Arbeitsgericht Fulda

Urteil vom - Az: 1 Ca 3/97

Zur Frage wann eine Tarifnorm deklaratorisch oder konstitutiv wirkt

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist durch Auslegung des Tarifvertrages zu ermitteln, ob die Tarifvertragsparteien eine eigenständige oder eine deklaratorische Regelung treffen wollten. Von einer eigenständigen Regelung ist nur dann auszugehen, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien, eine eigenständige Regelung treffen zu wollen, im Tarifvertrag hinreichend erkennbar Ausdruck gefunden hat; das ist der Fall, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Eine deklaratorische Regelung ist hingegen anzunehmen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden.
Der vom Gesetz abweichende Wortlaut der Tarifnorm ist bei Inhaltsgleichheit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kein hinreichendes Indiz für eine konstitutive Bestimmung.

Tenor

Der Kläger hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes, der gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen ist, richtet sich nach der Höhe der Klageforderung.

Die Berufung wird gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1, 2 b ArbGG zugelassen.

Tatbestand

Die Beklagte betreibt eine Leinweberei. Der Kläger ist seit 01.08.1975 bei der Beklagten beschäftigt und erhält für seine Tätigkeit als Meister ein Gehalt in Höhe von DM 4.410,- brutto monatlich. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifbindung Tarifverträge für die kaufmännischen und technischen Angestellten sowie Meister der hessischen Textilindustrie Anwendung. Zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthält der anwendbare Manteltarifvertrag für die kaufmännischen und technischen Angestellten sowie Meister der hessischen Textilindustrie vom 12.04.1996 in § 5 folgende Regelung:

㤠5

Arbeitsausfall und Tod

1.

...

2.

In Fällen unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit, ist das Gehalt, einschließlich monatlich regelmäßig gezahlter Leistungs- und Sozialzulagen, bis zur Dauer von sechs Wochen weiterzuzahlen.

Zu den monatlich regelmäßig gezahlten Leistungs- und Sozialzulagen im Sinne dieser Bestimmung zählen auch monatlich regelmäßig gezahlte Vergütungen für Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit, sofern der Angestellte im Falle der Arbeitsfähigkeit Mehr-, Nacht-, Sonn- oder Feiertagsarbeit während des Krankheitszeitraumes verrichtet haben würde.“

In der Zeit vom 04.11.1996 bis 08.11.1996 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte gewährte dem Kläger für diesen Zeitraum Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % seines Gehaltes. Der Kläger verlangte mit Schreiben vom 11.12.1996 von der Beklagten die Zahlung der Differenz zum vollen Gehalt. Da die Beklagte auf dieses Schreiben nicht reagierte, verfolgt der Kläger sein Begehren, nämlich die Zahlung der Differenz zum vollen Gehalt in unstreitiger Höhe von DM 256,98 brutto, mit der Klage weiter.

Der Kläger ist der Ansicht, im Fall krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit gem. § 5 Abs. 2 des Manteltarifvertrages einen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Gehaltes zu haben, da es sich bei der Bestimmung um eine konstitutive (eigenständige) Regelung handele, die unabhängig von der jeweiligen gesetzlichen Regelung gelte und einen Gehaltsfortzahlungsanspruch in Höhe von 100 % einräume. Der Kläger meint, daß für die Eigenständigkeit der Regelung deren Wortlaut, die Überschrift und die Tarifgeschichte sprächen; nach dem Wortlaut der Norm sei das "Gehalt", d. h. das volle Gehalt nach dem Lohnausfallprinzip, zu zahlen, wie sich auch aus der Ergänzung einschließlich monatlich regelmäßig gezahlter Leistungs- und Sozialzulagen ergebe; auch die im Gesetz nicht vorhandene Überschrift aus der tariflichen Regelung "Arbeitsausfall und Tod" deute auf eine eigenständige Regelung hin; schließlich sei die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zuerst eine gewerkschaftliche Forderung gewesen, die zuerst in Tarifverträgen und dann erst in Gesetzen durchgesetzt worden sei; da bei der Neuschreibung des Manteltarifvertrages im Jahre 1996 trotz der politischen Diskussion um die Kürzung der Entgeltfortzahlungen im Entgeltfortzahlungsgesetz kein Verweis auf die jeweils gültige gesetzliche Regelung in den Tarifvertrag aufgenommen worden sei, zeige auch die Tarifentwicklung, daß die Tarifvertragsparteien eine konstitutive Regelung getroffen hätten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 256,98 brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit 01. Dezember 1996 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, daß es sich bei der Regelung des § 5 Abs. 2 Manteltarifvertrag um eine deklaratorische, d.h. eine auf das jeweils gültige Gesetz verweisende Bestimmung, handele, so daß die Beklagte nicht verpflichtet sei, über die gesetzlich vorgesehene Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 80 % des Gehaltes hinaus weitere Zahlungen zu erbringen. Die Beklagte meint, daß der Wortlaut des § 5 Abs. 2 Manteltarifvertrag einschließlich der Überschrift kein Indiz für eine konstitutive Regelung sei, da die Regelung inhaltlich nicht von § 616 Abs. 2 BGB a. F. abgewichen sei und die Überschrift nur die Funktion habe, die Benutzung des Manteltarifvertrages zu erleichtern. Nach Ansicht der Beklagten spricht die Tarifgeschichte für eine deklaratorische Regelung; dazu behauptet sie, daß für den Bereich der Angestellten und Meister in der Textilindustrie zuerst gesetzliche Regelungen gegolten hätten, die in die Tarifverträge übernommen worden seien; so habe zunächst gemäß § 63 HGB und § 133 c Gewerbeordnung ein Anspruch auf Fortzahlung des Gehaltes für sechs Wochen für die Handlungsgehilfen und gewerblichen Angestellten bestanden und ab 1931 gemäß § 616 Abs. 2 BGB für alle Angestellten; erst im Jahre 1942 sei für die Angestellten und Meister der Textilindustrie der Vorläufer des § 5 Abs. 2 Manteltarifvertrag in die von einer staatlichen Behörde in Kraft gesetzte Tarifordnung aufgenommen worden, die vorgesehen habe, daß "in Fällen unverschuldeter, mit Arbeitsunfähigkeit verbundener Krankheit das Gehalt bis zur Dauer von sechs Wochen weiterzuzahlen" sei. Dabei handele es sich - so die Ansicht der Beklagten - um eine deklaratorische Regelung, da sie inhaltlich mit der gesetzlichen Regelung in Einklang gestanden habe. Die Beklagte behauptet, daß diese Regelung von den Tarifvertragsparteien in den Manteltarifvertrag vom 11.08.1955 mit der Ergänzung übernommen worden sei, daß das Gehalt "einschließlich monatlich regelmäßig gezahlter Leistungs- und Sozialzulagen" weiterzuzahlen sei; diese Ergänzung weise - so die Ansicht der Beklagten - nicht auf einen eigenständigen Regelungswillen hin, da einerseits der gesetzliche Vergütungsbegriff des § 611 BGB auch Leistungs- und Sozialzulagen enthalte und andererseits eine Abweichung von den gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Höhe der fortzuzahlenden Vergütung nicht zulässig gewesen sei. Weiter behauptet die Beklagte, daß die Tarifvertragsparteien in den Manteltarifvertrag 1973 die Regelung aus dem Manteltarifvertrag 1955 übernommen hätten; die Einfügung des zweiten Satzes ist nach Ansicht der Beklagten nicht als Hinweis auf eine eigenständige Regelung zu verstehen, da der zweite Satz schon nach seinem erkennbaren Zweck nur klarstellende Funktion habe und inhaltlich nicht von der damaligen gesetzlichen Regelung des § 616 Abs. 2 abgewichen sei.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die wechselseitigen Schriftsätze sowie auf die Parteierklärungen in der mündlichen Verhandlung vom 14.05.1997 (Bl. 46 ff. d. A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat für den Zeitraum vom 04. bis 08.11.1996, in dem er arbeitsunfähig erkrankt war, keinen Anspruch auf Zahlung des vollen Gehaltes. Er hatte gemäß § 4 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz nur einen Anspruch in Höhe von 80 % seines Gehaltes; diesen Anspruch hat die Beklagte erfüllt (§ 362 BGB).

Der Kläger kann den Anspruch auf Zahlung der Differenz zum vollen Gehalt auch nicht auf § 5 Abs. 2 Manteltarifvertrag stützen. Diese Tarifbestimmung ist entgegen der Ansicht des Klägers nicht als konstitutive (eigenständige) Regelung zu verstehen, die unabhängig vom jeweils gültigen Gesetz dem Arbeitnehmer im Krankheitsfall einen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Gehaltes für die Dauer von bis zu sechs Wochen einräumt; vielmehr handelt es sich um eine deklaratorische Regelung, die auf das jeweils geltende Gesetz, jetzt also auf die 80 %-Regelung in § 4 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz verweist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 05.10.1995, Der Betrieb 1996, 1187 ff.) ist durch Auslegung des Tarifvertrages zu ermitteln, ob die Tarifvertragsparteien eine eigenständige oder eine deklaratorische Regelung treffen wollten. Von einer eigenständigen Regelung ist nur dann auszugehen, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien, eine eigenständige Regelung treffen zu wollen, im Tarifvertrag hinreichend erkennbar Ausdruck gefunden hat; das ist der Fall, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Eine deklaratorische Regelung ist hingegen anzunehmen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden.

Nach diesen Grundsätzen, die nach Ansicht der Kammer nicht nur für die Unterscheidung deklaratorischer und konstitutiver Kündigungsfristenregelungen gelten, sondern generell bei der Auslegung von Tarifverträgen heranzuziehen sind, handelt es sich bei § 5 Abs. 2 Manteltarifvertragsgesetz um eine deklaratorische Regelung. Wenn auch die Entgeltfortzahlung für die meisten Arbeitnehmer, insbesondere die Arbeiter, zunächst tarifvertraglich durchgesetzt und erst danach im Gesetz verankert worden ist, zeigt die von der Beklagten vorgetragene und vom Kläger nicht bestrittene Geschichte des hier betroffenen Manteltarifvertrages für Angestellte und Meister der Textilindustrie, daß in diesem Bereich zunächst die Entgeltfortzahlung gesetzlich geregelt worden ist und daß die Tarifvertragsparteien die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften inhaltlich unverändert übernommen haben. Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Angestellte ist zuerst 1861 im HGB, 1891 in § 133 c Gewerbeordnung und 1931 in § 616 Abs. 2 BGB geregelt worden; diese Regelungen waren hinsichtlich der Höhe des fortzuzahlenden Entgeltes zwingend. Dementsprechend übernahm der Reichstreuhänder der Arbeit bei Erlaß der Tarifordnung für kaufmännische und technische Angestellte sowie Meister des Textil-, Bekleidungs- und Ledergewerbes im Wirtschaftsgebiet Hessen diese Regelung inhaltlich unverändert, so daß die Bestimmung des § 4 Abs. 2 der Tarifordnung 1942 als deklaratorische Regelung anzusehen ist. Diese deklaratorische Regelung übernahmen wiederum die Tarifvertragsparteien inhaltlich unverändert bei Abschluß der Manteltarifverträge von 1955, 1973 und 1996. Die Ergänzung von 1955, nach welcher das Gehalt einschließlich monatlich regelmäßig gezahlter Leistungs- und Sozialzulagen weiterzuzahlen ist, stellt keine inhaltliche Abweichung vom Gesetz dar, da die monatlich regelmäßig gezahlten Leistungs- und Sozialzulagen zur Vergütung im Sinne von §§ 611, 616 BGB gehören; auch die Ergänzung um den zweiten Satz im Manteltarifvertrag 1973 führt nicht zu einem konstitutiven Charakter der Norm, da die Ergänzung inhaltlich keine Veränderung gegenüber dem Gesetz mit sich gebracht hat und - wie sich aus dem Wortlaut ergibt - nur klarstellende Funktion hat.

Entgegen der Ansicht des Klägers kommt im Manteltarifvertrag der Wille zur eigenständigen Regelung nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck. Der vom Gesetz abweichende Wortlaut der Tarifnorm ist bei Inhaltsgleichheit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kein hinreichendes Indiz für eine konstitutive Bestimmung. Insbesondere ist aus dem Wortlaut auch, nicht zu entnehmen, daß die volle Gehaltsfortzahlung eigenständig geregelt werden sollte, da zum Zeitpunkt des Entstehens der Tarifvertragsnorm nach der gesetzlichen Vorschrift auch volles Gehalt zu zahlen gewesen ist. Auch die Überschrift kann einen konstitutiven Charakter nicht begründen; die Überschrift hat regelmäßig nur die Funktion, die Tarifverträge übersichtlicher und benutzungsfreundlicher zu gestalten; etwas anderes ist auch hier nicht erkennbar. Schließlich ist auch aus der Tatsache, daß die Tarifvertragsparteien bei der Neuschreibung des Tarifvertrages im Jahr 1996 keinen ausdrücklichen Verweis auf die gesetzlichen Vorschriften in den Tarifvertrag aufgenommen haben, nicht zu folgern, daß sie eine konstitutive Regelung gewollt haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muß der Wille zu einer eigenständigen Regelung im Tarifvertrag hinreichend Ausdruck gefunden haben; die Tarifvertragsparteien hätten also bei Neuschreibung des Tarifvertrages im Jahre 1996 hinreichend erkennbar zum Ausdruck bringen müssen, daß die tarifliche Regelung eigenständigen Charakter haben sollte. Da sie dies nicht getan haben, ist nicht von einer eigenständigen Regelung auszugehen.

Der Kläger hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.



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