Bundesarbeitsgericht

Urteil vom - Az: 8 AZR 212/22

Praktikanten unterfallen dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes

Dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG unterfallen auch Praktikanten, die i.S.v. § 26 BBiG eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben.
(Leitsatz des Gerichts)

Der klagende Student mit einem Grad der Behinderung von 40 bewarb sich bei der Agentur für Arbeit um ein gefördertes berufliches Praktikum. Im Vorstellungsgespräch erwähnte der Kläger seine Behinderung und seinen vorherigen Gleichstellungsantrag. Nach einer Ablehnung wurde der Kläger rückwirkend als schwerbehindert anerkannt und forderte daraufhin eine Entschädigung von mindestens 5.000 Euro wegen vermuteter Benachteiligung aufgrund seiner Behinderung.
Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass das Benachteiligungsverbot auch gegenüber Personen gelte, die sich auf eine Praktikumsstelle bewerben. Dies folge aus § 26 BBiG (Berufsbildungsgesetz), wonach Praktikanten „Beschäftigte“ im Sinne dieses Gesetzes seien. Im konkreten Fall stellte das Gericht jedoch keinen Verstoß gegen Bestimmungen des AGG fest und schloss sich deshalb der Entscheidung der Agentur für Arbeit an. Während des laufenden Gleichstellungsverfahrens habe keine Verpflichtung bestanden, die Verfahrensvorschriften für schwerbehinderte Menschen einzuhalten. Auch die nachträgliche positive Entscheidung über den Gleichstellungsantrag ändere daran nichts.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 18. November 2021 - 5 Sa 211/21 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zahlen hat wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung aufgrund einer Behinderung.

Der Kläger, dem mit Bescheid vom 4. Juni 2019 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt worden ist, studiert an der Hochschule F im Studiengang Sozialrecht. Im Mai 2020 schrieb die Beklagte ein Förderprogramm für Studierende in den Studiengängen Sozialrecht oder Wirtschaftsrecht aus. Teilnehmer des Programms werden von der Beklagten mit einem monatlichen Betrag iHv. 880,00 Euro brutto gefördert. Für Zeiten der betrieblichen Praxis an den Einsatzorten der Beklagten in Bad Hersfeld, Fulda oder Frankfurt am Main erhalten die Teilnehmer eine monatliche Praktikumsvergütung iHv. 1.570,00 Euro brutto. Die Stellenausschreibung lautet auszugsweise: "Erwerben Sie im Studium die theoretischen und wissenschaftsbezogenen Grundlagen und nutzen Sie Ihre vorlesungsfreien Zeiten, um erste praktische Erfahrungen bei der Bundesagentur für Arbeit zu sammeln und in weitere spannende Rechtsgebiete einzutauchen. Gemeinsam werden wir Ihre Kenntnisse in den genannten Fachgebieten schrittweise durch praktische Anwendung vertiefen."

Der Kläger bewarb sich am 28. Juli 2020 um eine Teilnahme an dem Förderprogramm. Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 beantragte er die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen nach § 2Abs. 3 SGB IX bei der für seinen Wohnort zuständigen Agentur für Arbeit. Am 12. August 2020 fand in der Agentur für Arbeit in Fulda das Auswahlgespräch für das Förderprogramm statt. In diesem Gespräch wies der Kläger auf seine Behinderung hin und erklärte, dass er einen Gleichstellungsantrag gestellt habe. Am 17. August 2020 sagte die Beklagte dem Kläger wegen des Förderprogramms telefonisch ab. Die Agentur für Arbeit Stuttgart stellte den Kläger mit Bescheid vom 10. September 2020 rückwirkend zum 31. Juli 2020 einem schwerbehinderten Menschen gleich.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe ihn aufgrund seiner Behinderung benachteiligt. Der persönliche Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sei eröffnet. Bei dem ausgeschriebenen Förderprogramm handele es sich um eine Beschäftigung iSd. § 6 Abs. 1 AGG. Nachdem er die Beklagte am 12. August 2020 während des Vorstellungsgesprächs über seine Behinderung und das laufende Gleichstellungsverfahren informiert habe, sei die Beklagte gehalten gewesen, die Verfahrensvorschriften zugunsten schwerbehinderter Menschen einzuhalten und die Schwerbehindertenvertretung einzuschalten. Indem sie dies unterlassen habe, habe sie gegen ihre gesetzlichen Pflichten aus § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verstoßen. Stattdessen habe die Beklagte ihm, ohne den Ausgang des Gleichstellungsverfahrens abzuwarten, zeitnah eine Absage erteilt.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Entschädigung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber 5.000,00 Euro nicht unterschreiten sollte, zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.

 

Gründe

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Er hat keine Indizien iSv. § 22 AGG dafür dargelegt, dass er wegen seiner Behinderung benachteiligt worden ist. Die Beklagte war während des laufenden Gleichstellungsverfahrens nicht verpflichtet, im Bewerbungsverfahren die Verfahrensvorschriften zugunsten von schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Menschen aus § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX einzuhalten. Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass der Gleichstellungsantrag des Klägers nach Abschluss des Bewerbungsverfahrens mit Rückwirkung positiv beschieden worden ist.

I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Klageantrag hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger durfte die Höhe der von ihm begehrten Entschädigung in das Ermessen des Gerichts stellen (st. Rspr., vgl. BAG 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21 - Rn. 16 f. mwN).

II. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat - wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat - keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

1. Allerdings geht der Kläger zu Recht davon aus, dass der persönliche Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eröffnet ist.

a) Der Kläger ist Beschäftigter iSv. § 6 Abs. 1 AGG. Beschäftigte iSd. Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sind ua. nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG "die zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten". Als Beschäftigte gelten nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG auch die Bewerberinnen und Bewerber für ein Beschäftigungsverhältnis.

aa) § 6 Abs. 1 AGG liegt ein unionsrechtlich geprägter Beschäftigtenbegriff zugrunde. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz setzt die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG) um (vgl. BAG 31. März 2022 - 8 AZR 238/21 - Rn. 22; 24. Februar 2022 - 8 AZR 208/21 (A) - Rn. 40; BGH 26. März 2019 - II ZR 244/17 - Rn. 28, BGHZ 221, 325). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78/EG, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder "in Beschäftigung und Beruf" gleichbehandelt wird (EuGH 27. April 2023 - C-681/21 - [BVAEB (Montant de la pension de retraite)] Rn. 40 mwN; 28. Juli 2016 - C-423/15 - [Kratzer] Rn. 32 mwN). Diesem umfassenden Ziel entsprechend dürfen die Begriffe, die in der Umsetzung in nationales Recht den Anwendungsbereich dieser Richtlinie festlegen, nicht eng ausgelegt werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber hinter dem Schutzbereich der Richtlinie zurückbleiben wollte (BGH 26. März 2019 - II ZR 244/17 - Rn. 29, aaO). Danach fallen unter den Begriff der "Berufsbildung" iSv. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG nicht allein Personen, die eine Berufsausbildung iSd. Berufsbildungsgesetzes absolvieren, sondern auch Personen iSv. § 26 BBiG, die eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, insbesondere Praktikanten (ErfK/Schlachter 23. Aufl. AGG § 6 Rn. 2; BeckOGK/Benecke Stand 1. September 2023 AGG § 6 Rn. 15 f.; HWK/Rupp 10. Aufl. § 6 AGG Rn. 4; Bauer/Krieger/Günther AGG und EntgTranspG 5. Aufl. § 6AGG Rn. 7; Kalb in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger jurisPK-BGB 10. Aufl. § 6 AGG Rn. 6).

bb) Ausgehend hiervon begründet die Aufnahme in das von der Beklagten ausgeschriebene Förderprogramm ein Beschäftigungsverhältnis iSv. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG. Nach der Stellenausschreibung der Beklagten sollen die vorlesungsfreien Zeiten genutzt werden, "um erste praktische Erfahrungen bei der Bundesagentur für Arbeit zu sammeln und in weitere spannende Rechtsgebiete einzutauchen" sowie die "Kenntnisse in den genannten Fachgebieten schrittweise durch praktische Anwendung [zu] vertiefen". Für die Zeiten der betrieblichen Praxis wird ausdrücklich eine monatliche "Praktikumsvergütung" iHv. 1.570,00 Euro brutto angeboten. Daraus wird deutlich, dass für die vorlesungsfreien Zeiten ein bezahltes Praktikum und damit eine Tätigkeit "in Beschäftigung und Beruf" angeboten wird. Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass die von der Beklagten ausgeschriebene Förderung auch einen monatlichen Förderbetrag iHv. 880,00 Euro brutto für Zeiten des Studiums außerhalb der betrieblichen Praxis umfasst. Nach der Ausschreibung der Beklagten sind die Praktikumsphasen während der vorlesungsfreien Zeit untrennbar mit der rein finanziellen Förderung in den Vorlesungszeiten verbunden, sodass das Förderprogramm insgesamt als Beschäftigungsverhältnis iSv. § 6Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG anzusehen ist (vgl. zum dualen Studium: Koch-Rust/Rosentreter HSI-Schriftenreihe Bd. 45 S. 56 ff.). Es kommt vorliegend nicht darauf an, ob auch Praktikanten, die ein Pflichtpraktikum als Teil eines Studiums ableisten, in den persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes fallen (dafür: v. Roetteken AGG Stand Juni 2021 § 6 Rn. 19; dagegen: BeckOGK/Benecke Stand 1. September 2023 AGG § 6 Rn. 16). Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die zu leistenden Praktikumszeiten in den vorlesungsfreien Zeiten keine Pflichtpraktika nach hochschulrechtlichen Bestimmungen darstellen.

b) Die Beklagte ist nach § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG Arbeitgeberin.

2. Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch frist- und formgerecht geltend gemacht und eingeklagt (§ 15 Abs. 4 AGG, § 61b Abs. 1 ArbGG).

a) Nach § 15 Abs. 4 AGG muss ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung mit der Ablehnung. Diese Frist hat der Kläger eingehalten.

aa) Die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG hat mit der telefonischen Absage durch die Beklagte am 17. August 2020 zu laufen begonnen (vgl. BAG 29. Juni 2017 - 8 AZR 402/15 - Rn. 24, BAGE 159, 334; 18. September 2014 - 8 AZR 759/13 - Rn. 19). Der Kläger hat den Anspruch rechtzeitig mit an das Arbeitsgericht gerichtetem Schriftsatz vom 30. August 2020, der der Beklagten am 9. September 2020 zugestellt worden ist, geltend gemacht. Die nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG erforderliche Schriftform zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen iSv. § 15 Abs. 1 und Abs. 2 AGG kann auch durch eine Klage gewahrt werden. Dabei findet § 167 ZPO Anwendung. Es genügt der rechtzeitige Eingang der Klage bei Gericht, wenn die Klage "demnächst" zugestellt wird (vgl. BAG 22. Mai 2014 - 8 AZR 662/13 - Rn. 9 ff., BAGE 148, 158).

bb) Das Schreiben vom 30. August 2020 genügt inhaltlich den Anforderungen an die ordnungsgemäße Geltendmachung einer Entschädigung. Der Kläger hat ausreichend deutlich gemacht, dass er eine Diskriminierung aufgrund seiner Behinderung geltend macht und er hat den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt individualisiert (vgl. BAG 17. Dezember 2015 - 8 AZR 421/14 - Rn. 40). Es ist unschädlich, dass er den Entschädigungsanspruch in der Geltendmachung nicht beziffert hat (vgl. BAG 21. Juni 2012 - 8 AZR 364/11 - Rn. 21, BAGE 142, 158; 19. August 2010 - 8 AZR 466/09 - Rn. 23).

b) Mit Schriftsatz vom 5. November 2020, der Beklagten zugestellt am 10. November 2020, hat der Kläger rechtzeitig - innerhalb von drei Monaten nachdem der Anspruch schriftlich geltend gemacht worden ist - Klage auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG erhoben.

3. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Kläger nicht wegen seiner Behinderung benachteiligt worden ist.

a) Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Verstoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus. Das Benachteiligungsverbot in § 7Abs. 1 AGG untersagt im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (st. Rspr., BAG 19. Januar 2023 - 8 AZR 437/21 - Rn. 28 mwN).

b) Der Kläger wurde dadurch unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt, dass er von der Beklagten für das ausgeschriebene Förderprogramm nicht berücksichtigt wurde, denn er hat eine weniger günstige Behandlung erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Darauf, ob es überhaupt andere Bewerberinnen und Bewerber gegeben hat, ob deren Bewerbungen Erfolg hatten und ob sie die Stelle angetreten haben, kommt es nicht an (vgl. BAG 14. Juni 2023 - 8 AZR 136/22 - Rn. 16; 31. März 2022 - 8 AZR 238/21 - Rn. 15).

c) Allerdings hat der Kläger - wie das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen hat - die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG nicht wegen seiner Behinderung erfahren. Der Kläger hat keine hinreichenden Indizien iSv. § 22 AGG vorgetragen bzw. unter Beweis gestellt, die eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten ließen.

aa) Das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG erfasst nicht jede Ungleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund bzw. zwischen der Benachteiligung und der Schwerbehinderung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen (st. Rspr., vgl. BAG 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21 - Rn. 26 mwN).

(1) Bei schwerbehinderten Menschen und diesen gleichgestellten behinderten Menschen begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung iSv. § 22 AGG (st. Rspr., vgl. BAG 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21 - Rn. 30 mwN).

(2) Nach § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX haben die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 SGB IX genannten Vertretungen unmittelbar nach Eingang über Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen zu unterrichten. Nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Beide Bestimmungen enthalten Verfahrenspflichten, deren Verletzung nach der Rechtsprechung des Senats die Vermutung iSv. § 22 AGG begründet, dass die Benachteiligung auf der (Schwer)Behinderung beruht (zu § 164 Abs. 1 Satz 4 SGB IX: vgl. BAG 14. Juni 2023 - 8 AZR 136/22 - Rn. 40; zu § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX aF als Vorgängervorschrift des § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX: vgl. BAG 20. Januar 2016 - 8 AZR 194/14 - Rn. 36, 40).

bb) Das Landesarbeitsgericht ist jedoch zutreffend davon ausgegangen, dass sich der Kläger nicht auf die Verfahrenspflichten aus § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zugunsten schwerbehinderter Menschen berufen kann. Der Kläger ist nach § 2Abs. 2 SGB IX nicht schwerbehindert, weil bei ihm kein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Der Kläger ist in Bezug auf die Bewerbung um das von der Beklagten ausgeschriebene Förderprogramm auch nicht als einem schwerbehinderten Menschen iSv. § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt anzusehen.

(1) Nach der Rechtsprechung des Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Schwerbehindertenvertretung vor der beabsichtigten Umsetzung eines Arbeitnehmers (vorsorglich) zu unterrichten und anzuhören, wenn der Arbeitnehmer die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen zwar beantragt und dies dem Arbeitgeber mitgeteilt hat, über den Gleichstellungsantrag jedoch noch nicht entschieden worden ist (BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 25 ff., BAGE 169, 267). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat für die vorliegende Fallgestaltung der Bewerbung eines behinderten Menschen an. Ob Beteiligungspflichten nach § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bestehen, ist nach den Umständen während des Bewerbungsverfahrens zu beurteilen.

(a) Nach dem Wortlaut von § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 151 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX greifen diese Bestimmungen nur ein, wenn der Bewerber während des Bewerbungsverfahrens bereits schwerbehindert oder durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit mit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist. Die Gleichstellung erfolgt auf Antrag des Behinderten nach § 151Abs. 2 Satz 1 SGB IX durch rechtsbegründenden Verwaltungsakt der Bundesagentur für Arbeit und wirkt konstitutiv. Ist über den Gleichstellungsantrag des behinderten Bewerbers während des laufenden Bewerbungsverfahrens nicht positiv entschieden, sind die Voraussetzungen für die Verpflichtungen nach § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX daher nicht erfüllt. Der Bewerber unterfällt zu diesem Zeitpunkt nicht dem Anwendungsbereich des 3. Teils des SGB IX. Gegenteiliges folgt nicht aus § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX, wonach die Gleichstellung mit dem Tag des Eingangs des Antrags wirksam wird. Diese Rückwirkung wird erst durch den stattgebenden Gleichstellungsbescheid begründet, weshalb sie im Laufe des Bewerbungsverfahrens noch nicht eingetreten ist (vgl. ausführlich BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 27, BAGE 169, 267).

(b) Die Auslegung nach dem Wortlaut wird durch systematische Erwägungen bestätigt.

(aa) Die in § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX angeordnete Rückwirkung des konstitutiven Gleichstellungsbescheids ist, wie die Vorschriften zum Wahlverfahren in § 177 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX zeigen, insbesondere im Zusammenhang mit der kollektiven Interessenvertretung durch die Schwerbehindertenvertretung eingeschränkt. Behinderte Menschen, deren Antrag auf Gleichstellung am Wahltag noch nicht positiv beschieden ist, sind nicht berechtigt, die Schwerbehindertenvertretung zu wählen. Auch bei der Ermittlung der für die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung nach § 177 Abs. 1 SGB IX erforderlichen Mindestanzahl von fünf schwerbehinderten Menschen sind Beschäftigte mit einem GdB von 30 oder 40 nur dann zu berücksichtigen, wenn sie am Wahltag bereits durch Bescheid der Bundesagentur für Arbeit gleichgestellt sind (vgl. ausführlich: BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 30 f., BAGE 169, 267; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof 1. Juli 1987 - 18 C 87.00852 -).

(bb) Auch die Regelung zur Einschränkung des Sonderkündigungsschutzes in § 173 Abs. 3 SGB IX spricht in systematischer Hinsicht für das hier gefundene Ergebnis. § 173Abs. 3 SGB IX verdeutlicht, dass der Gesetzgeber die Problematik eines laufenden Anerkennungs- bzw. Gleichstellungsverfahrens erkannt hat. Wenn der Gesetzgeber beabsichtigt hätte, die Verfahrenspflichten nach § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX auch für Bewerbungen behinderter Menschen, über deren Gleichstellungsantrag zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bewerbung noch nicht entschieden ist, vorzusehen, hätte es gerade angesichts der konstitutiven Wirkung des Gleichstellungsbescheids nahegelegen, hier eine vergleichbare Regelung aufzunehmen (vgl. ausführlich BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 32 ff., BAGE 169, 267).

(c) Sinn und Zweck der in § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelten Beteiligungspflichten sprechen ebenfalls dagegen, diese bereits anzuwenden, wenn über den Gleichstellungsantrag des Bewerbers noch nicht entschieden ist. Der Zweck dieser Verfahrensvorschriften, die verstärkte Einstellung und Eingliederung schwerbehinderter Menschen zu fördern, kann im Bewerbungsverfahren nur gezielt verfolgt werden, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass sich ein schwerbehinderter oder gleichgestellter Mensch bewirbt (vgl. ausführlich BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 35 ff., BAGE 169, 267). In der Bewerbungssituation ist es auch im Hinblick auf die Beschäftigungsquote des § 154 Abs. 1 SGB IX von Bedeutung, dass über den Gleichstellungsantrag bereits entschieden ist, damit der Arbeitgeber ggf. eine Person einstellen kann, die durch die Beschäftigungsquote des § 154 Abs. 1 SGB IX tatsächlich gefördert werden soll.

(2) Gegen das Ergebnis, dass die Verfahrenspflichten aus § 164Abs. 1 Satz 4 und § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX im Bewerbungsverfahren erst nach einer positiven Entscheidung über den Gleichstellungsantrag eingreifen, kann der Kläger nicht mit Erfolg einwenden, das Gleichstellungsverfahren werde dadurch sinnentleert. Der Kläger macht geltend, ein erfolgversprechender Gleichstellungsantrag könne erst gestellt werden, wenn eine konkrete Stelle ausgeschrieben sei, sodass der Gleichstellungsbescheid regelmäßig erst nach Abschluss des Bewerbungsverfahrens ergehe. Entgegen der Auffassung des Klägers wird dem Bewerber die Möglichkeit einer Gleichstellung in der Bewerbungssituation nicht unverhältnismäßig erschwert.

(a) Nach § 2 Abs. 3 Alt. 1 SGB IX kann eine Gleichstellung bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen erfolgen, wenn ein Mensch infolge seiner Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz iSd. § 156 SGB IX nicht erlangen kann. Die Gleichstellung für die Stellensuche nach Maßgabe des sog. Erlangungstatbestands setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts voraus, dass der behinderte Mensch einen konkreten Arbeitsplatz erlangen will. Für eine Gleichstellung ist nicht ausreichend, dass es - abstrakt betrachtet - (irgendwelche) Arbeitsplätze gibt, für deren Erlangung der behinderte Mensch der Gleichstellung bedürfte (BSG 6. August 2014 - B 11 AL 5/14 R - Rn. 19).

(b) Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich daraus nicht, dass ein erfolgversprechender Gleichstellungsantrag stets erst gestellt werden kann, wenn eine konkrete Stelle ausgeschrieben ist, sodass aufgrund der üblichen Dauer eines Gleichstellungsverfahrens zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bewerbung regelmäßig noch kein Gleichstellungsbescheid vorliegt. Zweck der Gleichstellung ist es, die ungünstige Konkurrenzsituation der behinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und somit die Vermittlungschancen zu erhöhen (BSG 6. August 2014 - B 11 AL 16/13 R - Rn. 13, BSGE 116, 272; 1. März 2011 - B 7 AL 6/10 R - Rn. 12, BSGE 108, 4). Die Bundesagentur für Arbeit verlangt für eine Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 Alt. 1 SGB IX deswegen, dass der Antragsteller perspektivisch die Erlangung eines konkreten Arbeitsplatzes anstrebt. Die Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt bemisst sich dabei anhand des Berufs bzw. der Tätigkeit, auf den bzw. die sich die Stellensuche bezieht (Zielberuf). Ein konkretes Stellenangebot muss dagegen für eine Gleichstellung durch die Bundesagentur für Arbeit nicht vorliegen (Bundesagentur für Arbeit Fachliche Weisungen Neuntes Buch Sozialgesetzbuch § 2SGB IX Begriffsbestimmungen Stand September 2023 unter Ziff. 3.4 Abs. 2 und Abs. 4 "Gleichstellung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes"). Die Gleichstellung erfolgt danach nicht bezogen auf eine einzelne Stellenausschreibung, sondern wird unbefristet oder nach § 151 Abs. 2 Satz 3 SGB IX befristet bewilligt und kann für eine Vielzahl von Bewerbungen oder Vermittlungsversuchen die Wettbewerbsfähigkeit behinderter Menschen in der Konkurrenz um freie Arbeitsplätze stärken.

(3) Eine andere Auslegung der § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht unter Berücksichtigung von Art. 1, 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a, e, i und k iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Der Kläger kann nicht mit Erfolg geltend machen, zum Zeitpunkt der Bewerbung nicht gleichgestellte behinderte Menschen würden in Bezug auf die Verfahrensvorschriften aus § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX gegenüber schwerbehinderten Menschen benachteiligt.

(a) Behinderte Menschen, die nicht iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX schwerbehindert sind, werden zwar vom Schutz der Richtlinie 2000/78/EG und der UN-Behindertenrechtskonvention erfasst. Gleichwohl sind § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nicht dahin auszulegen, dass sie auch dann anzuwenden sind, wenn über den Gleichstellungsantrag eines behinderten Menschen noch nicht entschieden worden ist. Auch insoweit schließt sich der Senat der Rechtsprechung des Siebten Senats des Bundesarbeitsgerichts an. Insbesondere stellen die in § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX geregelten Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung keine angemessenen Vorkehrungen iSv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie von Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i iVm. Art. 2 Unterabs. 3 und Unterabs. 4 der UN-BRK dar (vgl. BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 38 ff., BAGE 169, 267). Soweit der Kläger ergänzend auf Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a, e und k UN-BRK verweist, ergibt sich daraus nichts anderes.

(b) Ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst. Die vorliegend maßgeblichen unionsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt (vgl. EuGH 11. September 2019 - C-397/18 - [Nobel Plastiques Ibérica] Rn. 64; 11. April 2013 - C-335/11 ua. - [HK Danmark, auch genannt "Ring, Skouboe Werge"] Rn. 49, 54 f.; vgl. zur Umsetzung BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 47, BAGE 169, 267).

(4) Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts steht nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in den Entscheidungen vom 7. April 2011 (- 2 B 79.10 - Rn. 6) und 17. April 2020 (- 2 B 7.20 - Rn. 11) ausgeführt hat, der Dienstherr höre vorsorglich die Schwerbehindertenvertretung an, wenn ihn der Beamte über seinen Gleichstellungsantrag unterrichte, lagen dem andere Fallgestaltungen zugrunde. Die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts betreffen die von der vorliegenden Bewerbungssituation zu unterscheidende Konstellation einer auf Dienstunfähigkeit gestützten Versetzung in den Ruhestand sowie einer Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. In beiden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich im Übrigen um ein die jeweilige Entscheidung nicht tragendes obiter dictum (vgl. zu BVerwG 7. April 2011 - 2 B 79.10 -: BAG 22. Januar 2020 - 7 ABR 18/18 - Rn. 49, BAGE 169, 267).

cc) Die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft. Sie greifen nicht durch. Der Senat sieht von einer Begründung ab (§ 564 Satz 1 ZPO).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.



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