Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-580/19

Bereitschaftszeit kann Arbeitszeit sein

(1.) Eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft – etwa die eines Feuerwehrmannes - kann nur dann als Arbeitszeit gewertet werden, wenn sie dazu führt, dass der Arbeitnehmer durch die Bereitschaft ganz erheblich in der Ausübung seiner Freizeit beeinträchtigt wird. Dabei sind nur solche Einschränkungen zu berücksichtigen, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, Tarifvertrag oder seinen Arbeitgeber auferlegt werden.

(2.) Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten für den Arbeitnehmer mit sich bringen kann und die sich nicht aus solchen Einschränkungen ergeben können, unerheblich. So stellt die große Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen kein relevantes Kriterium für die Einstufung dieser gesamten Zeitspanne als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dar.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RJ und der Stadt Offenbach am Main (Deutschland) wegen der von RJ geforderten Vergütung für die von ihm in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftsdienste. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des vorliegenden Urteils der Begriff „Bereitschaft“ allgemein sämtliche Zeiträume umfasst, in denen der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um auf dessen Verlangen eine Arbeitsleistung erbringen zu können, während mit dem Ausdruck „Rufbereitschaft“ Bereitschaftszeiten bezeichnet werden, in denen der Arbeitnehmer nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 89/391/EWG

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1) bestimmt:

„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.“

Art. 6 der Richtlinie 89/391 bestimmt:

„(1) Im Rahmen seiner Verpflichtungen trifft der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel.

Der Arbeitgeber muss darauf achten, dass diese Maßnahmen entsprechend den sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden, und er muss eine Verbesserung der bestehenden Arbeitsbedingungen anstreben.

(2) Der Arbeitgeber setzt die Maßnahmen nach Absatz 1 Unterabsatz 1 ausgehend von folgenden allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenverhütung um:

a) Vermeidung von Risiken;

b) Abschätzung nicht vermeidbarer Risiken;

c) Gefahrenbekämpfung an der Quelle;

(3) Unbeschadet der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie hat der Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebs folgende Verpflichtungen:

a) Beurteilung von Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, unter anderem bei der Auswahl von Arbeitsmitteln, chemischen Stoffen oder Zubereitungen und bei der Gestaltung der Arbeitsplätze.

Die vom Arbeitgeber aufgrund dieser Beurteilung getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenverhütung sowie die von ihm angewendeten Arbeits- und Produktionsverfahren müssen erforderlichenfalls

– einen höheren Grad an Sicherheit und einen besseren Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleisten;

– in alle Tätigkeiten des Unternehmens bzw. des Betriebes und auf allen Führungsebenen einbezogen werden;

…“

Richtlinie 2003/88

Art. 1 der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie

b) bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

…“

Art. 2 der Richtlinie 2003/88 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

1. Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

2. Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit;

…“

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.“

Deutsches Recht

Die Verordnung über die Organisation, Mindeststärke und Ausrüstung der öffentlichen Feuerwehren vom 17. Dezember 2003 (GVBl., S. 693) bestimmt in ihrer Anlage u. a.:

„Die Ausrüstung der Stufe 2 einschließlich des dafür notwendigen Personals ist in der Regel innerhalb von 20 Minuten nach der Alarmierung am Einsatzort einzusetzen …“

Nach der Einsatzdienstverfügung der Feuerwehr Offenbach in der Fassung vom 18. Juni 2018 hat der Beamte, der den Dienst „Beamter vom Einsatzleitdienst“ (im Folgenden: BvE‑Dienst) leistet, sofort unter Inanspruchnahme von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung und von Wegerechten zur Einsatzstelle auszurücken.

Zu den Verpflichtungen des Beamten während des BvE‑Dienstes heißt es auf S. 6 der Einsatzdienstverfügung:

„Der Beamte vom Einsatzleiterdienst versieht seinen Dienst in Rufbereitschaft und hat seinen Aufenthalt während der Ausübung des Dienstes so zu wählen, dass er die Eingreifzeit von 20 Minuten einhält. Diese Regel gilt als eingehalten, wenn er von seinem Aufenthaltsort bis zur Stadtgrenze der Stadt Offenbach am Main eine Fahrzeit unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten von 20 Minuten einhält. Diese Zeit gilt bei mittlerer Verkehrsdichte und normalen Straßen- und Witterungsverhältnissen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

RJ ist Beamter und als Gruppenleiter bei der Feuerwehr der Stadt Offenbach am Main tätig. Neben seinem regulären Dienst muss er nach den für die Feuerwehr Offenbach geltenden Rechtsvorschriften regelmäßig BvE‑Dienst leisten.

Während des BvE‑Dienstes muss RJ ständig erreichbar sein und seine Einsatzkleidung sowie ein ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Einsatzfahrzeug mit sich führen. Er muss eingehende Anrufe entgegennehmen, durch die er über Ereignisse informiert wird und zu denen er Entscheidungen zu treffen hat. In bestimmten Fällen muss er zur Einsatzstelle oder zu seiner Dienststelle ausrücken. Während des BvE‑Dienstes hat RJ seinen Aufenthaltsort so zu wählen, dass er im Fall der Alarmierung in Einsatzkleidung und mit dem Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung und von Wegerechten innerhalb von 20 Minuten die Stadtgrenze von Offenbach am Main erreicht.

Unter der Woche dauert der BvE‑Dienst von 17 Uhr bis 7 Uhr des folgenden Tages. Am Wochenende erstreckt er sich von Freitag 17 Uhr bis Montag 7 Uhr. Ein BvE‑Dienst am Wochenende kann sich an eine 42-Stunden-Woche im Tagdienst anschließen. Im Durchschnitt leistet RJ an 10 bis 15 Wochenenden pro Jahr BvE‑Dienste. In der Zeit vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2015 leistete er insgesamt 126 BvE‑Dienste. Dabei kam es zu 20 Alarmierungen bzw. Einsätzen. Im Dreijahresmittel gab es somit pro Jahr 6,67 Alarmierungen, während RJ BvE‑Dienste leistete.

RJ beantragte, den BvE‑Dienst als Arbeitszeit anzuerkennen und ihm die entsprechende Vergütung zu zahlen. Mit Bescheid vom 6. August 2014 lehnte seine Arbeitgeberin diesen Antrag ab.

Am 31. Juli 2015 erhob RJ beim vorlegenden Gericht Klage und machte geltend, Bereitschaftszeiten könnten, auch wenn sie in Form von Rufbereitschaft geleistet würden und der Arbeitnehmer sich somit nicht an einem vom Arbeitgeber vorgegebenen Ort aufhalten müsse, als Arbeitszeit angesehen werden, sofern der Arbeitnehmer durch seinen Arbeitgeber gezwungen werde, die Arbeit binnen einer sehr kurzen Frist aufzunehmen. RJ machte insbesondere geltend, der BvE‑Dienst stelle eine ganz erhebliche Einschränkung seiner Freizeit dar, da er sich im Alarmfall sofort von seinem Wohnort nach Offenbach am Main begeben müsse, um die für ihn geltende Frist von 20 Minuten einzuhalten.

Das vorlegende Gericht führt aus, Tätigkeiten, die von den Einsatzkräften einer staatlichen Feuerwehr ausgeübt würden, fielen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88. Fragen in Bezug auf die Vergütung von Bereitschaftsdiensten seien hingegen nicht vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie erfasst, doch sei die Qualifizierung des BvE‑Dienstes als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidungserheblich.

Nach deutschem Recht könne die Arbeitgeberin von RJ nämlich nur dann in der von RJ beantragten Weise zur Vergütung des BvE‑Dienstes verurteilt werden, wenn er über die nach der Richtlinie 2003/88 zulässige wöchentliche Höchstarbeitszeit hinaus gearbeitet habe. Im Übrigen betreffe speziell der Antrag von RJ auf Feststellung, dass der BvE‑Dienst Arbeitszeit sei, keine etwaige Vergütung für diesen Dienst, sondern solle gewährleisten, dass RJ künftig nicht mehr über die unionsrechtlich höchstzulässige Arbeitszeit hinaus zum Dienst herangezogen werde.

Bislang habe der Gerichtshof entschieden, dass Bereitschaftsdienst nur dann der Arbeitszeit gleichgestellt werden könne, wenn sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber vorgegebenen Ort aufhalten und ihm zur Verfügung stehen müsse, um erforderlichenfalls sofort die geeigneten Leistungen erbringen zu können. Im Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak (C‑518/15, EU:C:2018:82), habe der Gerichtshof jedoch festgestellt, dass auch Bereitschaftszeiten, die ein Arbeitnehmer zu Hause verbringe, als Arbeitszeit zu qualifizieren seien. Dabei habe er sich zum einen darauf gestützt, dass der Arbeitnehmer verpflichtet sei, an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend zu sein, und zum anderen auf die Einschränkungen der Möglichkeit des Arbeitnehmers, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen, die aus dem Erfordernis resultierten, sich innerhalb von acht Minuten am Arbeitsplatz einzufinden.

Dieses Urteil schließe nicht aus, dass auch in Form von Rufbereitschaft geleistete Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit anzusehen seien, d. h. Zeiten, in denen der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zwar keinen bestimmten Aufenthaltsort vorschreibe, aber die freie Ortswahl und die Freizeitgestaltung des Arbeitnehmers erheblich eingeschränkt seien.

Insbesondere stelle ein Ausschluss in Form von Rufbereitschaft geleisteter Bereitschaftszeiten vom Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88, der allein darauf beruhe, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nicht genau vorgegeben habe, wo er persönlich anwesend sein müsse, eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber der Situation dar, in der der Arbeitgeber einen solchen Ort festgelegt habe. Die dem Arbeitnehmer auferlegte Verpflichtung, innerhalb einer kurzen Frist einen bestimmten Ort zu erreichen, könne sich nämlich gleichermaßen einschränkend auf seine Freizeitgestaltung auswirken und laufe darauf hinaus, ihm seinen Aufenthaltsort mittelbar vorzugeben, wodurch er in seinen Möglichkeiten, seinen persönlichen Beschäftigungen nachzugehen, erheblich eingeschränkt sei.

Schließlich habe das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) zur Klärung der Frage, ob Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit anzusehen sei, entscheidend auf die Häufigkeit abgestellt, mit der ein Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten mit einer dienstlichen Inanspruchnahme rechnen müsse. Würden die Bereitschaftszeiten nur sporadisch von Einsätzen unterbrochen, handele es sich nicht um „Arbeitszeit“.

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeiten, während deren ein Arbeitnehmer der Verpflichtung unterliegt, in Einsatzkleidung mit dem Einsatzfahrzeug innerhalb von 20 Minuten die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, als Arbeitszeit anzusehen sind, obwohl der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keinen Aufenthaltsort vorgegeben hat, aber der Arbeitnehmer gleichwohl in der Ortswahl und in den Möglichkeiten, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen, erheblich eingeschränkt ist?

2. Für den Fall der Bejahung der ersten Vorlagefrage: Ist Art. 2 der Richtlinie 2003/88 in einer Konstellation wie derjenigen der ersten Vorlagefrage dahin auszulegen, dass bei der Definition des Begriffs Arbeitszeit auch zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit während eines Bereitschaftsdienstes, der an einem vom Arbeitgeber nicht vorgegebenen Ort zu verbringen ist, regelmäßig mit einer dienstlichen Inanspruchnahme zu rechnen ist?

 

Zu den Vorlagefragen

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass Bereitschaftszeit, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, „Arbeitszeit“ im Sinne dieses Artikels darstellt, und ob im Rahmen einer solchen Beurteilung zu berücksichtigen ist, wie oft er während der Bereitschaftszeit im Durchschnitt tatsächlich zu Einsätzen gerufen wird.

Aus der Vorlageentscheidung und den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich insbesondere, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens zu etwa 40 Bereitschaftszeiten pro Jahr herangezogen wird, und zwar unter der Woche nachts und am Wochenende. Die Bereitschaftszeiten werden in Form von Rufbereitschaft geleistet; dies bedeutet, dass er nicht persönlich an seinem Arbeitsplatz anwesend sein muss. Während der Bereitschaftszeiten muss RJ jederzeit seine Einsatzkleidung bereithalten und sein Einsatzfahrzeug mit sich führen, eingehende Anrufe sofort entgegennehmen können und in der Lage sein, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung und mit seinem Dienstfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonder- und Wegerechte die Grenze der Stadt Offenbach am Main zu erreichen. Diese Fahrzeit gilt bei mittlerer Verkehrsdichte und normalen Straßen- und Witterungsverhältnissen.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass letztlich das vorlegende Gericht zu prüfen hat, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeiten des Bereitschaftsdienstes in Form von Rufbereitschaft für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 als „Arbeitszeit“ einzustufen sind; es ist jedoch Sache des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht Hinweise zu den bei dieser Prüfung zu berücksichtigenden Kriterien zu geben (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 23 und 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach dieser Vorbemerkung ist erstens darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden sollen, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Diese Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung auf der Ebene der Europäischen Union bezweckt, durch die Gewährung von – u. a. täglichen und wöchentlichen – Mindestruhezeiten und angemessenen Ruhepausen sowie durch die Festlegung einer Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit einen besseren Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Die verschiedenen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 über die Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeiten sind somit besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union, die jedem Arbeitnehmer zugutekommen müssen und deren Einhaltung Erwägungen rein wirtschaftlicher Art nicht untergeordnet werden darf (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Darüber hinaus konkretisiert die Richtlinie 2003/88 dadurch, dass jedem Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten zuerkannt wird, das ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundrecht und ist daher im Licht von Art. 31 Abs. 2 auszulegen. Daraus folgt insbesondere, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 nicht zuungunsten der Rechte, die sie dem Arbeitnehmer gewährt, restriktiv ausgelegt werden dürfen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zweitens ist festzustellen, dass der Begriff „Arbeitszeit“ in Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 definiert wird als jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Nach Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie bezeichnet der Begriff „Ruhezeit“ jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit.

Daraus folgt, dass diese beiden Begriffe, die in der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 1993, L 307, S. 18), an deren Stelle die Richtlinie 2003/88 getreten ist, in gleicher Weise definiert wurden, einander ausschließen. Die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers ist daher für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen, da die Richtlinie keine Zwischenkategorie vorsieht (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Außerdem sind die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ unionsrechtliche Begriffe, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie 2003/88 zu bestimmen sind. Denn nur eine solche autonome Auslegung vermag die volle Wirksamkeit der Richtlinie und eine einheitliche Anwendung dieser Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherzustellen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Daher dürfen die Mitgliedstaaten trotz der Bezugnahme auf die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“ in Art. 2 der Richtlinie 2003/88 den Inhalt der Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ nicht unilateral festlegen, indem sie den Anspruch auf ordnungsgemäße Berücksichtigung der Arbeitszeiten und dementsprechend der Ruhezeiten, der den Arbeitnehmern durch diese Richtlinie unmittelbar zuerkannt wird, irgendwelchen Bedingungen oder Beschränkungen unterwerfen. Jede andere Auslegung würde der Richtlinie 2003/88 ihre praktische Wirksamkeit nehmen und ihrer Zielsetzung zuwiderlaufen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Drittens ergibt sich speziell in Bezug auf Bereitschaftszeiten aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Zeitspanne, in der ein Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeit für seinen Arbeitgeber ausübt, nicht zwangsläufig eine „Ruhezeit“ für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 darstellt.

So hat der Gerichtshof zum einen in Bezug auf Bereitschaftszeiten an Arbeitsplätzen, die sich nicht in der Wohnung des Arbeitnehmers befanden, festgestellt, dass es für das Vorliegen der charakteristischen Merkmale des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer persönlich an dem vom Arbeitgeber bestimmten Ort anwesend sein und ihm zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Oktober 2000, Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn. 48, vom 9. September 2003, Jaeger, C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 63, sowie vom 1. Dezember 2005, Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 48).

Insoweit ist klarzustellen, dass unter dem Arbeitsplatz jeder Ort zu verstehen ist, an dem der Arbeitnehmer nach Weisung seines Arbeitgebers eine Tätigkeit auszuüben hat, auch wenn es sich nicht um den Ort handelt, an dem er seine berufliche Tätigkeit gewöhnlich ausübt.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich der Arbeitnehmer, der während einer solchen Bereitschaftszeit verpflichtet ist, zur sofortigen Verfügung seines Arbeitgebers an seinem Arbeitsplatz zu bleiben, außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss und weniger frei über die Zeit verfügen kann, in der er nicht in Anspruch genommen wird. Folglich ist dieser gesamte Zeitraum, unabhängig von den Arbeitsleistungen, die der Arbeitnehmer darin tatsächlich erbringt, als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. September 2003, Jaeger, C‑151/02, EU:C:2003:437, Rn. 65, vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 93, und vom 1. Dezember 2005, Dellas u. a., C‑14/04, EU:C:2005:728, Rn. 46 und 58).

Zum anderen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, auch wenn der Arbeitnehmer während dieser Zeit nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, gleichwohl insgesamt als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen ist, sofern sie sich angesichts der objektiv vorhandenen und ganz erheblichen Auswirkungen der dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen auf seine Möglichkeiten, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen, von einem Zeitraum unterscheidet, in dem der Arbeitnehmer lediglich für seinen Arbeitgeber erreichbar sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2018, Matzak, C‑518/15, EU:C:2018:82, Rn. 63 bis 66).

Wie sich sowohl aus den in den Rn. 34 bis 37 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkten als auch aus dem in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Erfordernis, Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte auszulegen, ergibt, fallen unter den Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 sämtliche Bereitschaftszeiten einschließlich Rufbereitschaften, während deren dem Arbeitnehmer Einschränkungen von solcher Art auferlegt werden, dass sie seine Möglichkeit, während der Bereitschaftszeiten die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.

Umgekehrt stellt, wenn die dem Arbeitnehmer während einer bestimmten Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen keinen solchen Intensitätsgrad erreichen und es ihm erlauben, über seine Zeit zu verfügen und sich ohne größere Einschränkungen seinen eigenen Interessen zu widmen, nur die Zeit, die auf die gegebenenfalls während eines solchen Zeitraums tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung entfällt, „Arbeitszeit“ für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 dar (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insoweit ist noch klarzustellen, dass bei der Beurteilung, ob Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden können, die dem Arbeitnehmer, sei es durch Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber, insbesondere aufgrund des Arbeitsvertrags, der Arbeitsordnung oder des Bereitschaftsdienstplans, auferlegt werden (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 39).

Organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit für den Arbeitnehmer mit sich bringen kann und die sich nicht aus solchen Einschränkungen ergeben, sondern z. B. die Folge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers sind, können dagegen nicht berücksichtigt werden (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 40).

So stellt insbesondere die große Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen kein relevantes Kriterium für die Einstufung dieser gesamten Zeitspanne als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dar; dies gilt zumindest dann, wenn dieser Ort sein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist. In einem solchen Fall war der Arbeitnehmer nämlich uneingeschränkt in der Lage, die Entfernung zwischen dem fraglichen Ort und seinem Wohnort einzuschätzen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Überdies reicht, wenn der Arbeitsplatz die Wohnung des Arbeitnehmers einschließt oder mit ihr identisch ist, der bloße Umstand, dass der Arbeitnehmer während einer vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem Arbeitgeber erforderlichenfalls zur Verfügung stehen zu können, nicht aus, um diesen Zeitraum als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Kann wegen des Fehlens einer Verpflichtung, am Arbeitsplatz zu bleiben, eine Bereitschaftszeit nicht automatisch als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 eingestuft werden, haben die nationalen Gerichte noch zu prüfen, ob sich eine solche Einstufung nicht doch aus den Konsequenzen ergibt, die die gesamten dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen für seine Möglichkeit haben, während der Bereitschaftszeit die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen.

Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, über wieviel Zeit der Arbeitnehmer während seines Bereitschaftsdienstes verfügt, um seine beruflichen Tätigkeiten ab dem Zeitpunkt der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber aufzunehmen, gegebenenfalls in Verbindung mit der durchschnittlichen Häufigkeit der Einsätze, zu denen der Arbeitnehmer während dieses Zeitraums tatsächlich herangezogen wird (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 46).

Erstens müssen somit, wie der Generalanwalt in den Nrn. 89 bis 91 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die nationalen Gerichte die Konsequenzen berücksichtigen, die sich aus der Kürze der Frist, innerhalb deren der Arbeitnehmer im Einsatzfall die Arbeit aufzunehmen hat, wozu er sich in der Regel an seinen Arbeitsplatz begeben muss, für seine Möglichkeit ergeben, seine Zeit frei zu gestalten.

Insoweit ist hervorzuheben, dass eine Bereitschaftszeit, in der ein Arbeitnehmer in Anbetracht der ihm eingeräumten sachgerechten Frist für die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeiten seine persönlichen und sozialen Aktivitäten planen kann, a priori keine „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist. Umgekehrt ist eine Bereitschaftszeit, in der die dem Arbeitnehmer auferlegte Frist für die Aufnahme seiner Arbeit nur wenige Minuten beträgt, grundsätzlich in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie anzusehen, da der Arbeitnehmer in diesem Fall in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 48).

Gleichwohl ist die Auswirkung einer solchen Reaktionsfrist im Anschluss an eine konkrete Würdigung zu beurteilen, bei der gegebenenfalls die übrigen dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen sowie die ihm während seiner Bereitschaftszeit gewährten Erleichterungen zu berücksichtigen sind (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 49).

Bei den Einschränkungen im Zusammenhang mit dieser Reaktionsfrist ist u. a. von Bedeutung, dass der Arbeitnehmer in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, weil er wegen der möglichen Inanspruchnahme durch seinen Arbeitgeber zu Hause bleiben muss, oder dass er eine spezielle Ausrüstung mitführen muss, wenn er sich nach einem Anruf an seinem Arbeitsplatz einzufinden hat. Desgleichen ist im Rahmen der dem Arbeitnehmer gewährten Erleichterungen von Bedeutung, ob ihm ein Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt wird, mit dem Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte in Anspruch genommen werden können, oder ob er die Möglichkeit hat, der Inanspruchnahme durch seinen Arbeitgeber ohne Ortsveränderung nachzukommen.

Zweitens muss neben der Frist, über die der Arbeitnehmer verfügt, um seine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, von den nationalen Gerichten berücksichtigt werden, wie oft er im Durchschnitt während seiner Bereitschaftszeiten normalerweise tatsächlich Leistungen zu erbringen hat, wenn insoweit eine objektive Schätzung möglich ist (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 51).

Ein Arbeitnehmer, der während einer Bereitschaftszeit im Durchschnitt zahlreiche Einsätze zu leisten hat, verfügt nämlich über einen geringeren Spielraum, um seine Zeit während der Perioden der Inaktivität frei zu gestalten, weil diese häufig unterbrochen werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Einsätze, die dem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeit normalerweise abverlangt werden, von nicht unerheblicher Dauer sind (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 52).

Folglich handelt es sich, wenn der Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt häufig zur Erbringung von Leistungen herangezogen wird und diese Leistungen in der Regel nicht von kurzer Dauer sind, bei den Bereitschaftszeiten grundsätzlich insgesamt um „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 53).

Der Umstand, dass der Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt nur selten in Anspruch genommen wird, kann jedoch nicht dazu führen, dass sie als „Ruhezeiten“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2003/88 anzusehen sind, wenn die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist hinreichende Auswirkungen hat, um seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen ganz erheblich einzuschränken (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 54).

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass RJ nach den Angaben in der Vorlageentscheidung während der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft seinen Aufenthaltsort frei wählen kann, aber in der Lage sein muss, in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung und von Wegerechten innerhalb von 20 Minuten die Stadtgrenze von Offenbach am Main zu erreichen. Wie in Rn. 13 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ergibt sich aus der Vorlageentscheidung nicht, dass es während dieser Bereitschaftszeiten im Durchschnitt häufig zu Einsätzen des Arbeitnehmers gekommen wäre. Ferner ist für sich genommen nicht relevant, ob der Wohnort von RJ weit von der Stadtgrenze von Offenbach am Main, seinem gewöhnlichen Arbeitsort, entfernt ist.

Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob RJ während seiner Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft so großen Einschränkungen unterworfen ist, dass sie seine Möglichkeit, die Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.

Viertens ist darauf hinzuweisen, dass sich die Richtlinie 2003/88 mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 Abs. 1 geregelten Sonderfalls des bezahlten Jahresurlaubs darauf beschränkt, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, so dass sie grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer findet (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 57).

Die Art und Weise der Vergütung von Arbeitnehmern für Bereitschaftszeiten unterliegt somit nicht der Richtlinie 2003/88, sondern den einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts. Die Richtlinie steht daher der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des Arbeitgebers nicht entgegen, wonach bei der Vergütung eines Bereitschaftsdienstes Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten insgesamt als „Arbeitszeit“ für die Zwecke der Anwendung dieser Richtlinie anzusehen sind (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Ebenso wenig steht die Richtlinie 2003/88 Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Entscheidungen des Arbeitgebers entgegen, wonach im Fall von Bereitschaftszeiten, die für die Zwecke der Anwendung dieser Richtlinie in vollem Umfang nicht unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen, gleichwohl vorgesehen ist, dass der betreffende Arbeitnehmer zum Ausgleich der Unannehmlichkeiten, die ihm durch die Bereitschaftszeiten bei der Gestaltung seiner Zeit und der Verfolgung seiner privaten Interessen entstehen, einen bestimmten Betrag erhält (Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 59).

Fünftens schließlich ergibt sich aus Rn. 30 des vorliegenden Urteils, dass Bereitschaftszeiten, die die Voraussetzungen für eine Einstufung als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 nicht erfüllen, als „Ruhezeiten“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie anzusehen und als solche in die Berechnung der in ihren Art. 3 und 5 vorgesehenen täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten einzubeziehen sind, mit Ausnahme der Zeit, die auf die während solcher Zeiträume tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung entfällt.

Festzustellen ist allerdings, dass die Einstufung von Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 die besonderen Pflichten unberührt lässt, die den Arbeitgebern nach den Art. 5 und 6 der Richtlinie 89/391 in Bezug auf die Sicherheit und den Gesundheitsschutz ihrer Arbeitnehmer obliegen. Folglich dürfen die Arbeitgeber keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig sind, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit des Arbeitnehmers darstellen, unabhängig davon, ob sie als „Ruhezeiten“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem innerstaatlichen Recht die Modalitäten für die Umsetzung dieser Verpflichtung festzulegen (vgl. insoweit Urteil vom heutigen Tag, Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, Rn. 61 bis 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeit, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.

 

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, während der ein Arbeitnehmer in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit dem ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der für dieses Fahrzeug geltenden Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte die Stadtgrenze seiner Dienststelle zu erreichen, nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn eine Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls, zu denen die Folgen einer solchen Zeitvorgabe und gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit gehören, ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie seine Möglichkeiten, dann die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.



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