Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-631/22

Arbeitgeber muss bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit den Arbeitnehmer an einen geeigneten Arbeitsplatz umsetzen

Das Europäische Gerichtshof hat in seinem jüngsten Urteil entschieden, dass eine Regelung, die es dem Arbeitgeber erlaubt, das Arbeitsverhältnis aufgrund einer anerkannten dauerhaften Arbeitsunfähigkeit nach einem Arbeitsunfall zu beenden, gegen das Unionsrecht verstößt. Dabei stützt sich die Entscheidung auf die Richtlinie 2000/78, die das allgemeine Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union konkretisiert. Der EuGH berücksichtigte auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (VN-Übereinkommen) zur Auslegung der Richtlinie 2000/78, da sie im Einklang mit dem Übereinkommen ausgelegt werden sollte. Der Begriff der "Diskriminierung aufgrund von Behinderung" gemäß Artikel 2 Absatz 3 des VN-Übereinkommens umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen. Dazu gehört auch die Verpflichtung des Arbeitgebers, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Folglich ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, den betroffenen Arbeitnehmer vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses an einen geeigneten Arbeitsplatz umzusetzen. Dies gilt jedoch nur, wenn der betroffene Arbeitnehmer über die erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit verfügt, die Umsetzung für den Arbeitgeber angemessen erscheint und zumindest eine entsprechende freie Stelle vorhanden ist. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere der finanzielle Aufwand, die Größe und die finanziellen Ressourcen der Organisation oder des Unternehmens sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) im Licht der Art. 21 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 2 und 27 des durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden: VN-Übereinkommen).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen J.M.A.R. und der Ca Na Negreta SA wegen der Beendigung des Arbeitsvertrags von J.M.A.R. durch Ca Na Negreta wegen seiner dauerhaften vollständigen Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

In Buchst. e der Präambel des VN-Übereinkommens heißt es:

„in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“.

Art. 1 („Zweck“) dieses Übereinkommens lautet:

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) des VN-Übereinkommens sieht vor:

„Im Sinne dieses Übereinkommens

bedeutet ‚Diskriminierung aufgrund von Behinderung‘ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen;

bedeutet ‚angemessene Vorkehrungen‘ notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können;

…“

Art. 27 („Arbeit und Beschäftigung“) Abs. 1 des Übereinkommens bestimmt:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem

h)      die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern, wozu auch Programme für positive Maßnahmen, Anreize und andere Maßnahmen gehören können;

i)      sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden;

k)      Programme für die berufliche Rehabilitation, den Erhalt des Arbeitsplatzes und den beruflichen Wiedereinstieg von Menschen mit Behinderungen zu fördern.“

Unionsrecht

Die Erwägungsgründe 16, 17, 20 und 21 der Richtlinie 2000/78 lauten:

„(16)      Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung.

(17)      Mit dieser Richtlinie wird unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht die Einstellung, der berufliche Aufstieg, die Weiterbeschäftigung oder die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes oder zur Absolvierung einer bestimmten Ausbildung nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.

(20)      Es sollten geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, d. h. wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen.

(21)      Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.“

Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.

(2)      Im Sinne des Absatzes 1

a)      liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

b)      liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:

i)      diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder

ii)      der Arbeitgeber oder jede Person oder Organisation, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, ist im Falle von Personen mit einer bestimmten Behinderung aufgrund des einzelstaatlichen Rechts verpflichtet, geeignete Maßnahmen entsprechend den in Artikel 5 enthaltenen Grundsätzen vorzusehen, um die sich durch diese Vorschrift, dieses Kriterium oder dieses Verfahren ergebenden Nachteile zu beseitigen.“

Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf

a)      die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs;

c)      die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;

…“

Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“

Art. 5 („Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“) der Richtlinie lautet:

„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaats ausreichend kompensiert wird.“

Spanisches Recht

Arbeitnehmerstatut

Art. 49 Abs. 1 des Estatuto de los Trabajadores (Arbeitnehmerstatut) in der durch das Real Decreto Legislativo 2/2015, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 2/2015 zur Billigung der Neufassung des Arbeitnehmerstatuts) vom 23. Oktober 2015 (BOE Nr. 255 vom 24. Oktober 2015, S. 100224) gebilligten Neufassung (im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) sieht vor:

„Der Arbeitsvertrag endet

e)      unbeschadet der Regelung in Art. 48 Abs. 2 durch Tod, hochgradige Invalidität oder dauerhafte vollständige oder absolute Berufsunfähigkeit des Arbeitnehmers.

…“

LGSS

Art. 193 der Ley General de la Seguridad Social (Allgemeines Gesetz über die soziale Sicherheit) in der durch das Real Decreto Legislativo 8/2015 (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 8/2015) vom 30. Oktober 2015 (BOE Nr. 261 vom 31. Oktober 2015, S. 103291, berichtigt im BOE Nr. 36 vom 11. Februar 2016, S. 10898) gebilligten konsolidierten Fassung (im Folgenden: LGSS) sieht vor:

„Eine dauerhafte Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer von objektiv feststellbaren und vorhersehbar dauerhaften schwerwiegenden anatomischen oder funktionalen Einschränkungen betroffen ist, die seine Arbeitsfähigkeit mindern oder aufheben. Dieser Einstufung steht nicht entgegen, dass der Betroffene seine Arbeitsfähigkeit wiedererlangen könnte, wenn diese Möglichkeit medizinisch als unsicher oder langfristig angesehen wird.

…“

Art. 194 LGSS sieht vor:

„(1)      Die dauerhafte Berufsunfähigkeit, gleichviel aus welchem Grund sie besteht, wird nach dem Prozentsatz der Verminderung der Arbeitsfähigkeit, der anhand einer durch Verordnung festzulegenden Liste von Krankheiten zu bestimmen ist, in folgende Grade unterteilt:

a)      dauerhafte teilweise Berufsunfähigkeit;

b)      dauerhafte vollständige Berufsunfähigkeit;

c)      dauerhafte absolute Berufsunfähigkeit;

d)      hochgradige Invalidität.

(2)      Die Einstufung der dauerhaften Berufsunfähigkeit in ihre verschiedenen Grade erfolgt nach dem per Verordnung festgelegten Prozentsatz der Minderung der Arbeitsfähigkeit.

Bei der Bestimmung des Grades der Berufsunfähigkeit wird berücksichtigt, wie sich die Minderung der Arbeitsfähigkeit auf die Ausübung des Berufs, den der Betroffene vor dem Eintritt der dauerhaften Berufsunfähigkeit ausgeübt hat, oder auf die Berufsgruppe, der dieser Beruf angehörte, auswirkt.“

Art. 196 Abs. 2 Unterabs. 3 LGSS sieht vor:

„Die Höhe der Rente wegen dauerhafter vollständiger Berufsunfähigkeit infolge einer allgemeinen Krankheit darf 55 % der jeweils gültigen jährlichen Mindestbemessungsgrundlage für Personen über 18 Jahre nicht unterschreiten.“

Allgemeines Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderung

Art. 2 („Definitionen“) Buchst. m der Ley General de derechos de las personas con discapacidad y de su inclusión social (Allgemeines Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihre soziale Integration) in ihrer mit dem Real Decreto Legislativo 1/2013 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley General de derechos de las personas con discapacidad y de su inclusión social (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 1/2013 zur Billigung der Neufassung des allgemeinen Gesetzes über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihre soziale Integration) vom 29. November 2013 (BOE Nr. 289 vom 3. Dezember 2013, S. 95635) gebilligten Neufassung (im Folgenden: Allgemeines Gesetz über die Rechte von Menschen mit Behinderung) sieht vor:

„Angemessene Vorkehrungen: notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen des physischen und sozialen Umfelds und der Haltung an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, soweit diese Anpassungen keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und, wenn sie in einem konkreten Fall als wirksame und praktikable Maßnahmen erforderlich sind, vorgenommen werden, um Menschen mit Behinderung Zugang und Teilhabe zu ermöglichen und zu gewährleisten, dass diese alle Rechte gleichberechtigt mit anderen genießen oder ausüben können“.

Art. 4 („Inhaber der Rechte“) dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die voraussichtlich dauerhafte körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

(2)      Neben den im vorstehenden Absatz genannten Personen haben Personen, denen ein Berufsunfähigkeitsgrad von 33 % oder mehr zuerkannt wurde, in jeder Hinsicht den Status von Menschen mit Behinderungen. Bei sozialversicherten Personen, die eine monatliche Entschädigung wegen dauerhafter vollständiger oder absoluter Berufsunfähigkeit oder hochgradiger Invalidität beziehen, wird von einem Grad der dauerhaften Berufsunfähigkeit von mindestens 33 % ausgegangen. …

…“

Art. 40 („Erlass von Maßnahmen zur Verhinderung oder zum Ausgleich durch die Behinderung bedingter Nachteile als Gewährleistung der vollständigen Gleichstellung im Arbeitsleben“) des Gesetzes bestimmt:

„(1)      Um die vollständige Gleichstellung im Arbeitsleben zu gewährleisten, steht der Grundsatz der Gleichbehandlung der Aufrechterhaltung oder dem Erlass spezifischer Maßnahmen zur Verhinderung oder zum Ausgleich durch die oder wegen der Behinderung eingetretener Nachteile nicht entgegen.

(2)      Die Arbeitgeber sind verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Arbeitsplatz und die Zugänglichkeit des Unternehmens den Erfordernissen jeder konkreten Situation anzupassen, damit Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung erhalten, ihre Arbeit erledigen, beruflich vorankommen und Zugang zur Fortbildung erhalten können, es sei denn, diese Maßnahmen stellen für den Arbeitgeber eine unverhältnismäßige Belastung dar.

Bei der Feststellung, ob eine Belastung unverhältnismäßig ist, ist zu berücksichtigen, ob sie durch öffentliche Maßnahmen, Beihilfen oder Zuschüsse für Menschen mit Behinderung in ausreichendem Maß erleichtert wird; zu berücksichtigen sind auch die mit den Maßnahmen verbundenen finanziellen und sonstigen Kosten sowie Größe und Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens.“

Art. 63 („Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit“) dieses Gesetzes lautet:

„Das Recht auf Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 gilt als verletzt, wenn eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung, eine Mitdiskriminierung, Belästigung, Nichteinhaltung der Anforderungen in Bezug auf Zugänglichkeit und angemessene Vorkehrungen und Nichteinhaltung gesetzlich vorgesehener positiver Maßnahmen aufgrund oder wegen einer Behinderung vorliegt.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

J.M.A.R. war seit Oktober 2012 in Vollzeit bei Ca Na Negreta als Fahrer für die Abfuhr von Hausmüll beschäftigt. Im Dezember 2016 erlitt er einen Arbeitsunfall, der zu einem offenen Bruch seines rechten Fersenbeins führte.

Infolge dieses Arbeitsunfalls war J.M.A.R. vorübergehend arbeitsunfähig. Am 18. Februar 2018 entschied das Instituto Nacional de la Seguridad Social (Nationales Institut für soziale Sicherheit, Spanien) (im Folgenden: INSS), diese vorübergehende Arbeitsunfähigkeit zu beenden und ihm eine pauschale Entschädigung in Höhe von 3 120 Euro wegen bleibender Schäden zu gewähren. Mit dieser Entscheidung lehnte es das INSS jedoch ab, eine dauerhafte Berufsunfähigkeit von J.M.A.R. im Sinne von Art. 193 LGSS anzuerkennen.

Am 6. August 2018 beantragte J.M.A.R. bei Ca Na Negreta den Wechsel auf einen den Folgen seines Arbeitsunfalls angepassten Arbeitsplatz. Ca Na Negreta gab diesem Antrag statt, und J.M.A.R. wechselte von der Vollzeitstelle als Fahrer von Lastkraftwagen auf eine Stelle als Fahrer im Bereich mobile Sammelstellen, die körperlich weniger anstrengend, mit reduzierten Fahrzeiten verbunden und mit seinen körperlichen Einschränkungen vereinbar war.

J.M.A.R. erhob gegen die Entscheidung, mit der das INSS die Anerkennung einer dauerhaften Berufsunfähigkeit abgelehnt hatte, Klage beim zuständigen Gericht, das J.M.A.R. mit Urteil vom 2. März 2020 eine dauerhafte vollständige Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs im Sinne von Art. 194 LGSS zuerkannte. In diesem Urteil hieß es u. a., dass „unabhängig davon, dass der Arbeitnehmer vom Unternehmen umgesetzt wurde und derzeit arbeiten kann, da er nur etwa 40 Minuten pro Tag fahren muss, der bleibende Zustand seines Knöchels und seines rechten Fußes ihn gleichwohl daran hindern würde, ständig zu fahren, wenn er dies, wie es sein gewöhnlicher Beruf als Lkw-Fahrer erfordert, in Vollzeit tun würde“. Mit diesem Urteil wurde J.M.A.R. zugleich ein Anspruch auf eine monatliche Entschädigung in Höhe von 55 % seines Tagesentgelts zuerkannt.

Am 13. März 2020 teilte Ca Na Negreta J.M.A.R. mit, dass sein Arbeitsvertrag gemäß Art. 49 Abs. 1 Buchst. e des Arbeitnehmerstatuts wegen dauerhafter vollständiger Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs beendet werde.

Der mit einer dagegen erhobenen Klage von J.M.A.R. befasste Juzgado de lo Social n° 1 de Ibiza (Arbeits- und Sozialgericht Nr. 1 Ibiza, Spanien) wies die Klage mit Urteil vom 24. Mai 2021 mit der Begründung ab, dass die Feststellung der dauerhaften vollständigen Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs die Beendigung seines Arbeitsvertrags rechtfertige, ohne dass der Arbeitgeber gesetzlich zu einer Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz innerhalb seines Unternehmens verpflichtet wäre.

J.M.A.R. legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal Superior de Justicia de las Islas Baleares (Obergericht der Baleareninseln, Spanien), Berufung ein.

Dieses Gericht stellt fest, dass im vorliegenden Fall der betreffende Arbeitnehmer unstreitig ein Mensch mit Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78 sei. Diese Feststellung werde jedenfalls durch Art. 4 Abs. 2 des Allgemeinen Gesetzes über die Rechte von Menschen mit Behinderung bestätigt, der Personen mit dauerhafter vollständiger Berufsunfähigkeit den Status von „Menschen mit Behinderungen“ zuerkenne.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach Art. 49 Abs. 1 Buchst. e des Arbeitnehmerstatuts, der seit dem 10. März 1980 nicht geändert und daher nicht angepasst worden sei, um der Richtlinie 2000/78 und dem VN-Übereinkommen Rechnung zu tragen, die Feststellung der dauerhaften vollständigen Unfähigkeit, den gewöhnlichen Beruf auszuüben, automatisch eine Beendigung des Arbeitsvertrags ermögliche, ohne dass Formalitäten einzuhalten wären oder eine andere als die monatliche Entschädigung gezahlt werden müsse, die im vorliegenden Fall 55 % des Gehalts des Arbeitnehmers entspreche. Außerdem sei diese Kündigung nicht von der Erfüllung einer vorherigen Verpflichtung in Bezug auf „angemessene Vorkehrungen“ abhängig, obwohl im vorliegenden Fall Ca Na Negreta selbst die Durchführbarkeit solcher Vorkehrungen belegt habe, da sie J.M.A.R. innerbetrieblich auf einen anderen Arbeitsplatz umgesetzt habe.

Das vorlegende Gericht führt insoweit das Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail (C‑485/20, EU:C:2022:85), an, aus dem hervorgehe, dass der Arbeitgeber verpflichtet sei, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.

Das vorlegende Gericht verweist ferner auf die Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), aus der sich ergebe, dass die dauerhafte vollständige Berufsunfähigkeit den Arbeitgeber zwar nicht verpflichte, den Arbeitnehmer zu entlassen, und insbesondere nicht dessen Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz im Unternehmen entgegenstehe, da die Berufsunfähigkeit nur seine Befähigung beeinträchtige, seine gewöhnlichen Aufgaben zu erfüllen, und ihn daher nicht daran hindere, andere Aufgaben wahrzunehmen; der Arbeitgeber sei jedoch nicht zu einer solchen Umsetzung verpflichtet, sofern sie nicht ausdrücklich in einem Tarifvertrag oder einem individuellen Vertrag vorgesehen sei.

Infolgedessen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung im Licht des Urteils vom 10. Februar 2022, HR Rail (C‑485/20, EU:C:2022:85), mit Art. 5 der Richtlinie 2000/78 vereinbar ist.

Das Tribunal Superior de Justicia de las Islas Baleares (Obergericht der Baleareninseln) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Erwägungsgründe 16, 17, 20 und 21 dieser Richtlinie, der Art. 21 und 26 der Charta und der Art. 2 und 27 des VN-Übereinkommens dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der die Behinderung des Arbeitnehmers (Feststellung der dauerhaften und vollständigen Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs ohne Aussicht auf Besserung) ein Grund für die automatische Beendigung eines Arbeitsvertrags ist, ohne dass vorausgesetzt wird, dass das Unternehmen, wie Art. 5 der Richtlinie verlangt, zuvor „angemessene Vorkehrungen“ treffen muss, um die Weiterbeschäftigung zu ermöglichen (oder nachweisen muss, dass es durch eine solche Verpflichtung unverhältnismäßig belastet würde)?

2.      Sind Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Erwägungsgründe 16, 17, 20 und 21 dieser Richtlinie, der Art. 21 und 26 der Charta und der Art. 2 und 27 des VN-Übereinkommens dahin auszulegen, dass die automatische Beendigung des Arbeitsvertrags eines Arbeitnehmers wegen Behinderung (Feststellung der dauerhaften und vollständigen Unfähigkeit zur Ausübung seines gewöhnlichen Berufs), ohne dass vorausgesetzt wird, dass das Unternehmen, wie Art. 5 der Richtlinie verlangt, zuvor „angemessene Vorkehrungen“ treffen muss, um die Weiterbeschäftigung zu ermöglichen (oder nachweisen muss, dass es durch eine solche Verpflichtung unverhältnismäßig belastet würde), eine unmittelbare Diskriminierung darstellt, auch wenn eine innerstaatliche Rechtsvorschrift diese Beendigung vorsieht?

 

Zu den Vorlagefragen

Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Art. 21 und 26 der Charta sowie der Art. 2 und 27 des VN-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag beenden kann, weil der Arbeitnehmer wegen einer im Laufe des Arbeitsverhältnisses eingetretenen Behinderung dauerhaft außerstande ist, die ihm aufgrund dieses Vertrags obliegenden Aufgaben zu erfüllen, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, zuvor angemessene Vorkehrungen zu treffen oder beizubehalten, um eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu ermöglichen, oder gegebenenfalls nachzuweisen, dass solche Vorkehrungen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würden.

Was die Anwendbarkeit der Richtlinie 2000/78 betrifft, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie so zu verstehen ist, dass er u. a. eine auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben unter Gleichstellung mit den übrigen Arbeitnehmern hindern können, zurückzuführende Einschränkung von Fähigkeiten erfasst (Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zum anderen gilt die Richtlinie 2000/78 nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Entlassung“ nach der Rechtsprechung u. a. die einseitige Beendigung jeder in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 genannten Erwerbstätigkeit erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, TP [Videoredakteur beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen], C‑356/21, EU:C:2023:9, Rn. 62). Somit ist dieser Begriff dahin auszulegen, dass er jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte, Beendigung des Arbeitsvertrags umfasst (vgl. entsprechend Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera, C‑422/14, EU:C:2015:743, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall ist zum einen unstreitig, dass die Berufsunfähigkeit des Klägers des Ausgangsverfahrens auf langfristige physische Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit einem Arbeitsunfall zurückzuführen ist. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts und der spanischen Regierung hindert diese Berufsunfähigkeit den betreffenden Arbeitnehmer zwar nicht daran, bei seinem Arbeitgeber oder einem anderen Unternehmen sonstige Aufgaben wahrzunehmen, doch werde ihm der Status eines „Menschen mit Behinderung“ im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie 2000/78, d. h. der Art. 4, 40 und 63 des Allgemeinen Gesetzes über die Rechte von Menschen mit Behinderung, zuerkannt. Die auf langfristige physische Beeinträchtigungen zurückzuführende Einschränkung der Fähigkeiten des Klägers des Ausgangsverfahrens scheint ihn an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindern zu können, so dass seine Situation unter den Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 und der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung fällt.

Zum anderen ist unstreitig, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung den Arbeitgeber berechtigt, den Arbeitsvertrag wegen der dauerhaften vollständigen Unfähigkeit des Arbeitnehmers, seinen gewöhnlichen Beruf im Unternehmen auszuüben, zu beenden. Der Umstand, dass der betreffende Arbeitnehmer die Anerkennung dieser dauerhaften vollständigen Berufsunfähigkeit beantragt hat und dass er wusste, dass diese Regelung seinem Arbeitgeber das Recht einräumte, seinen Arbeitsvertrag im Anschluss an die Anerkennung zu beenden, bedeutet insoweit nicht, dass er der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt hätte. Folglich fällt eine Beendigung nach dieser Regelung unter die „Entlassungsbedingungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78, da sie eine vom Arbeitnehmer nicht gewollte Beendigung des Arbeitsvertrags darstellt.

Folglich wird eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 erfasst.

Zur Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/78 in dem von ihr erfassten Bereich das allgemeine Diskriminierungsverbot konkretisiert, das in Art. 21 der Charta verankert ist, der jede Diskriminierung u. a. wegen einer Behinderung verbietet. Zudem sieht Art. 26 der Charta vor, dass die Europäische Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft anerkennt und achtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des VN-Übereinkommens zur Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 herangezogen werden können, damit Letztere so weit wie möglich in Einklang mit dem Übereinkommen ausgelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2021, Komisia za zashtita ot diskriminatsia, C‑824/19, EU:C:2021:862, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach Art. 2 Abs. 3 des VN-Übereinkommens bedeutet „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Dieser Begriff umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen.

Zu solchen Vorkehrungen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht ihrer Erwägungsgründe 20 und 21, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen, also wirksame und praktikable Maßnahmen, zu ergreifen. Dabei ist jeweils die individuelle Situation zu berücksichtigen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, ohne den Arbeitgeber unverhältnismäßig zu belasten (Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 37).

Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es im Rahmen angemessener Vorkehrungen im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 2000/78 eine geeignete Maßnahme darstellen kann, einen Arbeitnehmer, der wegen einer eingetretenen Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, wenn diese Maßnahme es dem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Beschäftigung zu behalten, und damit seine volle und wirksame Teilhabe am Berufsleben auf der Grundlage des Grundsatzes der Gleichheit mit den anderen Arbeitnehmern gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 41 und 43).

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78 den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn unverhältnismäßig belasten würden. Aus dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt sich insoweit, dass bei der Prüfung der Frage, ob die fraglichen Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe und die finanziellen Ressourcen der Organisation oder des Unternehmens sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden sollten. Außerdem setzt die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, jedenfalls voraus, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann (Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 45 und 48).

Folglich impliziert der Begriff „angemessene Vorkehrungen“, dass ein Arbeitnehmer, dem aufgrund seiner Behinderung die Eignung zur Wahrnehmung der wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle abgesprochen wurde, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern sein Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Februar 2022, HR Rail, C‑485/20, EU:C:2022:85, Rn. 49).

Im vorliegenden Fall geht aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung hervor, dass sie die Entlassung eines Arbeitnehmers zulässt, sobald ihm wegen einer eingetretenen Behinderung die Eignung für seinen Arbeitsplatz förmlich abgesprochen wurde, ohne dass sein Arbeitgeber verpflichtet ist, zuvor angemessene Vorkehrungen im Sinne von Art. 5 der Richtlinie 2000/78 zu treffen oder von ihm bereits getroffene angemessene Vorkehrungen beizubehalten. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hatte der Kläger des Ausgangsverfahrens nämlich in der Zeit vom 6. August 2018 bis zum 13. März 2020, an dem er – elf Tage nach der förmlichen Feststellung, dass er seine vorherige gewöhnliche Funktion nicht mehr wahrnehmen kann – vom Arbeitgeber über seine Entlassung informiert wurde, einen anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens inne. Der neue Arbeitsplatz, auf den der Arbeitnehmer für über ein Jahr umgesetzt worden war, war aber offenbar mit den aus seinem Arbeitsunfall resultierenden physischen Einschränkungen vereinbar.

Wie die griechische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, dürfte eine solche Regelung vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zur Folge haben, dass der Arbeitgeber von seiner Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen wie die Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz zu treffen oder gegebenenfalls beizubehalten, befreit wird, auch wenn der betreffende Arbeitnehmer die für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des anderen Arbeitsplatzes erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit im Sinne des 17. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2000/78 und der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung besitzt. Außerdem muss der Arbeitgeber nach dieser Regelung offenbar auch nicht nachweisen, dass eine solche Umsetzung vor der Entlassung des Arbeitnehmers geeignet wäre, ihn im Sinne der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unverhältnismäßig zu belasten.

Insoweit ist es unerheblich, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung die dauerhafte vollständige Berufsunfähigkeit auf Antrag des Arbeitnehmers anerkannt wird und dass sie ihm einen Anspruch auf eine Leistung der sozialen Sicherheit in Form einer monatlichen Entschädigung verschafft, wobei die Möglichkeit bestehen bleibt, andere Tätigkeiten auszuüben.

Eine solche nationale Regelung, nach der ein behinderter Arbeitnehmer gezwungen ist, das Risiko des Verlusts seiner Beschäftigung auf sich zu nehmen, um eine Leistung der sozialen Sicherheit in Anspruch nehmen zu können, beeinträchtigt nämlich im Licht von Art. 27 Abs. 1 des VN-Übereinkommens, wonach die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, sowie ihre Weiterbeschäftigung zu sichern und zu fördern sind, die praktische Wirksamkeit von Art. 5 der Richtlinie 2000/78. Indem durch diese nationale Regelung eine „dauerhafte vollständige Berufsunfähigkeit“, die nur die gewöhnlich ausgeübten Funktionen betrifft, dem Tod eines Arbeitnehmers oder einer „dauerhaften absoluten Berufsunfähigkeit“ gleichgestellt wird, was nach den schriftlichen Erklärungen der spanischen Regierung bedeutet, dass keinerlei Beschäftigung ausgeübt werden kann, läuft sie dem in Art. 26 der Charta genannten Ziel der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung zuwider.

Was schließlich das Vorbringen der spanischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen betrifft, wonach allein der betreffende Mitgliedstaat für die Ausgestaltung seines Systems der sozialen Sicherheit und die Festlegung der Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit zuständig sei, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Befugnis das Unionsrecht beachten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2022, INSS [Kombination von Renten wegen vollständiger Berufsunfähigkeit], C‑625/20, EU:C:2022:508, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Daher darf eine nationale Regelung im Bereich der sozialen Sicherheit insbesondere nicht insofern gegen Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Art. 21 und 26 der Charta verstoßen, als sie die Behinderung des Arbeitnehmers als Entlassungsgrund vorsieht, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, zuvor angemessene Vorkehrungen zu treffen oder beizubehalten, um eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu ermöglichen, oder gegebenenfalls nachzuweisen, dass solche Vorkehrungen eine unverhältnismäßige Belastung im Sinne der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellen würden.

Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Art. 21 und 26 der Charta sowie der Art. 2 und 27 des VN-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag beenden kann, weil der Arbeitnehmer wegen einer im Laufe des Arbeitsverhältnisses eingetretenen Behinderung dauerhaft außerstande ist, die ihm aufgrund dieses Vertrags obliegenden Aufgaben zu erfüllen, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, zuvor angemessene Vorkehrungen zu treffen oder beizubehalten, um eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu ermöglichen, oder gegebenenfalls nachzuweisen, dass solche Vorkehrungen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würden.

 

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist im Licht der Art. 21 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Art. 2 und 27 des durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach der Arbeitgeber den Arbeitsvertrag beenden kann, weil der Arbeitnehmer wegen einer im Laufe des Arbeitsverhältnisses eingetretenen Behinderung dauerhaft außerstande ist, die ihm aufgrund dieses Vertrags obliegenden Aufgaben zu erfüllen, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, zuvor angemessene Vorkehrungen zu treffen oder beizubehalten, um eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zu ermöglichen, oder gegebenenfalls nachzuweisen, dass solche Vorkehrungen eine unverhältnismäßige Belastung darstellen würden.



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