Fehler jedweder Art bei der Behandlung von Patienten auf der Intensivstation nicht hinzunehmen sind und der Kläger im Laufe des Prozesses auch keine für ihn entlastenden Umstände vortragen konnte, die das Maß seines Verschuldens in einem milderen Lichte erscheinen lassen könnten. Wie bereits schon weiter oben erwähnt, muss ebenfalls gesehen werden, dass bei einem Publikwerden dieses Vorfalles der Beklagten ein schwerer Imageverlust drohen könnte.

III. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Der Kläger hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreites zu tragen.

Die Festsetzung des Streitgegenstandes richtet sich nach § 12 Abs. 7 ArbGG und erscheint mit drei Bruttomonatsgehältern als angemessen bewertet.



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