Arbeitsgericht Frankfurt

Urteil vom - Az: 7 Ca 2332/09

Außerordentliche Verdachtskündigung nach 27-jähriger Betriebszugehörigkeit

Besteht der dringende Verdacht, dass eine Arbeitnehmerin (hier: Weichenwärterin) gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen hat, aufgrund dessen es zu einem Bahnunglück kam, so ist eine außerordentliche Verdachtskündigung gerechtfertigt. Auch eine Dauer von 27 Jahren der Betriebszugehörigkeit steht dem nicht entgegen.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf € 8.116,28 festgesetzt.

4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen und einer hilfsweise außerordentlichen und mit sozialer Auslauffrist ausgesprochener Tat- und Verdachtskündigung.

Die Beklagte ist ein Tochterunternehmen aus dem ...-Konzern in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft mit Sitz in Frankfurt am Main. Bei ihr besteht ein Betriebsrat, und es sind regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt.

Die Klägerin ist am ... geboren. Ihr Geburtsname ist .... Sie ist mittlerweile verheiratet. Sie war ab dem 01.09.1981 zunächst als sog. Aufsicht bei der ... in der Deutschen Demokratischen Republik aufgrund eines "Arbeitsvertrages" beschäftigt (Bl. 4-5 d. A.). Nach einem Änderungsvertrag vom 02.12.1991 (Bl. 6-7 d. A.), einer Änderungskündigung vom 27.05.1993 (Bl. 8-9 d. A.) und der Überleitung der Arbeitnehmer der ... ... zur Beklagten, wurde die Klägerin von der Beklagten ab dem 01.01.1994 als Fahrdienstleiterin in der Entgeltgruppe 7 zunächst bei der Niederlassung ... beschäftigt (siehe Bl. 10-11 d. A.). Fahrdienstleiter sind anderen Mitarbeitern an Bahnhöfen (z. B. Bahnübergangsposten/Schrankenwärter und Weichenwärter) vorgesetzt.

Mit Schreiben vom 04.09.1996 wurde der Klägerin der Arbeitsplatz "...", ...-Nr. ... bei der Niederlassung Netz ... von der Beklagten übertragen und ... als Arbeitsort bestimmt (siehe Bl. 12 d. A.).

Ab dem 25.04.2005 wurde die Klägerin dann aber aufgrund von zwei betrieblichen Fehlhandlungen vom 30.06.2004 und vom 17.04.2005 vorläufig nur noch als Weichenwärterin im Stellwerk ... eingesetzt. Diese Angelegenheit war Gegenstand des Verfahrens 7 Ca 8896/05 beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main. Entsprechend der damaligen tarifvertraglichen Regelungen wurden Fahrdienstleiter entsprechend der Entgeltgruppe E 7 und Weichenwärter lediglich entsprechend der Entgeltgruppe E 6 vergütet. In dem Berufungsverfahren beim Hess. LAG (12 Sa 1727/06) zu dem zuvor genannten erstinstanzlichen Verfahren (7 Ca 8896/05) schlossen die Parteien am 11.09.2007 den nachfolgenden Vergleich, der auszugsweise wie folgt lautet (Bl. 35-37 d. A.):

"1. Die Beklagte verpflichtet sich bis spätestens zum 30. Juni 2008 der Klägerin eine Stelle als Fahrdienstleiterin die mit der Entgeltstufe E 7 vergütet wird anzubieten, vorausgesetzt die Klägerin erfüllt die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen. (...)

2. Wenn die Beklagte der Klägerin keine Stelle als Fahrdienstleiterin gemäß Ziffer 1 des Vergleichs anbietet, wird die Klägerin unbefristet bei ihrer derzeit ausgeübten Tätigkeit als Weichenwärterin (WW) in ... verbleiben, solange die Stelle dort besteht und mit der Entgeltgruppe 7 vergütet.

(...)"

Die Klägerin wird seitdem dauerhaft als Weichenwärterin in ... eingesetzt. Das monatliche Bruttomonatsgehalt der Klägerin beträgt bei einer 39-Stunden-Woche € 2.029,07. Die Klägerin ist aufgrund der Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit nach den einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen ordentlich unkündbar.

Bei der Beklagten bestehen sicherheitsrechtliche Vorschriften für das Handeln von Betriebspersonal im Stellwerksdienst. Diese gelten auch für die Klägerin als Weichenwärterin. Die Vorschriften werden dem Betriebspersonal im Rahmen von Funktionsausbildungen und sog. ...-Unterrichte vermittelt. Der letzte ...-Unterricht, an dem die Klägerin teilnahm, fand am 15.04.2008 statt.

Nach Ziff. 4 der Richtlinie Nr. ... "Züge fahren; Hauptsignale bedienen" (Bl. 95-96 d. A.) der Bekl. darf eine Fahrstraße erst aufgelöst werden, wenn der betreffende Zug am letzten gewöhnlichen Halteplatz zum Halten gekommen ist oder an der Fahrstraßenzugschlussstelle vorbeigefahren ist.

Nach Ziff. 1 der Richtlinie Nr. ... "Züge fahren; Fahrweg prüfen" (Bl. 97-104 d. A.) der Bekl. setzt das Zulassen einer Zugfahrt die Feststellung voraus, dass "der Fahrweg frei von Fahrzeugen ist". Diese Feststellung ist, wenn keine selbständige Gleisfreimeldeanlage vorhanden ist, "durch Hinsehen" gemäß Ziff. 3 dieser Richtlinie zu treffen.

Am ... kam es um ... Uhr im Bahnhof ... auf Gleis Nr ... auf der Weiche Nr. ... zu einem Zusammenstoß von zwei Güterzügen. Zu dieser Zeit hatten der Fahrdienstleiter, die Klägerin als Weichenwärterin ... "..." und die Lokführer der beiden betroffenen Güterzüge die Verantwortung für die Sicherheit der beteiligten Güterzüge. Die Sichtverhältnisse zum Unfallzeitpunkt waren - von der Dunkelheit abgesehen - klar. Bei dem Unfall fuhr das Triebfahrzeug des Zuges ... auf den Zugschluss des auf Gleis Nr. ... stehenden Zuges ... auf. Zuvor waren von der Klägerin sowohl der Fahrweg auf Gleis Nr. ... für den Zug ... freigegeben als auch die Weiche Nr. ... umgestellt worden, obwohl zu diesem Zeitpunkt der letzte Wagon des Zuges ... noch auf der Weiche Nr. ... war und der Zug die Fahrstraßenzugschlussstelle, bei der keine Gleisfreimeldeanlage vorhanden ist, noch nicht vollständig geräumt hatte. Aus einer Auswertung des elektronischen Fahrtenregistrierung (EFR) des Zuges ... vom ... ergibt sich, dass dessen Triebfahrzeug nach der Einfahrt auf das Gleis Nr. ... bereits um ... Uhr zum Stehen gekommen war (Bl. 87-93 d. A.). Der Triebwagenführer des Zuges ... wurde bei dem Unfall zum einen leicht verletzt. Zum anderen entgleiste das Triebfahrzeug der Baureihe ... des Zuges ... mit allen vier Achsen und wurde stark beschädigt. Beim Zug ... einem Autotransportzug, entgleisten die beiden letzten Autotransportwagen komplett bzw. standen quer und wurden total zerstört. Zwei weitere Autotransportwagen wurden schwer beschädigt. Die auf den beiden letzten Güterwagen befindlichen PKW der Marke ... stürzten in den Gleisbereich und wurden stark beschädigt. Bei acht PKW entstand Totalschaden, bei weiteren 16 erheblicher Sachschaden. Ferner wurde der Oberbau der Weiche Nr. ... erheblich beschädigt. Die Schäden an den baulichen, maschinen- und elektrotechnischen Anlagen der ... sowie die weiteren Sachschäden belaufen, sich, wie dem bahninternen Untersuchungsbericht zu entnehmen ist, auf rund € 275.000,00, während der Schäden an den Schienenfahrzeugen auf € 2,6 Mio. von der Beklagten geschätzt wird (siehe Bl. 34 d. A.). Über die Höhe der Schäden an den beschädigten bzw. zerstörten Porsche ist nichts bekannt. Im Schriftsatz der Bekl. vom 29.04.2009 (Bl. 22 d. A.) wird die Gesamtschadenshöhe allerdings auf rund € 5 Mio. beziffert, ohne dass die Differenzen näher erläutert wurden.

Der Unfall wurde sodann von der Beklagten intern untersucht. Ferner erstattete die Beklagte Strafanzeige gegen die Klägerin. Das Ermittlungsverfahren u. a. wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr (§ 315 StGB) war im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung in 1. Instanz noch nicht abgeschlossen. Im bahninternen Untersuchungsverfahren hat die Klägerin keine Stellungnahme abgegeben.

Unter dem 25.02.2009 wurde von dem Untersuchungsführer, Herrn ..., einem Mitarbeiter der Bekl., der "Untersuchungsbericht des Eisenbahnunternehmers zu gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb (Eisenbahn-Untersuchungsbericht)", der an die Aufsichtsbehörde der Bekl., das Eisenbahnbundesamt (EBA), gerichtet ist, fertig gestellt. Zu den Einzelheiten des Untersuchungsberichts wird auf Bl. 25-34 d. A. Bezug genommen. Grundlage des Berichtes ist eine Vernehmung der Beteiligten und der Notfallmanager, die Auswertung der EFR, die Überprüfung der Technik und die Auswertung des Schadensbildes. Mangels einer Stellungnahme der Klägerin konnte der Untersuchungsführer nur aufgrund der objektiven Gegebenheiten und der Aussagen des Fahrdienstleiters und der Lokführer der beteiligten Züge den Unfallhergang rekonstruieren. Der Bericht enthält daher Formulierungen wie "es ist davon auszugehen" oder "vermutlich" oder ist "nicht bekannt". Dieser Bericht ging den bei der Beklagten Kündigungsberechtigten intern am 26.02.2009 zu.

Am 05.03.2009 hörte die Bekl. die Klägerin zu dem Unfall vom ... an. Die Klägerin verweigerte im Hinblick auf das laufende strafrechtliche Ermittlungsverfahren eine Stellungnahme zu den Vorwürfen der Verletzung von sicherheitsrelevanten Vorschriften.

Mit Schreiben vom 10.03.2009 teilte der Betriebsrat der Bekl. Bedenken gegen die fristlose Kündigung der Klägerin mit, da er diese für unangemessen und eine Beschäftigung der Klägerin außerhalb des Betriebsdienstes auch unter veränderten Vertragsverhältnisses für zulässig hält (Bl. 14 d. A.).

Mit Schreiben vom 11.03.2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis "außerordentlich mit sofortiger Wirkung" und hilfsweise "außerordentlich mit sozialer Auslauffrist zum 31.10.2009" wegen des Unfalls vom ... Bl. 13 d. A.). Die Kündigung ist der Klägerin noch am gleichen Tage zugegangen (siehe Bl. 49 d. A.).

Die Klägerin behauptet, dass sie keine Sicherheitsvorschriften verletzt habe. Auch ergebe sich keine entsprechende Verletzung aus dem bahninternen Untersuchungsbericht, denn dieser enthalte lediglich Annahmen, Unterstellungen und Mutmaßungen. Sie habe die Fahrstraße vor Einfahrt des ... eingesehen und, da diese frei gewesen wäre, das Signal auf Fahrt gestellt. Allerdings, so behauptet die Klägerin, sei der hier maßgebliche Streckenbereich nicht ausreichend beleuchtet gewesen, da die von der Beklagten behauptete künstliche Beleuchtung entfernt worden sei. Eine Verpflichtung, nach Freigabe der Fahrstraße nochmals nachzusehen, würde nicht bestehen. Das Umstellen einer Weiche, solange noch Güterwagen darauf stünden bzw. darüber fahren würden, sei aufgrund des Gewichts der Wagons unmöglich. Die Klägerin vermutet vielmehr, dass der Zug ... zurückgerollt sein müsse. Ferner ist die Klägerin der Ansicht, es bestünde ein Abmahnungserfordernis, so dass die fristlose Kündigung mangels vorhandener Abmahnungen, was insofern unstreitig ist, bereits aus diesem Grunde unwirksam sei. Außerdem würde als milderes Mittel eine Beschäftigung im Innendienst in Betracht kommen. Schließlich ist die Klägerin der Ansicht, dass die Bekl. die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten habe.

Die Klägerin beantragt unter Rücknahme des allg. Feststellungsantrages zuletzt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche sowie außerordentliche mit sozialer Auslauffrist ausgesprochene Kündigung der Beklagten vom 11.03.2009 aufgelöst ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, dass angesichts des Geschehensablaufs die Verantwortung für den Zugunfall am ... nur bei der Klägerin liegen könne. Diese habe fehlerhaft die Fahrstraße gelöst, obwohl diese noch nicht vollständig geräumt gewesen war. Insofern müsse die Klägerin auch ihre Verpflichtung zur optischen Prüfung, ob die Fahrstraße verletzt haben, denn anders sei es nicht zu erklären, dass sie die Fahrstraße trotz nicht vollständiger Räumung freigegeben und die Weiche Nr. ... zur Unzeit umgestellt hat. Für den maßgeblichen Streckenbereich sei eine ausreichende künstliche Beleuchtung vorhanden (siehe Bl. 34 d. A.). Der Umstellvorgang von Weichen würde nicht durch das Gewicht etwaig auf ihnen befindlicher Wagons gestört werden. Eine Störung würde sich nur dann ergeben, wenn die starren Radachsen dieser Wagons die frei beweglichen Weichenzungen behindern würden. Ist hingegen der Abstand der Zungen zu den Radachsen im Umstellvorgang weit genug, würde die Umstellkraft des Weichenantriebes ausreichen, eine signaltechnisch sichere Endlage der Weiche zu erreichen. Im Hinblick auf die Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB behauptet die Bekl., dass aufgrund des Unfallbildes und der Vielzahl der möglichen Faktoren, die zu dem Unfall hätten führen können, eine schnellere Aufklärung nicht möglich gewesen sei.

Die Klage ging beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main am 18.03.2009 ein und wurde der Beklagten am 31.03.2009 (Bl. 16 d. A.) zugestellt. Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, ihre Beweisantritte und die von ihnen eingereichten Unterlagen und damit auf die Gerichtsakte Bezug genommen (§ 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet und daher abzuweisen.

I. Die Klage ist zulässig. Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. b.) ArbGG für die Kündigungsschutzklage gegeben. Der Sitz der Beklagten (§§ 12, 17 ZPO i. V. m. § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) gehört zum örtlichen Zuständigkeitsbereich des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main. Das gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i. V. n. §§ 495 Abs. 1, 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse für die Kündigungsschutzanträge liegt vor, da es der Klägerin unabhängig von den Bestimmungen der §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG gemäß §§ 13 Abs. 3, 4, 7 KSchG obliegt, die Unwirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung binnen der Präklusionsfrist von drei Wochen ab Zugang der Kündigung gerichtlich geltend zu machen.

II. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet, da die Beklagte das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien mit der außerordentlichen Kündigung vom 11.03.2009 zu Recht gemäß § 626 BGB wegen des Verdachts der mehrfachen Verletzung von sicherheitsrelevanten Vorschriften gekündigt hat.

1. Die Kündigungserklärung der Beklagten vom 11.03.2009 wahrt zunächst das Schriftformerfordernis des § 623 BGB.

2. Die Klägerin hat auch die Drei-Wochen-Frist des §§ 4 Satz 1, 13 Abs. 3 KSchG gewahrt, da sie im Hinblick auf die streitgegenständliche Kündigung fristgerecht Kündigungsschutzklage erhoben hat, die bei Gericht am 18.03.2009 eingegangen ist und der Beklagten demnächst (§ 167 ZPO) zugestellt wurde.

3. Vorliegend ist auch ein Kündigungsgrund gegeben, denn das Tatbestandsmerkmal des wichtigen Grunds i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB ist erfüllt.

a) Für einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der regulären Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wird das Vorliegen eines wichtigen Grundes in zwei Stufen geprüft. Zunächst ist festzustellen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Dieser Sachverhalt muss im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung objektiv vorliegen. Ist hiernach ein Sachverhalt an sich geeignet, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die außerordentliche Kündigung nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände als gerechtfertigt angesehen werden kann. Dies ist nur dann der Fall, wenn die fristlose Kündigung die ultima ratio für den Kündigungsberechtigten war, d. h. mildere Mittel unzumutbar waren (siehe Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar, 8. Aufl., München, 2008, § 626 BGB, Rz. 34, 44, 62 ). Aber nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon der schwerwiegende Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer sonstigen (arbeitsvertraglichen) Verfehlung kann einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung gegenüber dem verdächtigten Arbeitnehmer darstellen. Eine solche Verdachtskündigung liegt vor, wenn und soweit der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines (nicht erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört. § 626 Abs. 1 BGB lässt eine sog. Verdachtskündigung dann zu, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat ( ständige Rechtsprechung, vgl. BAG, Urt. v. 06.11.2003 - 2 AZR 631/02, AP Nr. 39 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; BAG, Urt. v. 29.09.2002 - 2 AZR 424/01, AP Nr. 37 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; BAG, Urt. v. 06.12.2001 - 2 AZR 496/00, AP Nr. 36 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung ).

b) Gemessen an diesen Vorgaben besteht zunächst an sich ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB, denn es liegt objektiv der dringende Verdacht vor, dass die Klägerin im Zusammenhang mit dem Zugunglück im Bahnhof ... am ... mehrfach gegen sicherheitsrelevante Vorschriften verstoßen hat. Unstreitig ist am ... gegen ... Uhr das Triebfahrzeug des Zuges ... auf den Zugschluss des auf Gleis Nr. ... stehenden Zuges ... auf. Hierbei entstand erheblicher Sachschaden, der mit mindestens € 275.000,00 aufgrund der Schäden an den baulichen, maschinen- und elektrotechnischen Anlagen der Bahn zu beziffern ist, da die Klägerin dem insofern substantiierten Vorbringen der Bekl. nicht erheblich entgegen getreten ist (§ 138 Abs. 3 ZPO). Ferner wurde der Lokführer des Zuges ... bei dem Zusammenstoß der beiden Züge verletzt. Unstreitig hatten zu diesem Zeitpunkt lediglich die Klägerin als Weichenwärterin ..., der zuständige Fahrdienstleiter und die Lokführer der beiden beteiligten Züge die Verantwortung für die Sicherheit der Züge. Dem Lokführer des Zuges ... kann nach Auswertung des elektronischen Fahrtenregistrierung (...) kein Vorwurf gemacht werden, da dessen Triebfahrzeug nach der Einfahrt auf das Gleis Nr. ... bereits um ... Uhr zum Stehen gekommen war, wenngleich der letzte Wagen noch auf der Weiche Nr. ... stand. Ein Zurückrollen des Zuges, wie von der Klägerin, pauschal behauptet, ist nach den umfangreichen Auswertungen und dem diesbezüglichen Sachvortrag der Bekl. als Schutzbehauptung der Klägerin zu werten, der nicht weiter nachzugehen war. Dass der zuständige Fahrdienstleiter Fehler bzw. Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften begangen haben soll, ist weder zu erkennen noch hat die Klägerin Entsprechendes substantiiert behauptet. Gleiches gilt für den (verletzten) Lokführer des Zuges ... Somit bleibt einzig der gegenüber der Klägerin bestehende dringende Verdacht übrig, dass sie gegen Sicherheitsvorschriften verstoßen haben muss. Zwar behauptet die Klägerin, dass sie die Fahrstraße entsprechend der Richtlinie Nr. .... "Züge fahren; Fahrweg prüfen" (Bl. 97-104 d. A.) erst nach einer Sichtprüfung freigegeben habe, wobei sie gleichzeitig behauptet, dass der maßgebliche Streckenabschnitt nicht hinreichend beleuchtet gewesen sei. Dieser Sachvortrag ist zum einen in sich widersprüchlich, denn bei mangelnder Beleuchtung darf die Freigabe einer Fahrstraße nicht allein nach einem "Hinsehen" erfolgen, sondern setzt weitere Prüfungen voraus, von denen die Klägerin nicht einmal selbst behauptet, dass sie diese vorgenommen hat. Zum anderen ist dem Sachvortrag der Klägerin zwar zu Ihren Gunsten zu entnehmen, dass sie entsprechend den Vorgaben der einschlägigen Richtlinie die erforderliche Sichtprüfung vorgenommen haben will. Dann aber muss die Klägerin nicht hinreichend lange oder nicht sorgfältig genug hingesehen haben, denn unstreitig stand der letzte Wagen des Zuges ... noch auf der Weiche Nr. ... und nach den obigen Ausführungen ist ein Fehlverhalten dieses Lokführers ausgeschlossen. Daraus ergibt sich des Weiteren der dringende Verdacht, dass die Klägerin auch gegen die Richtlinie Nr. ... "Züge fahren; Hauptsignale bedienen" (Bl. 95-96 d. A.) der Bekl. verstoßen hat, denn die Fahrstraße für den Zug ... hätte von der Klägerin erst aufgelöst und die Weiche Nr. ... von der Klägerin umgestellt werden dürfen, wenn der Zug ... letzten gewöhnlichen Halteplatz zum Halten gekommen ist oder an der Fahrstraßenzugschlussstelle vorbeigefahren ist. Beide Voraussetzungen lagen nicht vor, insbesondere hatte der betroffene Zug die Fahrstraßenzugschlussstelle auf Gleis Nr. ... noch nicht vollständig geräumt. Hätte die Klägerin die genannten Richtlinien beachtet, wäre der Zug ... nicht auf Gleis Nr. ... eingefahren und hätte auf der Weiche Nr. ... auch nicht gegen den Zugschluss des Zuges ... stoßen können. Somit ergibt sich zusammenfassend, dass ein dringender und auf objektiven Umständen beruhender Verdacht besteht, dass die Klägerin gegen sicherheitsrelevante Vorschriften, insbesondere die Richtlinien Nr. ... und Nr. ..., verstoßen hat.

c) Auch bei einer Interessenabwägung stellt sich der Verdacht gegenüber der Klägerin als dringend und damit als wichtiger Grund für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Für die Klägerin sprechen lediglich ihre lange Betriebszugehörigkeit von rund 27 Jahren sowie ihr Lebensalter von knapp 60 Jahren und die damit verbundenen eingeschränkten Möglichkeiten der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt. Gegen die Klägerin spricht hingegen zunächst, dass sie an der Aufklärung des Sachverhalts nicht mitgewirkt hat und versucht hat, die Verantwortung auf die anderen am ... Dienst habenden Personen abzuwälzen. Ferner sind bei dem genannten Zugunglück grundlegende Sicherheitsvorschriften bei einem an sich harmlosen und einfachen Ereignis verletzt worden, wo der Klägerin, die bereits seit Jahren als Weichenwärterin eingesetzt wird, einleuchten muss, dass deren Verletzung von der Bekl. toleriert werden kann, so dass auch keine vorherige (einschlägige) Abmahnung erforderlich gewesen ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es bei dem Zugunglück nicht nur zu erheblichen Sachschaden gekommen ist, sondern dass auch der Lokführer des Zuges ... verletzt wurde, ohne dass die Klägerin insofern auch nur ein Wort des Bedauerns verloren hätte. Nach Abwägung der gegenseitigen Interessen hält die Kammer die außerordentliche Kündigung für das probate Mittel, da es der Beklagten nicht zuzumuten ist, die Klägerin aufgrund der Festlegung auf die Tätigkeit als Weichenwärterin in dem gerichtlichen Vergleich vom 11.09.2007 weiterhin im Fahrdienst einzusetzen. Eine Vertragsänderung bzgl. einer möglichen Innendiensttätigkeit und der damit von der Klägerin angesprochene Vorrang einer Änderungskündigung vor einer Beendigungskündigung (ultima-ratio-Grundsatz) scheiden aus, da die Klägerin nicht ansatzweise dargelegt hat, für welche Innendiensttätigkeit sie hinreichend qualifiziert sein soll und wie diese Tätigkeit vergütet werden sollte.

c) Die Beklagte hat ferner die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erforderliche Anhörung der Klägerin am 05.03.2009 durchgeführt. Dass die Klägerin in dieser Anhörung wegen des laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keine Aussage gemacht hat, ist unschädlich, da es nach Sinn und Zweck des Anhörungserfordernisses nur darauf ankommt, dass dem betroffenen Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die Möglichkeit gegeben wird, entlastende Umstände vorzutragen. Wenn die Klägerin diese Möglichkeit nicht wahrnimmt, ist dies jedenfalls nicht der Beklagten anzulasten.

4. Vorliegend ist auch die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten. Das streitgegenständliche Zugunglück erfolgte zwar am ... Der Beginn der Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist aber gehemmt, soweit und solange der Kündigungsberechtigte die zur Aufklärung des Kündigungssachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen mit der gebotenen Eile durchführt (siehe BAG, Urt. v. 10.06.1988 - 2 AZR 25/88, AP Nr. 27 zu § 626 BGB Ausschlussfrist ). Soweit im Übrigen der betroffene Arbeitnehmer im Rahmen einer beabsichtigten Verdachtskündigung gehört werden soll, wie vorliegend, ist die Anhörung idR binnen einer Woche nach Aufklärung des Sachverhaltes durchzuführen (siehe KR/Fischermeier, 8. Aufl., Neuwied, 2007, § 626 BGB, Rz. 331 ). Ausnahmen hiervon sind nur unter besonderen Umständen anzuerkennen. Es ist angesichts des Geschehensablaufs nicht zu erkennen, dass die Bekl. die notwendigen Sachverhaltsermittlungen nicht mit der gebotenen Eile durchgeführt hat. Zwar sind bis zur Fertigstellung des von dem Untersuchungsführer, Herrn ..., erstellten "Untersuchungsberichts des ... zu gefährlichen Ereignissen im Eisenbahnbetrieb (Eisenbahn-Untersuchungsbericht)", der an das Eisenbahnbundesamt (EBA) als Aufsichtsbehörde der Bekl. gerichtet ist, am 25.02.2009 genau 16 Wochen und damit etwas weniger als 4 Monate vergangen. Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass in diesen Zeitraum das Weihnachtsfest, der Jahreswechsel und die Winterferien fallen Zum anderen ist die Dauer von 16 Wochen angesichts der umfangreichen tatsächlichen Ausführungen in dem Untersuchungsbericht, der Schadensermittlung, der Rekonstruktion des Unfallherganges einschließlich der Vernehmung der zuständigen Mitarbeiter nach Auffassung der Kammer nicht zu beanstanden. Auch haben die Bekl. die Wochenfrist zwischen dem Ende der Sachverhaltsaufklärung und der Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers gewahrt, denn der Untersuchungsbericht ging den Kündigungsberechtigten der Bekl. am 26.02.2009 zu und die Anhörung der Klägerin fand am 05.03.2009 statt. Insofern hat die Beklagte die Ermittlung mit der gebotenen eile durchgeführt, so dass der Beginn für die Frist des § 626 Abs. 2 BGB auf den 05.02.2009 fällt, so dass die Kündigung vom 11.03.2009 fristgerecht gegenüber der Klägerin erklärt wurde.

5. Schließlich wurde der zuständige Betriebsrat der Bekl. vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß iSv § 102 BetrVG beteiligt.

III. Soweit sich die Kündigungsschutzklage auch gegen die fristlose Tatkündigung sowie gegen die hilfsweise fristlose (Tat- und Verdachts-)Kündigung mit sozialer Auslauffrist vom 11.03.2009 richtet, ist hierüber nicht mehr zu entscheiden, da die Beklagte aufgrund der vorherigen Ausführungen das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien bereits mit der außerordentlichen Verdachtskündigung vom 11.03.2009 beendet hat.

IV. Die Kosten des Rechtsstreites trägt die Klägerin, da sie unterlegen ist, § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO.

V. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes im Urteil beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG. Der Wert des Streitgegenstandes wurde vorliegend auf € 8.116,28 (= 4 x Bruttomonatsgehalt i. H. v. € 2.029,07) festgesetzt, wobei für den Kündigungsschutzantrag, obwohl dieser auch eine hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist enthält, an sich lediglich drei Bruttomonatsgehälter und damit lediglich ein Betrag von € 6.087,21 festzusetzen gewesen wäre.

VI. Gründe, die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG gesondert zuzulassen, liegen nicht vor, insbesondere kommt der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung gemäß §§ 64 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 2 lit. a.) ArbGG zu. Die ohnehin gegebene Zulässigkeit der Berufung gemäß § 64 Abs. 2 lit. c.) ArbGG bleibt hiervon unberührt. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist gemäß § 64 Abs. 3 a Satz 1 ArbGG in den Urteilstenor aufzunehmen.

VII. Eine Rechtsmittelbelehrung findet sich auf der nächsten Seite.



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