Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-257/21; C-258/21

Unionsrecht nicht anwendbar: EuGH verweist Streit um Nachtzuschläge zurück an das BAG

Im vorliegenden Fall hatten zwei Mitarbeiter eines Unternehmens der Getränkeindustrie geklagt, die regelmäßig Nachtarbeit im Rahmen von Schichtbetrieb geleistet hatten. Sie machten eine Ungleichbehandlung geltend, da nach dem Manteltarifvertrag der Zuschlag für regelmäßige Nachtarbeit 20 Prozent und für unregelmäßige Nachtarbeit 50 Prozent der Stundenvergütung beträgt. Die Kläger beriefen sich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz von Art. 3 des deutschen Grundgesetzes und Art. 20 der Europäischen Charta. Das beklagte Unternehmen begründete die höheren Zuschläge für die unregelmäßige Nachtarbeit damit, dass unregelmäßige Nachtarbeit in sehr viel geringerem Umfang anfalle als regelmäßige Nachtarbeit. Der Zuschlag von 50 % für unregelmäßige Nachtarbeit betreffe typischerweise Mehrarbeit und enthalte den Mehrarbeitszuschlag. Der Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle nicht nur die Erschwernis für die Arbeit in der Nacht ausgleichen, sondern den Arbeitgeber auch davon abhalten, in den geschützten Freizeitbereich der Arbeitnehmer einzugreifen.
Das Bundesarbeitsgericht hatte sich an den EuGH gewandt und wollte wissen, ob die unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern, die regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit leisteten, mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Der EuGH verneinte dies und stellte fest, dass die EU-Charta in der Auseinandersetzung keine Anwendung findet und auch die Europäische Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88) keine geeignete Rechtsgrundlage für die Kläger darstellt. Die Richtlinie enthalte zwar Bestimmungen über Nachtarbeit, diese beträfen jedoch nur Dauer und Rhythmus, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Nachtarbeiter sowie die Unterrichtung der zuständigen Behörden.
Somit finde die Richtlinie keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer, sodass die tarifliche Regelung auch nicht dem Europäischen Recht unterfalle.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Urteil

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie von Art. 20 und Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Coca-Cola European Partners Deutschland GmbH (im Folgenden: Coca-Cola) und L.B. (Rechtssache C‑257/21) bzw. R.G. (Rechtssache C‑258/21) (im Folgenden zusammen: Betroffene) über den tarifvertraglich geschuldeten Vergütungszuschlag für geleistete Nachtarbeitsstunden.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens (Nr. 171) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Nachtarbeit, 1990 (im Folgenden: IAO-Übereinkommen über Nachtarbeit) bestimmt:

„Es sind besondere, durch die Art der Nachtarbeit gebotene Maßnahmen, die mindestens die in den Artikeln 4 bis 10 erwähnten zu umfassen haben, für Nachtarbeiter zu treffen, um ihre Gesundheit zu schützen, ihnen die Erfüllung ihrer Familien- und Sozialpflichten zu erleichtern, ihnen Möglichkeiten für den beruflichen Aufstieg zu bieten und sie angemessen zu entschädigen. Solche Maßnahmen sind auch im Bereich der Sicherheit und des Mutterschutzes für alle Arbeitnehmer zu treffen, die Nachtarbeit verrichten.“

Art. 8 dieses Übereinkommens sieht vor:

„Der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen hat der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen.“

Unionsrecht

Die Richtlinie 2003/88 wurde auf der Grundlage von Art. 137 Abs. 2 EG (jetzt Art. 153 Abs. 2 AEUV) erlassen.

Die Erwägungsgründe 1, 2 und 4 bis 6 dieser Richtlinie lauten:

„(1)      Die Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung [(ABl. 1993, L 307, S. 18)], die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung im Hinblick auf tägliche Ruhezeiten, Ruhepausen, wöchentliche Ruhezeiten, wöchentliche Höchstarbeitszeit, Jahresurlaub sowie Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit und des Arbeitsrhythmus enthält, ist in wesentlichen Punkten geändert worden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Klarheit empfiehlt es sich deshalb, die genannten Bestimmungen zu kodifizieren.

(2)      Nach Artikel 137 [EG] unterstützt und ergänzt die [Europäische] Gemeinschaft die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, um die Arbeitsumwelt zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu verbessern. Richtlinien, die auf der Grundlage dieses Artikels angenommen werden, sollten keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen.

(4)      Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.

(5)      Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. Der Begriff ‚Ruhezeit‘ muss in Zeiteinheiten ausgedrückt werden, d. h. in Tagen, Stunden und/oder Teilen davon. Arbeitnehmern in der Gemeinschaft müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. In diesem Zusammenhang muss auch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt werden.

(6)      Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der [IAO] Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze.“

Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.“

Art. 7 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

Art. 8 („Dauer der Nachtarbeit“) der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:

a)      die normale Arbeitszeit für Nachtarbeiter im Durchschnitt acht Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum nicht überschreitet;

b)      Nachtarbeiter, deren Arbeit mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen oder geistigen Anspannung verbunden ist, in einem 24-Stunden-Zeitraum, während dessen sie Nachtarbeit verrichten, nicht mehr als acht Stunden arbeiten.

Zum Zweck von Buchstabe b) wird im Rahmen von einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten oder von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern festgelegt, welche Arbeit unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Nachtarbeit und der ihr eigenen Risiken mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen und geistigen Anspannung verbunden ist.“

In Art. 9 („Untersuchung des Gesundheitszustands von Nachtarbeitern und Versetzung auf Arbeitsstellen mit Tagarbeit“) dieser Richtlinie heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:

a)      der Gesundheitszustand der Nachtarbeiter vor Aufnahme der Arbeit und danach regelmäßig unentgeltlich untersucht wird;

b)      Nachtarbeiter mit gesundheitlichen Schwierigkeiten, die nachweislich damit verbunden sind, dass sie Nachtarbeit leisten, soweit jeweils möglich auf eine Arbeitsstelle mit Tagarbeit versetzt werden, für die sie geeignet sind.

(2)      Die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszustands gemäß Absatz 1 Buchstabe a) unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.

(3)      Die unentgeltliche Untersuchung des Gesundheitszustands gemäß Absatz 1 Buchstabe a) kann im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens durchgeführt werden.“

Art. 10 („Garantien für Arbeit während der Nachtzeit“) der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können die Arbeit bestimmter Gruppen von Nachtarbeitern, die im Zusammenhang mit der Arbeit während der Nachtzeit einem Sicherheits- oder Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind, nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten von bestimmten Garantien abhängig machen.“

Art. 11 („Unterrichtung bei regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern“) der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit der Arbeitgeber bei regelmäßiger Inanspruchnahme von Nachtarbeitern die zuständigen Behörden auf Ersuchen davon in Kenntnis setzt.“

Art. 12 („Sicherheits- und Gesundheitsschutz“) der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit:

a)      Nacht- und Schichtarbeitern hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in einem Maß Schutz zuteil wird, das der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt;

b)      die zur Sicherheit und zum Schutz der Gesundheit von Nacht- und Schichtarbeitern gebotenen Schutz- und Vorsorgeleistungen oder ‑mittel denen für die übrigen Arbeitnehmer entsprechen und jederzeit vorhanden sind.“

Art. 13 („Arbeitsrhythmus“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit ein Arbeitgeber, der beabsichtigt, die Arbeit nach einem bestimmten Rhythmus zu gestalten, dem allgemeinen Grundsatz Rechnung trägt, dass die Arbeitsgestaltung dem Menschen angepasst sein muss, insbesondere im Hinblick auf die Verringerung der eintönigen Arbeit und des maschinenbestimmten Arbeitsrhythmus, nach Maßgabe der Art der Tätigkeit und der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes, insbesondere was die Pausen während der Arbeitszeit betrifft.“

Deutsches Recht

Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I S. 1) in der auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung bestimmt:

„(1)      Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(2)      Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

(3)      Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

§ 7 des Manteltarifvertrags zwischen dem Verband der Erfrischungsgetränke‑Industrie Berlin und Region Ost e. V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Hauptverwaltung vom 24. März 1998 (im Folgenden: MTV) sieht in den Nrn. 1 und 3 in Bezug auf „Zuschläge für Nacht‑, Sonntags- und Feiertagsarbeit“ vor:

„1.      Für Nacht‑, Sonntags- und Feiertagsarbeit werden folgende Zuschläge gezahlt:

Mehrarbeit ab der 41. Stunde/Woche                  25 %

Mehrarbeit in der Nacht ab der 41. Stunde/Woche            50 %

regelmäßige Nachtarbeit ab 1998                        17,5 %

regelmäßige Nachtarbeit ab 1999                        20 %

unregelmäßige Nachtarbeit ab 1998                        40 %

unregelmäßige Nachtarbeit ab 1999                        50 %

3.      Die Zuschläge werden vom tariflichen Gesamtentgelt berechnet.“

 

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

Die Betroffenen leisteten Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit für Coca-Cola, ein Unternehmen der Getränkeindustrie, das mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten einen Unternehmenstarifvertrag geschlossen hat, nach dem es an die Bestimmungen des MTV gebunden ist.

L.B. verrichtete in der Zeit von Dezember 2018 bis Juni 2019 regelmäßige Nachtarbeit im Sinne des MTV, für die sie einen Vergütungszuschlag von 20 % pro Stunde erhielt.

R.G. verrichtete im Dezember 2018, im Januar 2019 sowie in der Zeit von März bis Juli 2019 regelmäßige Nachtarbeit im Sinne des MTV, für die seine Vergütung um 25 % pro Stunde erhöht wurde.

Die Betroffenen sind der Auffassung, dass der MTV dadurch, dass er für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsehe als für regelmäßige Nachtarbeit, eine Ungleichbehandlung begründe, die gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne von Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und Art. 20 der Charta verstoße. Sie erhoben daher jeweils Klage beim für sie zuständigen deutschen Arbeitsgericht und verlangten für die fraglichen Zeiträume die Zahlung der Differenz zwischen den erhaltenen Vergütungen und den Vergütungen, die bei Anwendung der im MTV für unregelmäßige Nachtarbeit vorgesehenen Zuschlagssätze zu zahlen gewesen wären. Insoweit trugen sie vor, dass Personen, die regelmäßig nachts arbeiteten, erheblich höheren Gesundheitsgefährdungen und Störungen ihres sozialen Umfelds ausgesetzt seien als Personen, die nur gelegentlich Nachtarbeit leisteten.

Coca-Cola vertrat dagegen die Ansicht, dass unregelmäßige Nachtarbeit in sehr viel geringerem Umfang anfalle als regelmäßige Nachtarbeit. Der höhere Vergütungszuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit sei u. a. dadurch gerechtfertigt, dass diese typischerweise Mehrarbeit bedeute. Außerdem begründe regelmäßige Nachtarbeit einen Anspruch auf zusätzliche Vergünstigungen, insbesondere in Form von Freizeit. Der höhere Vergütungszuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle nicht nur die Erschwernis dieser Art von Arbeit ausgleichen, sondern den Arbeitgeber auch davon abhalten, durch Anordnung von Nachtarbeit spontan in die Freizeit und das Sozialleben seiner Arbeitnehmer einzugreifen.

Nachdem ihre Klagen vom Arbeitsgericht abgewiesen worden waren, legten die Betroffenen gegen dessen Urteile Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) ein. Dieses gab ihren Ansprüchen für einen Teil der fraglichen Zeiträume statt, erklärte sie aber im Übrigen für verfallen.

Gegen diese Urteile legte Coca-Cola beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision ein.

Dieses Gericht ist sich darüber im Unklaren, ob in dem Fall, dass die Charta im vorliegenden Fall anwendbar ist, eine tarifvertragliche Regelung, die einen Vergütungszuschlag für Nachtarbeit vorsieht, mit der Charta vereinbar ist. Insbesondere sei fraglich, ob die aus § 7 Nr. 1 MTV resultierende Ungleichbehandlung der regelmäßigen Nachtarbeit im Verhältnis zur unregelmäßigen Nachtarbeit mit Art. 20 der Charta vereinbar sei.

Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑257/21 und C‑258/21 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Wird mit einer tarifvertraglichen Regelung die Richtlinie 2003/88 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta durchgeführt, wenn die tarifvertragliche Regelung für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit?

2.      Sofern die Frage zu 1. bejaht wird:

Ist eine tarifvertragliche Regelung mit Art. 20 der Charta vereinbar, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Ausgleich vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit ausgeglichen werden sollen?

Zur Verbindung der Rechtssachen C257/21 und C258/21

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Mai 2021 sind die Rechtssachen C‑257/21 und C‑258/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

Zu den Anträgen auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens

Mit Schreiben, die am 10. März 2022 und am 13. Juni 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, haben die Betroffenen die Eröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt und vorgetragen, dass sie weder mit dem Beschluss, ohne Schlussanträge des Generalanwalts über die Rechtssachen zu entscheiden, noch mit den Erklärungen der Europäischen Kommission einverstanden seien.

Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden hat, keine mündliche Verhandlung abzuhalten, da er sich durch die im schriftlichen Verfahren eingereichten Erklärungen für ausreichend unterrichtet hält, um in den vorliegenden Rechtssachen eine Entscheidung zu erlassen.

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle Angaben verfügt, die für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts erforderlich sind.

Folglich sind die Anträge der Betroffenen auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.

 

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

Die Kommission trägt vor, die Vorabentscheidungsersuchen seien unzulässig, da das vorlegende Gericht nicht dargetan habe, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/88 erforderlich sei, damit es über die Ausgangsverfahren entscheiden könne. Vielmehr beträfen die Vorlagefragen ausschließlich die Auslegung der Charta. Da die Ausgangsverfahren außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2003/88 lägen, stelle sich die Frage der Auslegung der Charta jedoch nicht.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren eine enge Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof begründet, die auf einer Verteilung der Aufgaben zwischen ihnen beruht, und ein Verfahren darstellt, das dem Gerichtshof die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften erlaubt, auf die es für die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits ankommt (Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Vorabentscheidungsersuchen und dem Wortlaut der Vorlagefragen, dass die Auslegung der Richtlinie 2003/88 für die Beantwortung der Frage erforderlich ist, ob mit § 7 Nr. 1 MTV diese Richtlinie im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt wird.

Unter diesen Umständen können die Argumente der Kommission, die sich auf die Auslegung der Richtlinie 2003/88 beziehen und somit die inhaltliche Prüfung der Vorabentscheidungsersuchen betreffen, die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Fragen des vorlegenden Gerichts nicht widerlegen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Oktober 2020, Sportingbet und Internet Opportunity Entertainment, C‑275/19, EU:C:2020:856, Rn. 36).

Demzufolge sind die Vorlagefragen zulässig.

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob mit einer tarifvertraglichen Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, die Richtlinie 2003/88 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt wird.

Nach ihrem Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach ständiger Rechtsprechung setzt der Begriff „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne dieser Bestimmung das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraus, der unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof festgelegten Beurteilungskriterien darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann (Urteil vom 28. Oktober 2021, Komisia za protivodeystvie na koruptsiyata i za otnemane na nezakonno pridobitoto imushtestvo, C‑319/19, EU:C:2021:883, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine spezifischen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen. Daher ist allein der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, nicht geeignet, diese Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts zu bringen und dadurch die Anwendbarkeit der Charta auszulösen (Urteil vom 14. Oktober 2021, INSS [Witwenrente auf der Grundlage eines Partnerschaftsverhältnisses], C‑244/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:854, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im Übrigen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Bereich einen bestimmten Aspekt nicht regeln und den Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt keine spezifischen Verpflichtungen auferlegen, eine Regelung, die in einem Tarifvertrag zwischen den Sozialpartnern in Bezug auf diesen Aspekt getroffen wurde, nicht in den Anwendungsbereich der Charta fällt, so dass deren Bestimmungen für die Beurteilung des betreffenden Sachverhalts nicht herangezogen werden können (Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Folglich ist zu prüfen, ob die Richtlinie 2003/88 den Vergütungszuschlag der Arbeitnehmer für die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Nachtarbeit regelt und im Hinblick auf derartige Sachverhalte eine spezifische Verpflichtung auferlegt.

Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht im Wesentlichen der Auffassung, dass § 7 Nr. 1 MTV zum einen in den Regelungsbereich der Art. 8 bis 13 der Richtlinie 2003/88 und zum anderen in den von Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Übereinkommens über Nachtarbeit in Verbindung mit dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie fallen könnte.

Jedoch ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich die Richtlinie 2003/88 mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten Sonderfalls des bezahlten Jahresurlaubs darauf beschränkt, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 2021, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 57, und vom 9. März 2021, Stadt Offenbach am Main [Rufbereitschaft eines Feuerwehrmanns], C‑580/19, EU:C:2021:183, Rn. 56).

Sowohl aus Art. 137 EG (jetzt Art. 153 AEUV), der die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2003/88 bildet, als auch aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie, betrachtet im Licht ihrer Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 5, ergibt sich nämlich, dass durch die Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2018, Sindicatul Familia Constanţa u. a., C‑147/17, EU:C:2018:926, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im Übrigen gilt Art. 153 AEUV gemäß seinem Abs. 5 nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht. Der Grund für diese Ausnahme liegt darin, dass die Festsetzung des Lohn‑ und Gehaltsniveaus der Vertragsautonomie der Sozialpartner auf nationaler Ebene und der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet unterliegt. Daher ist es als beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts angemessen erachtet worden, die Bestimmung des Lohn- und Gehaltsniveaus von einer Harmonisierung nach den Art. 136 ff. EG (jetzt Art. 151 ff. AEUV) auszunehmen (Urteil vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zwar regeln die Art. 8 bis 13 der Richtlinie 2003/88 die Nachtarbeit. Diese Bestimmungen betreffen jedoch nur Dauer und Rhythmus der Nachtarbeit (Art. 8 und 13 dieser Richtlinie), den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Nachtarbeiter (Art. 9, 10 und 12 der Richtlinie) sowie die Unterrichtung der zuständigen Behörden (Art. 11 der Richtlinie). Sie regeln also nicht das Entgelt der Arbeitnehmer für Nachtarbeit und erlegen den Mitgliedstaaten folglich in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte keine spezifische Verpflichtung auf.

Zweitens ist festzustellen, dass auch Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des IAO-Übereinkommens über Nachtarbeit in Verbindung mit dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Vergütungszuschlag der Arbeitnehmer für Nachtarbeit keine spezifischen unionsrechtlichen Verpflichtungen auferlegen.

Zwar sieht Art. 3 Abs. 1 des IAO-Übereinkommens über Nachtarbeit vor, dass besondere, durch die Art der Nachtarbeit gebotene Maßnahmen zugunsten der Arbeitnehmer zu treffen sind, einschließlich der Gewährung angemessener Entschädigungen, während Art. 8 dieses Übereinkommens bestimmt, dass der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen hat.

Jedoch ist festzustellen, dass diesem Übereinkommen als solchem, da die Union es nicht ratifiziert hat, in der Unionsrechtsordnung keine rechtliche Verbindlichkeit zukommt und dass auch der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 dem Übereinkommen keine verbindliche Wirkung verleiht (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 64).

Folglich fällt der in § 7 Nr. 1 MTV vorgesehene Vergütungszuschlag der Arbeitnehmer für die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Nachtarbeit nicht unter die Richtlinie 2003/88 und kann nicht als Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass mit einer tarifvertraglichen Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, die Richtlinie 2003/88 nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt wird.

Zur zweiten Frage

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 

Kosten

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Mit einer tarifvertraglichen Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, wird die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durchgeführt.



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