Arbeitsgericht Darmstadt

Urteil vom - Az: 7 Ca 258/05

Betriebsbedingte Kündigung; Sozialauswahl entgegen Punkteschema

Hält sich der Arbeitgeber bei betriebsbedingten Kündigungen im Einzelfall nicht an ein vorher mit dem Betriebsrat vereinbartes Punkteschema, so hat er offensichtlich weitere Überlegungen angestellt, die er trotz des Auskunftsverlangen der betroffenen Arbeitnehmerin nicht benennt. Damit ist er dem Auskunftsverlangen der betroffenen Arbeitnehmerin nicht nachgekommen, sodass die Kündigung ohne weiteres als sozialwidrig anzusehen ist, wenn sich die Arbeitnehmerin darauf berufen hat, es seien sozial stärkere Arbeitnehmer als sie vorhanden.

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 1. Juni 2005 nicht aufgelöst wurde.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zur rechtskräftigen Erledigung des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiterin weiter zu beschäftigen.

3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 1/5 und die Beklagte 4/5 zu tragen.

4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.092,20 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Die am 6. Mai 1963 geborene, verwitwete und für 2 Kinder unterhaltspflichtige Klägerin trat am 1. Juni 1996 als Montiererin in die Dienst der Beklagten, die mehr als 400 Arbeitnehmer beschäftigt. Bei einer Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche bezog sie zuletzt ein Bruttogehalt von durchschnittlich 2.023,05 EUR monatlich. Am 9. Mai 2005 schloß die Beklagte mit dem bei ihr eingerichteten Betriebsrat einen Interessenausgleich nebst Sozialplan, wegen dessen vollständigen Wortlauts auf Bl. 26 bis 32 d. A. verwiesen wird. Im Interessenausgleich heißt es u. a.

Die Produktion vom Wägezellen und Dehnungsmessstreifen wird in die Volksrepublik China verlagert (...). Die Verlagerung wird daher voraussichtlich am 31.12.2005 abgeschlossen sein.

Unter Nr. 3 des Interessenausgleichs heißt es:

" Durchführung

3.1. Von der Verlagerung nach Ziffer 2. dieses Interessenausgleichs sind insgesamt 84 Arbeitsplätze betroffen. Die betrieblich organisatorische Begründung für den Personalabbau in dieser Höhe ergibt sich aus Anlage 1 zu diesem Interessenausgleich.

3.2 59 von diesen 84 Arbeitsplätzen sind bereits durch Nichtverlängerung von befristeten Verträgen, Nichtersetzung in den Ruhestand gegangenen Arbeitnehmern etc. abgebaut worden. In Anlage 2 zu diesem Interessenausgleich finden sich hierzu detaillierte Informationen.

3.3 Der darüber hinaus erforderliche Personalabbau in Höhe von weiteren 25 Arbeitsplätzen soll im Rahmen des unter Ziffer 2 dieses Interessenausgleichs dargestellten Zeitplans durch Aufhebungsverträge bzw. betriebsbedingte Kündigungen umgesetzt werden. (...).

3.5 Die in Folge der Verlagerung zu kündigenden Arbeitnehmer ergeben sich aus der in Anlage 3 (Bestandteil dieses Interessenausgleichs) zu diesem Interessenausgleich im Sinne des § 1 V KSchG enthaltenen Namensliste."

In dieser Namensliste (Bl. 28 d. A.) ist die Klägerin unter der laufenden Nr. 5 namentlich genannt.

Mit Schreiben vom 1. Juni 2005 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis aus betriebsbedingten Gründen zum 31. Dezember 2005 (Bl. 4. d. A.).

Die Klägerin ist der Auffassung, dass diese Kündigung sozial ungerechtfertigt und daher unwirksam sei. Sie behauptet, eine Sozialauswahl sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Insbesondere sei das von der Beklagten angewendete Punkteschema unausgewogen und diskriminierend. Es seien Arbeitnehmer, die mit der Klägerin vergleichbar seien, nicht gekündigt worden, obwohl sie sozial weniger schutzwürdig seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Klägerin wird auf Bl. 1 bis 4 und 69 bis 72 d. A. verwiesen.

Die Klägerin beantragt zuletzt festzustellen,

1. dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 1. Juni 2005 nicht aufgelöst wurde;

2. die Beklagte zu verurteilen, sie bis zur rechtskräftigen Erledigung des Kündigungsschutzverfahrens als Arbeiterin weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die Kündigung wirksam sei. Sie habe die unternehmerische Entscheidung getroffen, zusätzlich zu den bereits nach China verlagerten Bereichen auch die Linie C 16 sowie weitere Teile der Linien PW/Z6 sowie die Herstellung der Dehnungsmessstreifen nach China zu verlagern. Diese Entscheidung sei wirtschaftlich begründet, da es sich um Massenprodukte handele, die auf dem chinesischen Markt zu einem Bruchteil der Kosten hergestellt werden könnten. Der Betriebsrat sei bereits in diese grundsätzliche Entscheidung eingebunden gewesen und am 16. März 2005 sei ihm eine Liste sämtlicher Produktionsmitarbeiter übergeben worden. Sodann habe man am 17. März 2005 mit dem Betriebsrat die Auswahlkriterien für eine Vorauswahl besprochen und eine Punkteverteilung festgelegt, die auf Bl. 19 d. A. beschrieben ist. Arbeitnehmern, die bis zum 3. Mai 2005 einen Aufhebungsvertrag abschlossen, sei eine sogenannte Sprinterprämie von 5.000,00 EUR zusätzlich zu der Sozialplanabfindung angeboten worden. Darüber hinaus sei aufgrund der festgelegten Punktetabelle die soziale Auswahl getroffen worden. Aufgrund der Vorauswahl sowie einer anschliessenden Einzelfallentscheidung sei zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat eine Namensliste festgelegt worden, die dann Bestandteil des Interessenausgleichs geworden sei. Von den gegenüber der Klägerin weniger schutzwürdigen Mitarbeitern seien 5 Mitarbeiterinnen wegen Sonderkündigungsschutzes in der Elternzeit ausgenommen worden, sowie weitere 14 Arbeitnehmer, die entweder wegen ihrer Ausbildung oder wegen ihrer besonderen Eigenschaft als Leistungsträger nicht mit der Klägerin vergleichbar seien.

Vor Ausspruch der Kündigung sei der Betriebsrat nochmals am 18. Mai 2005 schriftlich angehört worden und habe am 25. Mai 2005 mitgeteilt, dass er keinen Widerspruch gegen die Kündigung einlege.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beklagten wird auf Bl. 16 bis 68 und den Schriftsatz vom 1. November 2005 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

1. Die Kündigung vom 1. Juni 2005 führt nicht zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, weil sie sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam ist, § 1 Abs. 1 KSchG.

Es kann offen bleiben, ob die Namensliste und der Interessenausgleich eine einheitliche Urkunde bilden. Zwar kann dies gemäß § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG zur Vermutung führen, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des Absatzes 2 bedingt ist. Es ist jedoch festzustellen, dass die soziale Auswahl der Arbeitnehmer im Sinne von § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG grob fehlerhaft ist.

Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist eine Kündigung, die aus dringenden betrieblichen Erfordernissen ausgesprochen wurde, trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. Die Klägerin hat bereits in der Klageschrift diesen Auskunftsanspruch geltend gemacht und behauptet, dass die Sozialauswahl nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Auch wenn ein Arbeitnehmer in eine Namensliste gemäß § 1 Abs. 5 KSchG aufgenommen worden ist, kann er im Kündigungsschutzprozess gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KSchG verlangen, dass der Arbeitgeber die Gründe angibt, die zu der getroffenen Sozialauswahl geführt haben (vgl. BAG vom 10. Februar 1999 - 2 AZR 716/98 = EZA § 1 KSchG Sozialauswahl Nr. 38, zur Rechtslage im Jahre 1997). Auch im Kündigungsschutzprozess hat der Arbeitgeber als Folge seiner materiellen Auskunftspflicht substantiiert vorzutragen. Diese aus der materiellen Mitteilungspflicht herzuleitende Vortragslast ist allerdings auf die subjektiven, vom Arbeitgeber tatsächlich angestellten Überlegungen beschränkt (BAG vom 15. Juni 1989 - 2 AZR 580/88 = EZA § 1 KSchG soziale Auswahl Nr. 28). Kommt der Arbeitgeber der ihm im Rahmen seiner Auskunftspflicht obliegenden Darlegungslast nicht oder nicht vollständig nach, so führt dies beim Arbeitnehmer zu einer beschränkten Befreiung von der ihm nach § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG obliegenden Darlegungs- und Beweislast. Es bedarf daher insoweit keiner weiteren Darlegungen seitens der Arbeitnehmers, da er die Rüge der fehlerhaften Sozialauswahl gerade und nur deswegen nicht weiter konkretisieren kann, weil der Arbeitgeber seiner Auskunftspflicht hinsichtlich der von ihm angestellten Auswahlüberlegungen nicht nachgekommen ist (BAG vom 21. Dezember 1983 - 7 AZR 421/82 = EZA § 1 KSchG betriebsbedingte Kündigung Nr. 29). Dann genügt der Arbeitnehmer seiner Darlegungslast alleine dadurch, dass er pauschal die soziale Auswahl beanstandet.

Die Beklagte hat ihre Auskunft über die getroffene Sozialauswahl dahingehend erteilt, dass sie eine Vorauswahl mittels des von ihr genannten Punkteschemas und sodann eine abschließende Einzelfallentscheidung mit dem Betriebsrat vorgenommen habe. Aus dem Vergleich der von ihr vorgelegten Listen (einerseits Bl. 33 bis 37 und andererseits Bl. 28) ergibt sich, dass die Beklagte damit ihrer Vortragslast nicht ansatzweise nachgekommen ist, weil sie bei der abschliessenden Auswahl eindeutig andere Kriterien als eine Auswahl nach dem von ihr vorgelegten Punkteschema angewendet hat. Dabei kann es offen bleiben, ob die 14 Arbeitnehmer, welche nach Anwendung des Punkteschemas sozial weniger schutzwürdig als die Klägerin erschienen und nicht gekündigt wurden, zurecht mangels Vergleichbarkeit oder wegen berechtigter betrieblicher Interessen von der Kündigung ausgenommen wurden. Denn die abschließende Namensliste zeigt, dass die Beklagte sich nur bei einigen Arbeitnehmern - dazu dürfte die Klägerin gehören - an das ermittelte Punkteergebnis gehalten hat. In vielen anderen Fällen hat sie für die weniger schutzwürdigen und nicht gekündigten Arbeitnehmer entgegen der Logik ihres Punkteschemas nicht diejenigen Arbeitnehmer nachrücken lassen, die am wenigsten sozial schutzwürdig sind, sondern zum Teil auf Arbeitnehmer zurück gegriffen, die in höchstem Maße sozial schutzwürdig sind. Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, wenn bei einem Kündigungsbedürfnis für 25 Arbeitnehmer solche gekündigt werden, die nach dem Ergebnis des Punkteschemas beispielsweise auf Platz 108 ( Palazzolo ), Platz 103 (Posa) und 75 (Haque) stehen. Bei diesen Arbeitnehmerinnen kann auch nicht, wie in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts behauptet, der Fall vorliegen, dass sie unter Inanspruchnahme der Springerprämie bis zum 3. Mai 2005 vorab Aufhebungsverträge abgeschlossen haben, weil gerichtsbekannt ist, dass sie gegen die am 1. Juni 2005 ausgesprochenen Kündigungen Prozesse geführt haben.

Da sich die Beklagte an das von ihr behauptete Punkteschema evident nicht gehalten hat, kann der von ihr genannten Einzelfallentscheidung keine marginale Bedeutung zugekommen sein. Vielmehr hat sie offensichtlich weitere Überlegungen angestellt, die sie trotz des Auskunftsverlangen der Klägerin nicht benennt. Damit ist sie dem Auskunftsverlangen nicht nachgekommen, so dass die Kündigung ohne weiteres als sozialwidrig anzusehen ist, da sich die Klägerin darauf berufen hat, es seien sozial stärkere Arbeitnehmer als sie vorhanden, § 138 Abs. 2 ZPO. Dementsprechend ist auch zu Gunsten der Klägerin davon auszugehen, dass die Sozialauswahl grob fehlerhaft ist, weil sie evident unzulänglich ist und jede Ausgewogenheit vermissen lässt (vgl. KR § 1 KSchG Rn 514). Es kann ausdrücklich offen bleiben, ob dies auch bei konsequenter Anwendung des Punkteschemas der Fall gewesen wäre.

Auch die Hilfsüberlegung, dass die Klägerin bei konsequenter Anwendung des Punkteschemas auf jeden Fall unter den 25 zu kündigenden Arbeitnehmer sein müsste, kann nicht zugunsten der Beklagten gehen. Denn das Gericht kann nicht seine eigene Auswahlentscheidung an die Stelle der Überlegungen des Arbeitgebers setzen. Wenn der Arbeitgeber sich auf die Auswahl nach einem Punkteschema beruft, ist es seine Sache, dessen konsequente Anwendung - und ggfs. Korrekturen im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung - substantiiert vorzutragen. Ist, wie hier, dies nicht der Fall und spricht das Ergebnis dafür, dass bestenfalls teilweise eine Anwendung des Punkteschemas erfolgte, fehlt es insgesamt an der Ausgewogenheit bei der Beurteilung der gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu gewichtenden Kriterien.

2. Die Klägerin hat einen Weiterbeschäftigungsanspruch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses, weil die Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Dem Anspruch des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis auf tatsächliche Beschäftigung steht kein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers entgegen, wenn zuvor oder gleichzeitig ein erstinstanzliches Urteil ergeht, welches die Unwirksamkeit der Kündigung feststellt (BAG GS 27. Februar 1985 - GS 1/84 = BAGE 48, 122 bis 129).

3. Die Kostenquote ergibt sich gem. §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91, 269 ZPO daraus, dass die Klägerin zwar mit der Kündigungsschutzklage und der Weiterbeschäftigungsklage obsiegt, aber die Klage hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrages zurück genommen hat.

Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß §§ 42 Abs. 4 Satz 1 GKG und 3 ZPO für die Kündigungsschutzklage auf den Quartalsverdienst der Klägerin und für den Weiterbeschäftigungsantrag auf ein weiteres Bruttomonatsgehalt festzusetzen.



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