Bundesarbeitsgericht

Urteil vom - Az: 9 AZR 994/13

Werkstattvertrag mit Behindertem - Kündigung erfordert Schriftform und Begründung

1. Nach § 138 Abs. 7 SGB IX (juris: SGB 9) ist nicht nur die Lösung, sondern auch die Kündigung eines mit einem behinderten Menschen geschlossenen Werkstattvertrags schriftlich zu erklären. Ebenso sind die Gründe der Kündigung schriftlich anzugeben.

2. Eine ohne die schriftliche Angabe der Gründe erklärte schriftliche Kündigung eines Werkstattvertrags ist gemäß § 138 Abs. 7 SGB IX (juris: SGB 9) iVm. § 125 Satz 1 BGB formunwirksam.
(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 11. November 2013 - 9 Sa 469/13 - teilweise aufgehoben.

2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oberhausen vom 28. März 2013 - 2 Ca 2193/12 - wird insgesamt zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Beendigung eines Vertragsverhältnisses.

Die Beklagte betreibt mehrere im Sinne von §§ 136, 138 SGB IX anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen, darunter auch eine in M. In ihren Werkstätten produziert sie unter Mitwirkung der behinderten Menschen einfache Güter und erbringt einfache Dienstleistungen. Sie differenziert ihr Angebot nach „Werkstattbereich“ und „Förderbereich“. Auch im letztgenannten Bereich werden Tätigkeiten ausgeführt und vergütet. Hinzu kommen Übungen zum selbstständigen Essen und zur Körperhygiene.

Der als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannte Kläger leidet an einer seltenen Chromosomen-Störung in Form des Smith-Magenis-Syndroms. Sein Vater ist zum Betreuer bestellt. Die geistige Leistungsfähigkeit des Klägers ist eingeschränkt und seine motorische Entwicklung verzögert. Aufgrund seiner beschränkten Einsatzfähigkeit war er bei der Beklagten zuletzt nicht im „Werkstatt-“, sondern im „Förderbereich“ untergebracht. Dort führte er einfache Tätigkeiten aus, zB das Schreddern sowie das Prüfen von Feueranzündern. Der Kläger erhielt zuletzt durchschnittlich 101,50 Euro monatlich.

Die Einzelheiten der Beschäftigung des Klägers bei der Beklagten regelt der schriftliche Werkstattvertrag vom 31. Oktober 2005, der nach seinem § 8 Abs. 5 beendet werden kann, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Werkstatt nicht mehr vorliegen. Bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung kann er fristlos beendet werden. In § 8 Abs. 6 des Werkstattvertrags heißt es:

 „Die Werkstatt verpflichtet sich, vor Kündigung des Vertrages aus dem in Abs. 5 genannten Grund die Stellungnahme des Fachausschusses einzuholen. Der Beschäftigtenvertretung (dem Werkstattrat) ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, sofern dem die/der Beschäftige nicht widerspricht. Bei fristloser Beendigung werden die Stellungnahmen nachträglich eingeholt. Die Beendigung des Vertrages nach Abs. 5 wird erst bei Zustimmung durch den Fachausschuss wirksam.“

Seit Ende des Jahres 2008 kam es beim Kläger vermehrt zu Wutausbrüchen. Diese richteten sich zunächst nur gegen Sachen, später kam es zudem zu Beschimpfungen und Bedrohungen gegenüber anderen schwerbehinderten Beschäftigten und Betreuern sowie zu körperlichen Übergriffen.

Am 10. Dezember 2008 riss der Kläger seine Hose in Stücke und teilte auf Nachfrage mit, dazu Lust zu haben. Nach dem Mittagessen drohte er mit einem Stuhl und einer Pflanze zu werfen. Am 10. Februar 2009 zerstörte er ein Puzzle. Auf Nachfrage nach dem Grund nahm er einen Tacker und warf damit um sich. Am 4. Dezember 2009 kam es zu einem Wutausbruch, als der Kläger gebeten wurde, sich die Hände zu waschen. Er versuchte, den Praktikanten B anzugreifen. Dabei hielt ihn der Gruppenleiter H zurück. Sodann versuchte der Kläger Herrn H zu schlagen und zu beißen. Herr H erlitt bei einem weiteren Vorfall am 18. Dezember 2009 Kratz- und Bisswunden. Am 8. Dezember 2010 gegen 12:30 Uhr begann der Kläger, seine Hose zu zerreißen. Um 13:30 Uhr „ging“ er auf die Betreuerin Frau T los und schrie, er werde sie umbringen. Herr H konnte den Kläger überwältigen. Am 15. Dezember 2010 kam es zu einem Wutausbruch, wobei der Kläger ein Backblech nach Herrn H werfen wollte.

Nach diesen Vorfällen reduzierte die Beklagte die Arbeitszeit des Klägers und verlegte die Beschäftigung auf eine spätere Uhrzeit.

Am 11. März 2011 gegen 11:30 Uhr wollte der Kläger Herrn H erneut schlagen, als er ihn auf sein Verweilen in der Toilettenkabine ansprach, in der sich Frau S befand. Am 4. Mai 2011 gegen 12:15 Uhr drohte der Kläger, Frau T mit einer Gabel anzugreifen. Er äußerte: „Ich steche dir in den Hals und lasse dich ausbluten.“

Im Hinblick auf sein Verhalten stellte die Beklagte ihn in der Zeit vom 4. Mai bis zum 1. Juni 2011 zunächst von der Tätigkeit in der Werkstatt frei. Ab dem 4. Juli 2011 wurde der Kläger in einer anderen Werkstatt der Beklagten betreut und beschäftigt. Mit Beginn des Jahres 2012 kam es zu folgenden Vorfällen:

Am 2. Januar 2012 erlitt der Kläger nach Anrede durch die ebenfalls schwerbehinderte Frau N einen Wutanfall, bei dem er ein Trimmrad verbog und eine Arbeitskiste zerstörte. Am 3. Januar 2012 reagierte der Kläger wiederum mit einem Wutanfall auf die Anrede durch Frau N. Ein weiterer Wutanfall erfolgte beim Puzzeln. Am 11. und 19. Januar 2012 drohte er den Betreuern mit dem Wurf einer Wasserflasche. Am 20. Januar 2012 biss er sich selbst in den Finger und schlug auf den Boden. Er versuchte, seine Schuhe zu zerreißen. Am 23. Januar 2012 drohte er der ebenfalls schwerbehinderten Frau K nach Anrede durch diese, am 6. Februar 2012 reagierte der Kläger ebenfalls mit zwei Wutausbrüchen auf die Ansprache durch die Betreuer. Am 18. April 2012 zeigte er aggressives Verhalten auf den neuen PC. Bei einem Wutanfall am 30. April 2012 brach er den Bügel seiner Brille ab und warf mit seinen Schuhen um sich. Vom 4. bis zum 6. Mai 2012 stellte die Beklagte den Kläger erneut frei. Nach Wiederaufnahme der Tätigkeit in der Werkstatt ereignete sich Folgendes:

Am 16. Mai 2012 biss sich der Kläger selbst und schlug auf den Schredder ein. Er zog seine Schuhe aus, drohte den Betreuern und anderen Schwerbehinderten und warf einen Stuhl um. Im Anschluss daran bis zum 31. Mai 2012 erfolgte eine erneute Freistellung. Danach kam es zu folgenden Vorfällen:

Am 1. Juni 2012 onanierte der Kläger vor dem PC. Auf die Aufforderung, den Tisch zu säubern, zog er seinen Schuh aus und drohte dem Betreuer, ihm diesen an den Kopf zu werfen. Am 6. Juni 2012 schlug der Kläger wieder auf den Schredder ein. Am 3. September 2012 warf der Kläger zunächst einen Schuh „auf“ einen Betreuer und zeitlich später mit einer vollen Getränkeflasche. Am 10. September 2012 drohte der Kläger mit dem Wurf einer Papiertonne, nachdem er aufgefordert worden war, sein Frühstück zu holen. Nach der Aufforderung, sich die Hände zu waschen, schlug er am 11. September 2012 auf den Seifenspender ein. Am Folgetag versuchte der Kläger, ein Loch in ein Planschbecken zu knibbeln. Auf die Aufforderung, dies zu unterlassen, bekam er erneut einen Wutanfall und warf Kissen durch den Raum. Die Aufforderung, die Kissen aufzuheben, beantwortete er mit dem Werfen von schweren Katalogen. Am 13. September 2012 drohte er dem ebenfalls schwerbehinderten Herrn L, mit einem Stuhl nach ihm zu werfen. Am 21. September 2012 schlug der Kläger nach einer Anweisung mit einer Faust durch die Luft und versuchte, den Wasserhahn abzureißen. Ein paar Tage später am 25. September 2012 provozierte er fortwährend die Betreuer. Am 28. September 2012 wollte er zunächst eine Rolle Toilettenpapier in die Toilette stecken und versuchte später, die Duschabtrennung aus der Wand zu reißen. Am 8. Oktober 2012 drohte er wiederum mit dem Wurf einer Wasserflasche, bevor er am Folgetag Kissen durch den Raum schmiss und seine Brille zerbrach. Mitte Oktober 2012 drohte er der Betreuerin Frau J mit dem Wurf eines Stuhls. Am 17. Oktober 2012 schlug er dem schwerbehinderten Herrn Sch mit der Faust auf den Kopf.

Die Beklagte stellte den Kläger noch am 17. Oktober 2012 frei.

Mit einem an den Vater des Klägers gerichteten Schreiben vom 28. November 2012, das diesem am 30. November 2012 zuging, kündigte die Beklagte den Werkstattvertrag gemäß § 8 Abs. 5 dieses Vertrags zum 30. November 2012 und führte als Kündigungsgrund an, die „Übergriffigkeiten und Fremdaggressionen“ seines Sohnes erfüllten nicht mehr die erforderlichen Voraussetzungen zur Aufnahme in die Werkstatt.

Am 5. Dezember 2012 stimmte der bei der Beklagten gebildete Fachausschuss der Kündigung nach vorheriger Mitteilung der Kündigungsgründe nachträglich zu. Am 6. Februar 2013 erfolgte die Zustimmung des Werkstattrats.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es liege kein Werkstattverhältnis iSv. § 136 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX vor. Da es in ganz Nordrhein-Westfalen keine angegliederten Einrichtungen iSd. § 136 Abs. 3 SGB IX gebe, könne das Vertragsverhältnis weder dem Bereich des § 136 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX noch dem Bereich des § 136 Abs. 3 SGB IX zugeordnet werden, sondern beziehe sich auf beide Bereiche. Einrichtungen iSd. § 136 Abs. 3 SGB IX stünden aber auch Personen offen, die nicht in einer Werkstatt iSv. § 136 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX beschäftigt werden könnten. Bei Inklusion könne der Wegfall der Werkstattfähigkeit eines Behinderten deshalb nicht die Kündigung des Rechtsverhältnisses rechtfertigen. Wenn in Nordrhein-Westfalen der Personenkreis des § 136 Abs. 3 SGB IX gemeinsam mit dem Personenkreis des § 136 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX in der „Werkstatt“ untergebracht werde, sei es Aufgabe der Beklagten, auch Personen unterzubringen, die die „Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt“ iSv. § 136 Abs. 3 SGB IX nicht erfüllten. Im Übrigen lägen weder eine Selbst- noch eine Fremdgefährdung iSd. § 136 Abs. 2 Satz 2 SGB IX vor. Soweit es zu Aggressionen gekommen sei, beruhten diese auf Mängeln in der Betreuung und beim Personalschlüssel sowie der daraus folgenden Überforderung des Personals.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, dass das Werkstattverhältnis durch die fristlose Kündigung vom 28. November 2012, zugegangen am 30. November 2012, nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei wirksam. Sie scheitere insbesondere nicht an der fehlenden Zustimmung des Integrationsamts, weil § 85 SGB IX auf arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse keine Anwendung finde. Hinzu komme, dass ein Werkstattverhältnis auch nach § 90 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX aus dem Regelungsbereich des § 85 SGB IX ausgenommen sei. Die Kündigung sei nicht deshalb unwirksam, weil nicht sämtliche Vorfälle, die zur Kündigung geführt hätten, im schriftlichen Kündigungsschreiben genannt seien. Das Schriftformerfordernis des § 138 Abs. 7 SGB IX betreffe nur die Lösungserklärung, nicht aber die Kündigung des Werkstattvertrags. Zudem verlange dieses gesetzliche Schriftformerfordernis nicht, dass auch die Beendigungsgründe im Kündigungsschreiben aufgeführt sein müssten. Die Kündigung sei auch materiell wirksam, denn dem Kläger fehle die Werkstattfähigkeit nach § 136 Abs. 2 Satz 2 SGB IX.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage - soweit für die Revision von Bedeutung - abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

A. Die zulässige Revision ist begründet. Die Kündigung der Beklagten vom 28. November 2012 hat das Werkstattverhältnis nicht beendet. Die Kündigungsschutzklage ist entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts begründet. Die Kündigung der Beklagten vom 28. November 2012 ist gemäß § 138 Abs. 7 SGB IX iVm. § 125 Satz 1 BGB formunwirksam.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Parteien einen Werkstattvertrag nach § 138 Abs. 3 SGB IX geschlossen haben.

1. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, ob ein Arbeitsverhältnis, ein Werkstattverhältnis oder ein anderes Rechtsverhältnis vorliegt, ist - soweit sie auf tatsächlichem Gebiet liegt - revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob sie in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt. Im Übrigen unterliegt sie wie jede andere Rechtsverletzung der vollen revisionsrechtlichen Überprüfung (vgl. BAG 18. März 2014 - 9 AZR 694/12 - Rn. 18 mwN; 18. März 2014 - 9 AZR 740/13 - Rn. 20).

2. Das Landesarbeitsgericht hat zur Einordung des Vertrags zutreffend auf den Wortlaut der Vereinbarung vom 31. Oktober 2005 und die tatsächliche Vertragsdurchführung abgestellt und angenommen, dass es sich danach um einen Werkstattvertrag gemäß § 138 Abs. 3 SGB IX handele und die Parteien nicht - wie der Kläger meine - einen Vertrag zur Unterbringung in einer Einrichtung iSv. § 136 Abs. 3 SGB IX geschlossen hätten.

Hierfür sprechen neben der Überschrift des Vertrags („Werkstattvertrag“) nicht nur der Verweis in seiner „Vorbemerkung“ auf § 54b SchwbG als Vorgängerregelung von § 138 SGB IX sowie die Betonung des Zwecks der Eingliederung in das Arbeitsleben, dem Werkstätten iSv. § 136 Abs. 1 SGB IX dienen. Auch die Tatsache, dass der Kläger entsprechend § 3 des Vertrags in gewissem Umfang produktive Arbeiten - wie Schreddern oder Prüfen von Feueranzündern - erbrachte, für die er nach § 5 des Vertrags „aus dem Arbeitsergebnis“ der Beklagten ein geringes Entgelt erhielt, spricht für einen Werkstattvertrag (vgl. § 138 Abs. 2 SGB IX). In einer angegliederten Einrichtung nach § 136 Abs. 3 SGB IX besteht kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, die dort betreuten Menschen sind keine arbeitnehmerähnlichen Personen iSv. § 138 Abs. 1 SGB IX (vgl. Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 3. Aufl. § 136 Rn. 21). Der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag dient ersichtlich dem Zweck, dem Kläger eine solche Rechtsposition nach § 138 Abs. 1 SGB IX einzuräumen.

3. Der Angriff des Klägers in der Revision gegen diese Auslegung durch das Landesarbeitsgericht geht fehl.

a) Der Kläger meint, es sei Teil des bei der Beklagten praktizierten Konzepts der Inklusion, dass für alle schwerbehinderten Menschen, ganz gleich ob werkstattfähig oder nicht, eine Rechtsposition durch den Abschluss von Werkstattverträgen etabliert werde und demnach auch eine einheitliche Entlohnung erfolge. Da somit auch die behinderten Menschen, die mangels Werkstattfähigkeit an sich nur in angegliederten Einrichtungen nach § 136 Abs. 3 SGB IX untergebracht werden könnten, einen Werkstattvertrag erhielten, eigne sich der geschlossene Vertrag nicht zur Differenzierung hinsichtlich der Einstufung der Vertragspartner in den Bereich des § 136 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX einerseits sowie des § 136 Abs. 3 SGB IX andererseits.

b) Damit gesteht der Kläger letztlich selbst zu, dass zwischen den Parteien ein Werkstattvertrag gemäß § 138 Abs. 3 SGB IX bestand. Aus welchem Grund diese Rechtsposition eingeräumt wurde, ob aus Gründen der Inklusion oder aus anderen Motiven, ist für die Einordnung des Vertragstyps ohne Belang.

c) Dass die Vereinbarung keinen Vertrag zur Unterbringung in einer Einrichtung nach § 136 Abs. 3 SGB IX darstellt, ergibt sich zudem daraus, dass es auch nach dem Vortrag des Klägers angegliederte Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen nicht gibt. Es kann nicht angenommen werden, dass die Beklagte sich zur Aufnahme in einem nicht existenten Bereich habe verpflichten wollen.

II. Das danach vorliegende Werkstattverhältnis iSv. § 138 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX wurde durch die Kündigung vom 28. November 2012 nicht wirksam beendet. Die Kündigung ist mangels hinreichender schriftlicher Angabe der Kündigungsgründe gemäß § 138 Abs. 7 SGB IX iVm. § 125 Satz 1 BGB formunwirksam.

1. Nach dem Wortlaut von § 138 Abs. 7 SGB IX bedarf die Lösungserklärung durch den Träger einer Werkstatt der schriftlichen Form und ist zu begründen. Das Landesarbeitsgericht ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass lediglich das in der Norm geregelte Schriftformerfordernis, nicht aber auch das Begründungserfordernis Wirksamkeitsvoraussetzung einer Kündigung ist. Zudem hat es in seiner Hilfsbegründung unzutreffend angenommen, dass die Beklagte in dem Kündigungsschreiben vom 28. November 2012 die Kündigung hinreichend schriftlich begründet habe.

2. Die schriftliche Angabe der Kündigungsgründe ist nach § 138 Abs. 7 SGB IX auch Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung eines Werkstattvertrags.

a) Gemäß § 138 Abs. 7 SGB IX bedarf die Lösungserklärung durch den Träger einer Werkstatt der schriftlichen Form und ist zu begründen. Dieses Formerfordernis gilt nicht nur für den - hier nicht vorliegenden - Fall, dass der Träger der Werkstatt sich von einem Werkstattvertrag lösen will, der von einem geschäftsunfähigen behinderten Menschen selbst (unwirksam) geschlossen wurde, sondern auch für die Lösung von einem wirksam zustande gekommenen Werkstattvertrag mittels Kündigungserklärung.

aa) Der Wortlaut von § 138 Abs. 7 SGB IX ist nicht eindeutig. Einerseits wird dort die „Kündigung“ eines Werkstattvertrags nicht ausdrücklich erwähnt, sondern lediglich die „Lösungserklärung“. Andererseits stellt eine Kündigung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nichts anderes als die „Lösung eines Vertrags“ dar (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort „Kündigung“).

bb) Für das Verständnis einer Geltung von § 138 Abs. 7 SGB IX ausschließlich für an sich nach § 105 Abs. 1 BGB unwirksam geschlossene Verträge spricht in systematischer Hinsicht allerdings, dass § 138 Abs. 6 SGB IX zwischen einer Lösung von einem unwirksam geschlossenen Vertrag und der Kündigung eines wirksam geschlossenen Vertrags sprachlich unterscheidet. Daran anknüpfend wird teilweise in der Literatur die in § 138 Abs. 7 SGB IX genannte „Lösungserklärung“ ausschließlich auf den Fall der Lösung von einem Vertrag bezogen, der von einem geschäftsunfähigen behinderten Menschen geschlossen wurde (Pahlen in Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 138 Rn. 34).

cc) Sinn und Zweck der Regelung gebieten jedoch ein anderes Verständnis. Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers sollte § 138 Abs. 6 SGB IX gerade dazu führen, die beiden Fallgruppen umfassend gleich zu behandeln. Die Lösung des Vertragsverhältnisses durch den Träger einer Werkstatt sollte den gleichen Voraussetzungen unterliegen, die bei Vorliegen eines wirksamen Vertrags für die Kündigung seitens des Trägers der Werkstatt erforderlich wären. Es ging dem Gesetzgeber mit der Einfügung von § 138 Abs. 6 SGB IX darum sicherzustellen, „dass der Träger einer Werkstatt bei Abschluss eines ‚Vertrags‘ mit einem Geschäftsunfähigen nicht besser gestellt wird, als wenn sein Geschäftspartner geschäftsfähig gewesen wäre“ (BT-Drs. 14/9266 S. 53). Diese gesetzgeberische Intention der Gleichbehandlung beider Fallgruppen schließt es aus, den zeitgleich mit § 138 Abs. 5 und Abs. 6 SGB IX neu in das Gesetz eingefügten § 138 Abs. 7 SGB IX ausschließlich auf den Fall der Lossagung von einem an sich unwirksamen Vertrag anzuwenden. Denn hierdurch würde im Gegensatz zur gesetzgeberischen Absicht ein „Sonderrecht“ zugunsten der geschäftsunfähigen behinderten Menschen im Arbeitsbereich der Werkstatt geschaffen (Jacobs in LPK-SGB IX 4. Aufl. § 138 Rn. 42). In § 138 Abs. 7 SGB IX würde dann der Rechtsgedanke der Gleichbehandlung aus § 138 Abs. 5 sowie Abs. 6 SGB IX nicht „konsequent fortgesetzt“ (BeckOK SozR/Jabben Stand 1. März 2015 SGB IX § 138 Rn. 13), sondern im Gegenteil konterkariert.

dd) Die „Lösungserklärung“ in § 138 Abs. 7 SGB IX beinhaltet damit auch die Kündigung eines wirksam geschlossenen Werkstattvertrags (iE ebenso Jacobs in LPK-SGB IX aaO; wohl auch BeckOK SozR/Jabben aaO).

b) Entgegen der Rechtsansicht des Landesarbeitsgerichts und eines Teils der Literatur (Pahlen in Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen § 138 Rn. 34a; Kossens/von der Heide/Maaß § 138 Rn. 19), ist die Lösung nicht nur schriftlich zu erklären, sondern auch schriftlich zu begründen.

aa) Dies wird teilweise mit dem Hinweis auf den Wortlaut der Vorschrift („Die Lösungserklärung … bedarf der schriftlichen Form und ist zu begründen“) verneint. Danach soll das Begründungserfordernis lediglich die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung ermöglichen, das Abschätzen von Prozessaussichten erleichtern und den potenziellen Prozessstoff strukturieren (Pahlen in Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen aaO).

bb) Dieser Hinweis auf den Wortlaut von § 138 Abs. 7 SGB IX überzeugt nicht. Es entspricht auch andernorts der gesetzgeberischen Regelungstechnik, die erforderliche Schriftlichkeit der Begründung einer Kündigung nicht ausdrücklich nochmals zu erwähnen, wenn eine Norm zugleich die Schriftform der Kündigung anordnet. In § 22 Abs. 3 BBiG heißt es hinsichtlich der Beendigung eines Berufsausbildungsverhältnisses, „die Kündigung muss schriftlich und … unter Angabe der Kündigungsgründe erfolgen“. Mithin wird auch hier nicht ausdrücklich die schriftliche Kündigung unter schriftlicher Angabe der Kündigungsgründe verlangt (so ausdrücklich Monjau SAE 1973, 108, 111). Trotzdem hat das Bundesarbeitsgericht die Vorgängerregelung § 15 Abs. 3 BBiG aF in ständiger Rechtsprechung derart verstanden (BAG 10. Februar 1999 - 2 AZR 176/98 - zu II 1 der Gründe mwN; 25. November 1976 - 2 AZR 751/75 - zu A III 1 der Gründe; 22. Februar 1972 - 2 AZR 205/71 - zu 2 a der Gründe, BAGE 24, 133). Der Gesetzgeber hat in Kenntnis dieser Rechtsprechung bei der Neuregelung des BBiG die Vorschrift - soweit hier von Relevanz - sprachlich unverändert in § 22 Abs. 3 BBiG übernommen und auch in § 138 Abs. 7 SGB IX im Wortlaut nicht ausdrücklich zusätzlich eine schriftliche Angabe der Kündigungsgründe aufgenommen.

cc) Sinn und Zweck von § 138 Abs. 7 SGB IX sprechen dafür, die zitierte Rechtsprechung zu § 22 Abs. 3 BBiG bzw. § 15 Abs. 3 BBiG aF auf den hier vorliegenden Fall zu übertragen.

 (1) Der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts hat das Erfordernis der Schriftform der Kündigungsbegründung beim Berufsausbildungsverhältnis neben dem Wortlaut von § 15 Abs. 3 BBiG aF insbesondere daraus abgeleitet, dass die Vorschrift vor allem auch der Rechtsklarheit und der Beweissicherung dienen soll (etwa BAG 10. Februar 1999 - 2 AZR 176/98 - zu II 1 der Gründe mwN; 22. Februar 1972 - 2 AZR 205/71 - zu 2 a der Gründe, BAGE 24, 133; siehe auch den schriftlichen Bericht des Ausschusses für Arbeit BT-Drs. V/4260 S. 11). Durch die Verschriftlichung der Kündigungsgründe soll insoweit verhindert werden, dass nicht mit einer Ausweitung durch Einführung zusätzlicher neuer Kündigungsgründe in den Prozess gerechnet werden muss. Nach dem Sinn der Regelung muss der Gekündigte aufgrund der ihm mitgeteilten Gründe sich darüber klar werden können, ob er die ihm erklärte Kündigung anerkennen oder dagegen vorgehen will (BAG 10. Februar 1999 - 2 AZR 176/98 - aaO mwN).

 (2) Diese Erwägungen gelten auch für § 138 Abs. 7 SGB IX. Nach der Gesetzesbegründung soll das Schriftformerfordernis auch hier zur Rechtssicherheit beitragen (BT-Drs. 14/9266 S. 53). Es dient dem Schutz des behinderten Menschen (BeckOK SozR/Jabben aaO). Dieser bzw. sein gesetzlicher Vertreter sollen durch den schriftlichen Begründungszwang in die Lage versetzt werden zu entscheiden, ob ein Vorgehen gegen die Lösungserklärung Erfolg versprechend erscheint oder nicht. Das gesetzliche Ziel der Schaffung von Rechtssicherheit würde weitgehend verfehlt, wenn auf die schriftliche Angabe der Kündigungs- bzw. Lösungsgründe verzichtet würde. Die nur mündliche Mitteilung der Gründe ist weder ausreichend, um dem Erklärungsempfänger mit hinreichender Sicherheit die Einschätzung seiner Prozesschancen zu ermöglichen, noch, um den potenziellen Prozessstoff klar zu strukturieren (diese Zwecke des Begründungserfordernisses noch zutreffend erkennend, iE aber abweichend Pahlen aaO; zur Rechtsunsicherheit bei einem bloßen mündlichen Begründungszwang vgl. BAG 10. Februar 1999 - 2 AZR 176/98 - zu II 1 der Gründe).

 (3) Würde § 138 Abs. 7 SGB IX lediglich eine mündliche Angabe der Kündigungsgründe verlangen, fehlte es im Gesetz an einer Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt die Gründe dem Erklärungsempfänger mündlich mitgeteilt werden müssen. Es wäre nicht zwangsläufig der Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung. Denn die Kündigung kann als Willenserklärung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB auch gegenüber einem Abwesenden erklärt werden. Diese Rechtsunsicherheit wird beseitigt, wenn das Schriftformerfordernis für die Erklärung auch die Angabe der Gründe umfasst.

3. Die Kündigungserklärung der Beklagten vom 28. November 2012 genügt nicht diesem Begründungserfordernis. Sie ist deshalb nach § 138 Abs. 7 SGB IX iVm. § 125 Satz 1 BGB formunwirksam.

a) Die Beklagte verweist in dem Kündigungsschreiben lediglich pauschal darauf, dass aufgrund der „Übergriffigkeiten und Fremdaggressionen“ des Klägers die Voraussetzungen zur Aufnahme in die Werkstatt nicht mehr vorliegen.

b) Dies ist entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts unzureichend. Eine Überprüfung der Nachvollziehbarkeit des Kündigungsentschlusses sowie eine rechtssichere Einschätzung der Chancen eines gerichtlichen Vorgehens gegen die Kündigung waren aufgrund dieser pauschal angegebenen Gründe nicht möglich. Zwar verlangt § 138 Abs. 7 SGB IX - genauso wie § 22 Abs. 3 BBiG - keine eingehende prozessähnliche Substanziierung. Jedenfalls aber müssen die Gründe im Kündigungsschreiben so genau bezeichnet sein, dass der Erklärungsempfänger genügend klar erkennen kann, was gemeint ist und welche konkreten tatsächlichen Vorfälle zum Kündigungsentschluss geführt haben(vgl. BAG 10. Februar 1999 - 2 AZR 176/98 - zu II 1 der Gründe; 25. November 1976 - 2 AZR 751/75 - zu A III 2 a der Gründe).Bloße Werturteile oder pauschale Angaben, wie etwa der Verweis auf „mangelhaftes Benehmen“ sowie die „Störung des Betriebsfriedens“ (vgl. BAG 25. November 1976 - 2 AZR 751/75 - zu A III 2 der Gründe), auf „Vorkommnisse“ (vgl. LAG Nürnberg 23. September 1976 - 1 Sa 322/76 -), auf „häufiges Zuspätkommen“ oder „sonstige Unzuverlässigkeiten“ (vgl. Pepping in Wohlgemuth BBiG § 22 Rn. 82) oder auf „ständige Beleidigungen“ (vgl. HK-ArbR/Herrmann 3. Aufl. § 22 BBiG Rn. 24 mwN), genügen nicht. Deshalb ist die Begründung der Kündigung mit „Übergriffigkeiten und Fremdaggressionen“ ohne Nennung von Zeit, Ort und Art derselben nicht geeignet, den Anforderungen nach § 138 Abs. 7 SGB IX gerecht zu werden (vgl. zum Umfang der Substanziierung in § 22 Abs. 3 BBiG Pepping in Wohlgemuth aaO), zumal die Beklagte die fehlende Werkstattfähigkeit des Klägers mit einer Vielzahl von Vorfällen begründet.

B. Die Beklagte hat nach § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.



Sie kennen die Kanzlei Labisch aus folgenden Medien:

Logo SWR1
Logo SWR4
Logo RPR1
Logo Wiesbadener Kurier
Logo Geißener Anzeiger
Logo Wormser Zeitung
Logo Wiesbadener Tagblatt
Logo Main Spitze
Logo Frankfurter Rundschau
Logo Handelsblatt
Logo Allgemeine Zeitung
Logo Darmstädter Echo
Logo Focus
Logo NTV
Logo ZDF WISO
Lexikon schließen
Schließen