Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-909/19

Vom Arbeitgeber vorgeschriebene Fortbildungen sind Arbeitszeit

Im vorliegenden Ausgangsrechtsstreit ist der Kläger bei der Gemeindeverwaltung einer rumänischen Stadt als „Leiter der Abteilung Prävention (Feuerwehr)" in Vollzeit beschäftigt gewesen. Der Kläger wurde von seinem Arbeitgeber zur Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung mit einer Dauer von 160 Stunden verpflichtet. Die Fortbildung fand bei einem von seinem Arbeitgeber ausgewählten externen Dienstleister statt. Dabei erfolgte die Fortbildung während der üblichen Arbeitszeit als auch darüber hinaus. Von den absolvierten Fortbildungskosten lagen 124 Stunden außerhalb seiner normalen Arbeitszeit und wurden dem Kläger nicht vergütet. Der Arbeitgeber verwies auf vertragliche Abreden und landesrechtliche Regelungen, wonach Fortbildungszeiten nicht als Arbeitszeiten berücksichtigt und somit nicht vergütet werden. Dies veranlasste den Kläger dazu, beim zuständigen Gericht Klage auf Vergütung dieser Stunden als Überstunden zu erheben.
Während die erste Instanz die Klage abwies, hatte das Berufungsgericht Zweifel und legte die Entscheidung dem EuGH vor. Die Zeit, in der ein Arbeitnehmer eine ihm von seinem Arbeitgeber vorgeschriebene berufliche Fortbildung absolviert, sei „Arbeitszeit“ im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie – auch wenn der Arbeitnehmer sich dabei außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsorts befindet und auch nicht seinen gewöhnlichen Aufgaben nachgeht. Insofern unterliege der Arbeitnehmer den Weisungen des Arbeitgebers, sodass die aufgebrachte Zeit als Arbeitszeit zu werten und dementsprechend zu vergüten sei.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Urteil

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nrn. 1 und 2 sowie der Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BX und der Unitatea Administrativ Teritorială D. (Gebietskörperschaft D., Rumänien) (im Folgenden: Verwaltung der Gemeinde D.) über das Arbeitsentgelt von BX für Zeiten der beruflichen Fortbildung, die er im Rahmen seines Arbeitsvertrags absolviert hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.“

Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

1.      Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

2.      Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit;

…“

Art. 13 der Richtlinie (EU) 2019/1152 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union (ABl. 2019, L 186, S. 105) sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass den Arbeitnehmern Fortbildung kostenlos angeboten wird, als Arbeitszeit angerechnet wird und möglichst während der Arbeitszeiten stattfindet, wenn der Arbeitgeber aufgrund von Rechtsvorschriften der Union oder nationalen Rechtsvorschriften oder Kollektiv- bzw. Tarifverträgen verpflichtet ist, den Arbeitnehmern Fortbildung im Hinblick auf die Arbeit anzubieten, die sie ausüben.“

Rumänisches Recht

Art. 111 des Codul muncii (Arbeitsgesetzbuch) bestimmt:

„Arbeitszeit ist jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den Bestimmungen seines Arbeitsvertrags, des anwendbaren Tarifvertrags und/oder der geltenden Rechtsvorschriften arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.“

Nach Art. 112 Abs. 1 des Arbeitsgesetzbuchs beträgt die Regelarbeitszeit für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer 40 Stunden pro Woche und acht Stunden pro Tag.

Art. 120 des Arbeitsgesetzbuchs, der die Legaldefinition und die Bedingungen der Mehrarbeit betrifft, sieht vor:

„(1)      Die Arbeit, die außerhalb der in Art. 112 vorgesehenen wöchentlichen Regelarbeitszeit geleistet wird, gilt als Mehrarbeit.

(2)      Mehrarbeit darf nicht ohne Zustimmung des Arbeitnehmers geleistet werden, außer in Fällen höherer Gewalt oder bei dringenden Aufgaben zur Verhütung von Unfällen oder zur Beseitigung der Folgen eines Unfalls.“

Art. 196 des Arbeitsgesetzbuchs, der die berufliche Fortbildung regelt, bestimmt:

„(1)      Die Teilnahme an der beruflichen Fortbildung kann auf Veranlassung des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers erfolgen.

(2)      Die konkreten Modalitäten der beruflichen Fortbildung, die Rechte und Pflichten der Parteien, die Dauer der beruflichen Fortbildung sowie alle sonstigen damit zusammenhängenden Fragen einschließlich der vertraglichen Verpflichtungen des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, der die Kosten der beruflichen Fortbildung getragen hat, werden von den Parteien im gegenseitigen Einvernehmen festgelegt und sind Gegenstand von Zusatzvereinbarungen zu den Arbeitsverträgen.“

Art. 197 des Arbeitsgesetzbuchs, der die Kosten der beruflichen Fortbildung und die Rechte des Arbeitnehmers betrifft, lautet:

„(1)      Erfolgt die Teilnahme an den Kursen oder Praktika der beruflichen Fortbildung auf Veranlassung des Arbeitgebers, so trägt er alle durch die Teilnahme entstehenden Kosten.

(2)      Während der Teilnahme an den Kursen oder Praktika der beruflichen Fortbildung gemäß Abs. 1 hat der Arbeitnehmer für die gesamte Dauer der beruflichen Fortbildung Anspruch auf das volle Arbeitsentgelt.

(3)      Der Zeitraum der Teilnahme an den Kursen oder Praktika der beruflichen Fortbildung gemäß Abs. 1 wird dem Arbeitnehmer auf sein Dienstalter für seine Stelle angerechnet und gilt als Beitragszeit zum staatlichen System der sozialen Sicherheit.“

Gemäß Art. 2 Abs. 1 des Ordin nr. 96 pentru aprobarea Criteriilor de performanță privind constituirea, încadrarea și dotarea serviciilor voluntare și a serviciilor private pentru situații de urgență (Erlass Nr. 96 zur Genehmigung der Leistungskriterien in Bezug auf die Errichtung, Einstufung und Ausstattung der freiwilligen Dienste und der privaten Dienste für Notfälle) vom 14. Juni 2016 (Monitorul Oficial al României Nr. 469 vom 23. Juni 2016) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Erlass Nr. 96/2016) müssen die örtlichen Verwaltungsbehörden, die Leiter von Wirtschaftsteilnehmern/Einrichtungen, die verpflichtet sind, je nach Fall freiwillige Dienste oder private Dienste für Notfälle einzurichten, sowie die Leiter privater Dienste für Notfälle, die als dienstleistende Gesellschaften errichtet worden sind, die Anwendung dieses Erlasses gewährleisten.

Art. 9 Abs. 1 Buchst. j der mit dem Erlass Nr. 96/2016 genehmigten Leistungskriterien für die Errichtung, Einstufung und Ausstattung der freiwilligen Dienste und der privaten Dienste für Notfälle (im Folgenden: Leistungskriterien) sieht vor:

„Für die Abgabe einer förmlichen Stellungnahme zur Errichtung des freiwilligen Dienstes oder des privaten Dienstes sind, je nach Fall, folgende Unterlagen vorzulegen:

j)      Bescheinigungen über die besondere berufliche Qualifikation oder die besonderen beruflichen Fähigkeiten;

…“

Gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Leistungskriterien zählt die Stelle des Dienstleiters zu den besonderen Stellen der freiwilligen Dienste und der privaten Dienste.

Art. 17 der Leistungskriterien lautet:

„Das Personal, das für besondere Stellen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 eingestellt wird, und das Personal, das die Stelle des Dienstleiters und des Fachteamleiters auf sich vereint, muss die nach den geltenden Rechtsvorschriften bescheinigte/n spezifische/n berufliche/n Qualifikation und Fähigkeiten besitzen.“

Aus Art. 28 Buchst. a der Leistungskriterien geht hervor, dass der Leiter des freiwilligen Dienstes über die förmliche Stellungnahme des Inspectoratul (Inspektion) des zuständigen Kreises gemäß dem in Anhang 4 des Erlasses Nr. 96/2016 vorgesehenen Muster verfügen muss.

Art. 50 Abs. 1 der Ordonanța Guvernului României nr. 129/2000 privind formarea profesională a adulților (Verordnung Nr. 129/2000 der Regierung Rumäniens über die berufliche Bildung von Erwachsenen) vom 31. August 2000 in neu bekannt gemachter Fassung (Monitorul Oficial al României Nr. 110 vom 13. Februar 2014) bestimmt:

„Der Arbeitnehmer erhält während des Zeitraums, in dem er an einer vom Arbeitgeber finanzierten beruflichen Fortbildung teilnimmt, das gemäß dem Arbeitsvertrag für sein normales Arbeitspensum festgelegte Arbeitsentgelt.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

BX ist bei der Verwaltung der Gemeinde D. beim Freiwilligen Dienst für Notfälle angestellt. Die in seinem Arbeitsvertrag genannte Stelle ist die des „Leiters der Abteilung Prävention (Feuerwehr) 541101 entsprechend der Klassifizierung der Berufe in Rumänien“. BX übt seine Arbeit in Vollzeit mit acht Stunden pro Tag und 40 Stunden pro Woche aus.

Um die in Art. 28 Buchst. a der Leistungskriterien genannte förmliche Stellungnahme zu erhalten, die notwendige Voraussetzung für die Organisation und Ausübung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Dienstleistung ist, wurde BX von seinem Arbeitgeber angewiesen, 160 Stunden beruflicher Fortbildung zu absolvieren. Diese Fortbildung wurde in den Monaten März und April 2017 aufgrund eines von der Verwaltung der Gemeinde D. mit einem Unternehmen für berufliche Fortbildung geschlossenen Vertrags absolviert, in dem BX als Endbegünstigter genannt ist. Die Fortbildung fand montags bis freitags von 15 Uhr bis 20 Uhr, samstags von 13 Uhr bis 18 Uhr und sonntags von 13 Uhr bis 19 Uhr in den Räumlichkeiten dieses Unternehmens statt. Von den von BX absolvierten Fortbildungsstunden lagen letztlich 124 außerhalb seiner normalen Arbeitszeit.

BX erhob beim Tribunalul Vaslui (Landgericht Vaslui, Rumänien) gegen die Verwaltung der Gemeinde D. Klage u. a. auf Verurteilung dieser Verwaltung zur Bezahlung der genannten 124 Stunden als Überstunden.

Nachdem seine Klage abgewiesen worden war, hat BX bei der Curtea de Apel Iaşi (Berufungsgericht Iaşi, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, Berufung eingelegt.

Dieses Gericht weist zunächst darauf hin, dass das Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers zwar eine Frage des nationalen Rechts sei, die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits aber gleichwohl von der Vorfrage abhänge, ob die Zeit, die der Kläger des Ausgangsverfahrens für die auf Verlangen des Arbeitgebers geleistete berufliche Fortbildung am Sitz des Erbringers der Berufsdienstleistungen und außerhalb der normalen Arbeitszeit aufgewandt habe, als Arbeitszeit oder als Ruhezeit im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2003/88 einzustufen sei.

Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass aus den rumänischen Rechtsvorschriften in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte hervorgehe, dass die für die berufliche Fortbildung aufgewandte Zeit bei der Berechnung der Arbeitszeit des Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werde, so dass dieser unabhängig von der Dauer und dem Zeitraum der beruflichen Fortbildung nur Anspruch auf das Arbeitsentgelt habe, das der normalen Arbeitszeit entspreche.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfolge die Einstufung einer Zeit der Anwesenheit des Arbeitnehmers als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 nach Maßgabe seiner Verpflichtung, sich für seinen Arbeitgeber zur Verfügung zu halten. Entscheidend sei insoweit, dass sich der Arbeitnehmer an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen müsse, um erforderlichenfalls sofort die entsprechenden Leistungen erbringen zu können.

Da sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass die Möglichkeit der Arbeitnehmer, ohne größere Zwänge über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, ein Aspekt sei, der darauf hindeute, dass der betrachtete Zeitraum keine Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 2003/88 sei, sei festzustellen, dass die auf Verlangen des Arbeitgebers für die berufliche Fortbildung aufgewandte Zeit Arbeitszeit sei.

Diese Schlussfolgerung ergebe sich allerdings nicht eindeutig aus der Rechtsprechung, die insbesondere auf das Urteil vom 9. Juli 2015, Kommission/Irland (C‑87/14, EU:C:2015:449), zurückgehe, in dem der Gerichtshof festgestellt habe, dass die Ausbildungszeit für noch nicht voll ausgebildete Krankenhausärzte, um die es in der Rechtssache gegangen sei, in der dieses Urteil ergangen sei, nicht die Voraussetzungen erfülle, um als Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 eingestuft zu werden.

Im vorliegenden Fall besteht jedoch nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kein Zweifel, dass die Teilnahme an der beruflichen Fortbildung, die der Kläger des Ausgangsverfahrens auf Veranlassung des Arbeitgebers außerhalb der Arbeitszeiten in einer anderen Gemeinde als der Wohnsitzgemeinde absolviert, um eine für die Organisation und die Ausübung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Dienstleistung erforderliche förmliche Stellungnahme zu erhalten, einen Eingriff in die volle und freie Ausübung des Rechts auf Ruhezeiten darstellt, da der Betroffene den Zwängen unterliegt, die sich aus räumlicher und zeitlicher Sicht aus der Notwendigkeit ergeben, an der beruflichen Fortbildung teilzunehmen. Daher könne bei der für die berufliche Fortbildung aufgewandten Zeit nicht davon ausgegangen werden, dass sie die Anforderungen der Definition der „Ruhezeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2003/88 in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs erfülle.

Das vorlegende Gericht verweist schließlich auf Art. 13 der Richtlinie 2019/1152, aus dem hervorgehe, dass der Unionsgesetzgeber die Zeit, die ein Arbeitnehmer für eine Fortbildung im Hinblick auf die Arbeit aufwende, die er ausübe, als Arbeitszeit qualifiziere. Der Ausgangsrechtsstreit falle jedoch nicht in den zeitlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie.

Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass, sollte die von einem Arbeitnehmer für eine Fortbildung aufgewandte Zeit nicht unter den Begriff der Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 fallen, daraus zu schließen sei, dass Art. 2 Nr. 2 sowie die Art. 3, 5 und 6 dieser Richtlinie, die die tägliche Ruhezeit, die wöchentliche Ruhezeit und die wöchentliche Höchstarbeitszeit beträfen, sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta, wonach jeder Arbeitnehmer u. a. das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten habe, jeder Beeinträchtigung der freien Inanspruchnahme der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten des Arbeitnehmers entgegenstünden, und zwar auch durch nachgeordnete, Hilfs- oder Nebenaufgaben aus dem Arbeitsverhältnis wie ‒ so im vorliegenden Fall ‒ solche, die die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildung mit sich bringe.

Die Teilnahme an einer beruflichen Fortbildung während der normalen Arbeitszeit gelte nach rumänischem Recht aber als Beitragszeit zum Sozialversicherungssystem des Staates, werde auf das Dienstalter für die betreffende Stelle angerechnet und ermögliche dem Arbeitnehmer den Bezug des entsprechenden Arbeitsentgelts, jedoch regelten diese Rechtsvorschriften nicht die Situation, in der die berufliche Fortbildung außerhalb der normalen Arbeitszeit stattfinde, und erlege dem Arbeitgeber weder eine Verpflichtung in Bezug auf die Zeiten der Fortbildung noch eine Beschränkung betreffend die Einhaltung der wöchentlichen Arbeitszeit auf. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die genannten Bestimmungen einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zwar eine Pflicht zur beruflichen Fortbildung des Arbeitnehmers begründet, dessen Arbeitgeber aber nicht verpflichtet, die Ruhezeit des Arbeitnehmers während der Zeit der Teilnahme an dieser Fortbildung einzuhalten.

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Iaşi (Berufungsgericht Iaşi) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass die Zeit, in der ein Arbeitnehmer nach dem Ende der normalen Arbeitszeit am Sitz des Fortbildungsdienstleisters außerhalb seines Arbeitsorts und ohne Erfüllung von Dienstaufgaben vorgeschriebene Fortbildungskurse besucht, „Arbeitszeit“ darstellt?

2.      Falls die erste Frage verneint wird: Sind Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 2 Nr. 2 sowie Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die, obwohl sie die berufliche Fortbildung des Arbeitnehmers vorschreibt, den Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, die Ruhezeiten des Arbeitnehmers einzuhalten, soweit es die Zeit betrifft, in der die Fortbildungskurse zu besuchen sind?

 

Zu den Vorlagefragen

Vorab ist festzustellen, dass es im Ausgangsrechtsstreit um das Arbeitsentgelt geht, auf das ein Arbeitnehmer für die Zeiten der beruflichen Fortbildung, die er auf Anweisung seines Arbeitgebers absolvieren musste, Anspruch zu haben behauptet.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs beschränkt sich die Richtlinie 2003/88 mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten Sonderfalls des bezahlten Jahresurlaubs darauf, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Da jedoch, wie das vorlegende Gericht ausführt, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits die Frage des Arbeitsentgelts für die Zeiten der beruflichen Fortbildung, die der Kläger des Ausgangsverfahrens absolviert hat, von der Einstufung dieser Zeiten als „Arbeitszeit“ oder „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 abhängt, sind die gestellten Fragen, die diese Einstufung betreffen, zu beantworten.

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass die Zeit, in der ein Arbeitnehmer eine ihm von seinem Arbeitgeber vorgeschriebene berufliche Fortbildung absolviert, die außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsorts in den Räumlichkeiten des Fortbildungsdienstleisters stattfindet und während der er nicht seinen gewöhnlichen Aufgaben nachgeht, Arbeitszeit im Sinne dieser Vorschrift darstellt.

Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Diese Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der Union bezweckt, durch die Gewährung von ‒ u. a. täglichen und wöchentlichen ‒ Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie durch die Festlegung einer Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit einen besseren Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Die verschiedenen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 über Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeiten sind besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union, die jedem Arbeitnehmer zugutekommen müssen und deren Einhaltung Erwägungen rein wirtschaftlicher Art nicht untergeordnet werden darf. Indem jedem Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten zuerkannt wird, konkretisiert diese Richtlinie das ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht und ist daher im Licht dieses Art. 31 Abs. 2 auszulegen. Daraus folgt insbesondere, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 nicht zu Ungunsten der Rechte, die sie dem Arbeitnehmer gewährt, restriktiv ausgelegt werden dürfen (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 26 und 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Zweitens ist festzustellen, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 den Begriff „Arbeitszeit“ definiert als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer … arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie wird der Begriff „Ruhezeit“ negativ definiert als jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.

Die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ schließen einander somit aus. Die Zeit der beruflichen Fortbildung eines Arbeitnehmers ist daher für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen, da die Richtlinie keine Zwischenkategorie vorsieht (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Außerdem sind die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ unionsrechtliche Begriffe, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie 2003/88 zu bestimmen sind. Denn nur eine solche autonome Auslegung kann die volle Wirksamkeit der Richtlinie und eine einheitliche Anwendung der genannten Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherstellen (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es für das Vorliegen der charakteristischen Merkmale des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend sein und ihm zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 33).

In diesem Kontext ist unter Arbeitsplatz jeder Ort zu verstehen, an dem der Arbeitnehmer nach Weisung seines Arbeitgebers eine Tätigkeit auszuüben hat, auch wenn es sich nicht um den Ort handelt, an dem er seine berufliche Tätigkeit gewöhnlich ausübt (Urteil vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 34).

Erhält ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber aber die Anweisung, eine berufliche Fortbildung zu absolvieren, um die von ihm wahrgenommenen Aufgaben ausüben zu können, und hat dieser Arbeitgeber im Übrigen selbst den Vertrag über die berufliche Fortbildung mit dem Unternehmen unterzeichnet, das diese Fortbildung durchzuführen hat, ist davon auszugehen, dass dieser Arbeitnehmer während der Zeiten der beruflichen Fortbildung seinem Arbeitgeber im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 zur Verfügung steht.

Insoweit ist unerheblich, dass sich im vorliegenden Fall die Verpflichtung von BX, eine berufliche Fortbildung zu absolvieren, aus nationalen Rechtsvorschriften ergibt, da, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, zum einen BX bereits bei der Verwaltung der Gemeinde D. auf der Stelle angestellt war, für die die berufliche Fortbildung erforderlich war, und zum anderen diese Verwaltung verpflichtet war, BX die Teilnahme an dieser Fortbildung vorzuschreiben.

Unerheblich ist auch der vom vorlegenden Gericht hervorgehobene Umstand, dass die Zeiten der beruflichen Fortbildung ganz oder teilweise außerhalb der normalen Arbeitszeit liegen, da die Richtlinie 2003/88 für die Zwecke des Begriffs „Arbeitszeit“ nicht danach unterscheidet, ob diese Zeit in der normalen Arbeitszeit liegt oder nicht (vgl. entsprechend Urteil vom 3. Oktober 2000, Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn. 51).

Außerdem ändert der Umstand, dass die in Rede stehende berufliche Fortbildung nicht am gewöhnlichen Arbeitsort des Arbeitnehmers stattfindet, sondern in den Räumlichkeiten des Unternehmens, das die Fortbildungsdienstleistungen erbringt, nichts daran, dass der Arbeitnehmer somit, wie sich aus der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, gezwungen ist, sich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, und hindert folglich nicht daran, im Einklang mit der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Zeiten der in Rede stehenden beruflichen Fortbildung als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen.

Schließlich steht auch der Umstand, dass sich die Tätigkeit, die ein Arbeitnehmer während der Zeiten der beruflichen Fortbildung ausübt, von der Tätigkeit unterscheidet, die er im Rahmen seiner gewöhnlichen Aufgaben ausübt, dem nicht entgegen, dass diese Zeiten als Arbeitszeit eingestuft werden, wenn die berufliche Fortbildung auf Veranlassung des Arbeitgebers absolviert wird und der Arbeitnehmer folglich im Rahmen dieser Fortbildung dessen Weisungen unterliegt.

Hinzuzufügen ist, dass diese Auslegung durch das in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführte Ziel der Richtlinie 2003/88 und durch die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung, wonach die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 nicht zu Ungunsten der Rechte, die sie dem Arbeitnehmer gewährt, restriktiv ausgelegt werden dürfen, bestätigt wird. Eine Auslegung des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie, die es nicht ermöglichen würde, die Zeiten der beruflichen Fortbildung einzubeziehen, die der Arbeitnehmer auf Veranlassung seines Arbeitgebers absolviert, könnte es diesem nämlich ermöglichen, dem Arbeitnehmer, der die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Mai 2019, CCOO, C‑55/18, EU:C:2019:402, Rn. 44, und vom 17. März 2021, Academia de Studii Economice din Bucureşti, C‑585/19, EU:C:2021:210, Rn. 51), Pflichten zur Fortbildung außerhalb der normalen Arbeitszeit zu Ungunsten des Rechts des Arbeitnehmers auf eine ausreichende Ruhezeit aufzuerlegen.

In Anbetracht dessen scheint es, dass die Zeiten der beruflichen Fortbildung von BX als Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 anzusehen sind, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass die Zeit, in der ein Arbeitnehmer eine ihm von seinem Arbeitgeber vorgeschriebene berufliche Fortbildung absolviert, die außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsorts in den Räumlichkeiten des Fortbildungsdienstleisters stattfindet und während der er nicht seinen gewöhnlichen Aufgaben nachgeht, „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Vorschrift darstellt.

Zur zweiten Frage

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit im bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass die Zeit, in der ein Arbeitnehmer eine ihm von seinem Arbeitgeber vorgeschriebene berufliche Fortbildung absolviert, die außerhalb seines gewöhnlichen Arbeitsorts in den Räumlichkeiten des Fortbildungsdienstleisters stattfindet und während der er nicht seinen gewöhnlichen Aufgaben nachgeht, „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Vorschrift darstellt.



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