Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-12/17

Elternzeit verkürzt Jahresurlaubsanspruch

(1.) Grundsätzlich steht jedem Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen zum Zwecke der Erholung zu. Voraussetzung hierfür ist, dass auch tatsächlich Arbeit geleistet wurde.

(2.) Die Erkrankung eines Arbeitnehmers oder der Mutterschutz gehören zu den gesetzlich geregelten Ausnahmen. Für diesen Zeitraum entsteht weiterhin ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub.

(3.) Hingegen zählt die Elternzeit nicht zu den Ausnahmeregelungen. In diesem Zeitraum gilt das Arbeitsverhältnis als ausgesetzt, sodass der Elternurlaub nicht als Arbeitszeit anzurechnen ist und der Arbeitgeber den Urlaub mithin kürzen darf.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Im Ausgangsfall nahm die Klägerin aus Rumänien im Kalenderjahr 2014 ihren vollständigen Jahresurlaub und befand sich danach vom 1.10.2014 bis zum 3.2.2015 im gesetzlichen Mutterschutz. Anschließend nahm die Klägerin vom 4.2. bis zum 16.9.2019 Elternurlaub. Während diesem Zeitpunkt war das Arbeitsverhältnis ausgesetzt. Nach Beendigung ihres Elternurlaubs nahm die Klägerin 30 Tage ihres bezahlten Jahresurlaubs vom 17.9 bis zum 17.10.2015. Auf der Grundlage des rumänischen Rechts, das einen Anspruch auf 35 Tage bezahlten Jahresurlaub vorsieht, beantragte die Klägerin beim Gericht, ihr den Restanspruch von fünf Tagen bezahltem Jahresurlaub für 2015 zu gewähren. Der Arbeitgeber lehnte den Urlaubsantrag ab, da nach rumänischem Recht die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs an die Zeit tatsächlicher Arbeitsleistung innerhalb des laufenden Jahres gebunden sei und die Dauer des Elternurlaubs, der ihr 2015 gewährt wurde, bei der Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen werde. Der EuGH hat das entsprechende Gesetz aus Rumänien als wirksam erachtet. Die Situation eines Arbeitnehmers in Elternzeit sei nicht mit den gesetzlich geregelten Ausnahmefällen zu vergleichen. Da der Arbeitnehmer im Elternurlaub unter keinen durch eine Erkrankung hervorgerufenen physischen oder psychischen Beschwerden leide, befinde er sich in einer anderen Lage, als wenn er aufgrund seines Gesundheitszustands arbeitsunfähig wäre. Darüber hinaus sei die Situation zwischen dem Elternurlaub und dem Mutterschaftsurlaub nicht vergleichbar. Der Mutterschaftsurlaub solle gerade dem Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach ihrer Schwangerschaft sowie der besonderen Beziehung zum Kind unmittelbar nach der Entbindung dienen. Diese besondere Beziehung dürfe infolge der gleichzeitigen Ausübung eines Berufs nicht gestört werden. Weiterhin sei die Inanspruchnahme des Elternurlaubs nicht unvorhersehbar und folge in den meisten Fällen aus dem Wunsch des Arbeitnehmers, sich um sein Kind zu kümmern.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani, Rumänien) und dem Ministerul Justiției (Justizministerium, Rumänien) auf der einen sowie Maria Dicu auf der anderen Seite wegen der Berechnung ihrer Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub für das Jahr 2015.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2003/88

Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; dies betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden Grundsätze.“

In Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie heißt es:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub …

…“

Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

Art. 15 dieser Richtlinie lautet:

„Das Recht der Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten, bleibt unberührt.“

Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie ist jedoch nicht zulässig.

Richtlinie 2010/18/EU

Paragraf 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub vom 18. Juni 2009 (im Folgenden: Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub) im Anhang der Richtlinie 2010/18/EU des Rates vom 8. März 2010 zur Durchführung der von BUSINESSEUROPE, UEAPME, CEEP und EGB geschlossenen überarbeiteten Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub und zur Aufhebung der Richtlinie 96/34/EG (ABl. 2010, L 68, S. 13) sieht vor:

„Nach dieser Vereinbarung haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Fall der Geburt oder Adoption eines Kindes ein individuelles Recht auf Elternurlaub …“

Paragraf 2 Nr. 2 dieser Rahmenvereinbarung lautet:

„Der Elternurlaub wird für eine Dauer von mindestens vier Monaten gewährt und sollte zur Förderung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen grundsätzlich nicht übertragbar sein. Um eine ausgewogenere Inanspruchnahme des Elternurlaubs durch beide Elternteile zu fördern ist mindestens einer der vier Monate nicht übertragbar. Die Modalitäten für den nicht übertragbaren Teil werden auf nationaler Ebene gesetzlich und/oder tarifvertraglich festgelegt, wobei die Elternurlaubsregelungen, die bereits in den Mitgliedstaaten bestehen, berücksichtigt werden.“

In Paragraf 5 dieser Rahmenvereinbarung heißt es:

„1. Im Anschluss an den Elternurlaub hat der Arbeitnehmer das Recht, an seinen früheren Arbeitsplatz zurückzukehren oder, wenn das nicht möglich ist, eine entsprechend seinem Arbeitsvertrag oder Beschäftigungsverhältnis gleichwertige oder ähnliche Arbeit zugewiesen zu bekommen.

2. Die Rechte, die der Arbeitnehmer zu Beginn des Elternurlaubs erworben hatte oder dabei war zu erwerben, bleiben bis zum Ende des Elternurlaubs bestehen. Im Anschluss an den Elternurlaub finden diese Rechte mit den Änderungen Anwendung, die sich aus den nationalen Rechtsvorschriften, Tarifverträgen und/oder Gepflogenheiten ergeben.

3. Die Mitgliedstaaten und/oder die Sozialpartner bestimmen den Status des Arbeitsvertrags oder Beschäftigungsverhältnisses für den Zeitraum des Elternurlaubs.

…“

Nach Paragraf 8 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub können die Mitgliedstaaten günstigere Bestimmungen anwenden oder einführen, als sie in dieser Vereinbarung vorgesehen sind.

Rumänisches Recht

Art. 10 der Legea nr. 53/2003 privind Codul muncii (Gesetz Nr. 53/2003 über das Arbeitsgesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) bestimmt:

„Der Individualarbeitsvertrag ist ein Vertrag, durch den sich eine natürliche Person, der Arbeitnehmer, verpflichtet, für und unter der Weisung eines Arbeitgebers, einer natürlichen oder juristischen Person, für eine Vergütung genannte Gegenleistung Arbeit zu leisten.“

Art. 49 Abs. 1, 2 und 3 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„(1) Der Individualarbeitsvertrag kann von Rechts wegen, im Einvernehmen der Parteien oder durch einseitiges Rechtsgeschäft einer der Parteien ausgesetzt werden.

(2) Die Aussetzung des Individualarbeitsvertrags führt zur Aussetzung der Erbringung der Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer und zur Aussetzung der Vergütungszahlungen durch den Arbeitgeber.

(3) Andere Rechte und Pflichten der Parteien als die in Abs. 2 genannten können für die Dauer der Aussetzung fortbestehen, wenn sie in speziellen Gesetzen, im anwendbaren Tarifvertrag, in Individualarbeitsverträgen oder in Betriebsvereinbarungen vorgesehen sind.“

Art. 51 Abs. 1 Buchst. a des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„(1) Der Individualarbeitsvertrag kann in folgenden Fällen auf Initiative des Arbeitnehmers ausgesetzt werden:

a) Elternurlaub für ein Kind im Alter von unter zwei Jahren …“

Art. 145 Abs. 4 bis 6 des Arbeitsgesetzbuchs lautet:

„(4) Bei der Festsetzung der Dauer des Jahresurlaubs werden Zeiten vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, des Mutterschaftsurlaubs, des Urlaubs wegen besonderer Risiken während Schwangerschaft und Stillzeit sowie des Urlaubs zur Pflege eines kranken Kindes als Zeiträume tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen.

(5) Fällt die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, der Mutterschaftsurlaub, der Urlaub wegen besonderer Risiken während Schwangerschaft und Stillzeit oder der Urlaub zur Pflege eines kranken Kindes in die Zeit eines Jahresurlaubs, wird dieser unterbrochen und der Arbeitnehmer nimmt die restlichen Urlaubstage in Anspruch, wenn die [Situation, die zur Unterbrechung geführt hat,] beendet ist; ist dies nicht möglich, wird für die nicht in Anspruch genommenen Tage ein neuer Termin festgelegt.

(6) Der Arbeitnehmer hat auch dann Anspruch auf Jahresurlaub, wenn die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit unter den gesetzlichen Bedingungen ein ganzes Kalenderjahr andauert; der Arbeitgeber ist dann verpflichtet, den Jahresurlaub innerhalb von 18 Monaten ab dem Jahr zu gewähren, das auf das Jahr folgt, in dem sich der Arbeitnehmer im Krankheitsurlaub befunden hat.“

Art. 2 Abs. 1 und 2 der Hotărârea Consiliului Superior al Magistraturii nr. 325/2005 pentru aprobarea Regulamentului privind concediile judecătorilor și procurorilor (Entscheidung des Obersten Richterrats Nr. 325/2005 zur Genehmigung der Urlaubsordnung für Richter und Staatsanwälte) sieht vor:

„(1) Richter und Staatsanwälte haben jährlich Anspruch auf 35 Arbeitstage bezahlten Jahresurlaub. Auf diesen Anspruch kann nicht verzichtet werden, und er kann nicht beschränkt werden.

(2) Die Dauer des in der [Urlaubsordnung für Richter und Staatsanwälte] vorgesehenen Jahresurlaubs ist an die in einem Kalenderjahr geleistete Arbeit gebunden. Bei der Festsetzung der Dauer des Jahresurlaubs werden Zeiten vorübergehender Arbeitsunfähigkeit, des Mutterschaftsurlaubs, des Urlaubs wegen besonderer Risiken während Schwangerschaft und Stillzeit sowie des Urlaubs zur Pflege eines kranken Kindes als Zeiträume tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

Frau Dicu ist Richterin am Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani). Im Jahr 2014 nahm sie zunächst vollständig ihren bezahlten Jahresurlaub und danach, vom 1. Oktober 2014 bis zum 3. Februar 2015, Mutterschaftsurlaub. Anschließend wurde ihr vom 4. Februar 2015 bis zum 16. September 2015 Elternurlaub gewährt; während dieses Zeitraums war ihr Arbeitsverhältnis ausgesetzt. Schließlich nahm sie vom 17. September bis zum 17. Oktober 2015 30 Tage bezahlten Jahresurlaub.

Auf der Grundlage des rumänischen Rechts, das einen Anspruch auf 35 Tage bezahlten Jahresurlaub vorsieht, beantragte Frau Dicu beim Gericht ihrer Verwendung, ihr den Restanspruch von fünf Tagen bezahltem Jahresurlaub für 2015, den sie an den Arbeitstagen zwischen den Feiertagen am Jahresende nehmen wollte, zu gewähren.

Das Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani) lehnte diesen Antrag ab, da nach rumänischem Recht die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs an die Zeit tatsächlicher Arbeitsleistung innerhalb des laufenden Jahres gebunden sei und die Dauer des Elternurlaubs, der ihr 2015 gewährt worden sei, bei der Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung anzusehen sei. Das Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani) war außerdem der Auffassung, dass der Frau Dicu für 2015 gewährte bezahlte Jahresurlaub vom 17. September bis zum 17. Oktober 2015 bereits sieben Tage des Urlaubs für 2016 enthalten habe.

Frau Dicu erhob beim Tribunalul Cluj (Landgericht Cluj, Rumänien) gegen das Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani), die Curtea de Apel Suceava (Berufungsgerichtshof Suceava, Rumänien), das Justizministerium sowie den Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte, Rumänien) Klage mit dem Ziel, feststellen zu lassen, dass bei der Berechnung ihrer Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub für 2015 die Dauer ihres Elternurlaubs als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung anzusehen sei.

Mit Urteil vom 17. Mai 2016 gab das Tribunalul Cluj (Landgericht Cluj) der Klage von Frau Dicu statt. Das Tribunalul Botoșani (Landgericht Botoșani) und das Justizministerium legten gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein.

Vor diesem Hintergrund hat die Curtea de Apel Cluj (Berufungsgerichtshof Cluj, Rumänien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegen, nach der bei der Festsetzung der Dauer des Jahresurlaubs die Zeit, in der sich der Arbeitnehmer im Elternurlaub für ein Kind im Alter von unter zwei Jahren befunden hat, nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung berücksichtigt wird?

Zur Vorlagefrage

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach bei der Berechnung der einem Arbeitnehmer durch diesen Artikel gewährleisteten Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in einem Bezugszeitraum die Dauer des von dem Arbeitnehmer in diesem Zeitraum genommenen Elternurlaubs nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen wird.

Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt, hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist (Urteil vom 20. Juli 2016, Maschek, C‑341/15, EU:C:2016:576, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Dieser jedem Arbeitnehmer zustehende Anspruch ist in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert (Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zwar dürfen die Mitgliedstaaten nicht bereits die Entstehung des sich unmittelbar aus der Richtlinie 2003/88 ergebenden Anspruchs auf einen bezahlten Jahresurlaub von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen (vgl. u. a. Urteile vom 26. Juni 2001, BECTU, C‑173/99, EU:C:2001:356, Rn. 53, vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 28, und vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 34); die vorliegende Rechtssache betrifft jedoch die Frage, ob bei der Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub ein Zeitraum des Elternurlaubs einem Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung gleichzustellen ist.

Insoweit ist auf den Zweck des in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 jedem Arbeitnehmer gewährleisteten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub hinzuweisen, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (vgl. u. a. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25, vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 31, und vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 25).

Dieser Zweck, durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Das Ziel, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen, setzt nämlich voraus, dass dieser Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu berechnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2015, Greenfield, C‑219/14, EU:C:2015:745‚ Rn. 29).

Nach ständiger Rechtsprechung kann zwar ein Mitgliedstaat in bestimmten Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, z. B. weil er wegen einer ordnungsgemäß belegten Krankheit fehlt, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat (vgl. u. a. Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). In Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sind Arbeitnehmer, die wegen einer Krankschreibung während des Bezugszeitraums der Arbeit ferngeblieben sind, und solche, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben, somit gleichgestellt (vgl. u. a. Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 40).

Dies gilt auch für Arbeitnehmerinnen, die wegen Mutterschaftsurlaubs ihre Aufgaben im Rahmen ihrer Arbeitsverhältnisse nicht erfüllen können und deren Rechte auf bezahlten Jahresurlaub im Fall dieses Mutterschaftsurlaubs gewährleistet sein müssen und zu einer anderen Zeit als der ihres Mutterschaftsurlaubs in Anspruch genommen werden können müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2004, Merino Gómez, C‑342/01, EU:C:2004:160‚ Rn. 34, 35 und 38).

Die in den beiden vorstehenden Randnummern angeführte Rechtsprechung kann jedoch auf den Fall eines Arbeitnehmers, dem wie Frau Dicu während des Bezugszeitraums Elternurlaub gewährt wurde, nicht sinngemäß angewandt werden.

Erstens ist nämlich das Eintreten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit grundsätzlich nicht vorhersehbar (Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 51) und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914‚ Rn. 49). Wie der Gerichtshof bereits in Rn. 38 des Urteils vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), ausgeführt hat, werden in Art. 5 Abs. 4 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung), dessen Grundsätze nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 bei deren Auslegung beachtet werden müssen, Fehlzeiten infolge einer Krankheit den Arbeitsversäumnissen „aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen“, zugeordnet, die „als Dienstzeit anzurechnen“ sind. Demgegenüber ist die Inanspruchnahme des Elternurlaubs nicht unvorhersehbar und folgt in den meisten Fällen aus dem Wunsch des Arbeitnehmers, sich um sein Kind zu kümmern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2007, Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536‚ Rn. 35).

Da zweitens der Arbeitnehmer im Elternurlaub unter keinen durch eine Erkrankung hervorgerufenen physischen oder psychischen Beschwerden leidet, befindet er sich in einer anderen Lage, als wenn er aufgrund seines Gesundheitszustands arbeitsunfähig wäre (vgl. entsprechend Urteil vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin, C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 29).

Die Situation des Arbeitnehmers im Elternurlaub unterscheidet sich gleichermaßen von der der Arbeitnehmerin, die ihr Recht auf Mutterschaftsurlaub in Anspruch nimmt. Der Mutterschaftsurlaub soll nämlich zum einen dem Schutz der körperlichen Verfassung der Frau während und nach ihrer Schwangerschaft und zum anderen dem Schutz der besonderen Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind während der an Schwangerschaft und Entbindung anschließenden Zeit dienen, damit diese Beziehung nicht durch die Doppelbelastung infolge der gleichzeitigen Ausübung eines Berufs gestört wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. März 2004, Merino Gómez, C‑342/01, EU:C:2004:160, Rn. 32, und vom 20. September 2007, Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536‚ Rn. 46).

Drittens bleibt zwar der Arbeitnehmer im Elternurlaub während dieses Urlaubs ein Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts (Urteil vom 20. September 2007, Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536‚ Rn. 32). Dies ändert aber nichts daran, dass dann, wenn wie im vorliegenden Fall sein Arbeitsverhältnis aufgrund des nationalen Rechts ausgesetzt worden ist, wie dies nach Paragraf 5 Nr. 3 der Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub zulässig ist, auch die gegenseitigen Leistungspflichten des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers, insbesondere die Pflicht des Arbeitnehmers, die ihm im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses obliegenden Aufgaben zu erfüllen, entsprechend suspendiert sind (vgl. entsprechend Urteil vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin, C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 28).

Folglich kann in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens der Zeitraum des Elternurlaubs, der dem betreffenden Arbeitnehmer während des Bezugszeitraums gewährt wurde, bei der Berechnung seiner Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einem Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung nicht gleichgestellt werden.

Ferner kann zwar nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein unionsrechtlich gewährleisteter Urlaub nicht das Recht beeinträchtigen, einen anderen unionsrechtlich gewährleisteten Urlaub zu nehmen, der einen anderen Zweck als der erstgenannte verfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus dieser im Zusammenhang mit Fällen der Überschneidung oder des Zusammenfallens der Zeiträume dieser beiden Urlaube entwickelten Rechtsprechung lässt sich jedoch nicht herleiten, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei der Berechnung der Ansprüche eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der Richtlinie 2003/88 einen ihm während des Bezugszeitraums gewährten Zeitraum des Elternurlaubs als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung anzusehen.

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach bei der Berechnung der einem Arbeitnehmer durch diesen Artikel gewährleisteten Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in einem Bezugszeitraum die Dauer eines von dem Arbeitnehmer in diesem Zeitraum genommenen Elternurlaubs nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen wird.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach bei der Berechnung der einem Arbeitnehmer durch diesen Artikel gewährleisteten Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in einem Bezugszeitraum die Dauer eines von dem Arbeitnehmer in diesem Zeitraum genommenen Elternurlaubs nicht als Zeitraum tatsächlicher Arbeitsleistung angesehen wird.



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