Bundesarbeitsgericht

Urteil vom - Az: 8 AZR 164/22

Können schwerbehinderte Bewerber einen Ersatztermin verlangen?

Die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung schwerbehinderter Menschen zu einem Vorstellungsgespräch nach § 165 Satz 3 SGB IX beinhaltet auch das Erfordernis einen Ersatztermin anzubieten, wenn der sich bewerbende schwerbehinderte Mensch seine Verhinderung vor der Durchführung des vorgesehenen Termins unter Angabe eines hinreichend gewichtigen Grundes mitteilt und dem Arbeitgeber die Durchführung eines Ersatztermins zumutbar ist.
(Leitsatz des Gerichts)

Im konkreten Streitfall bewarb sich der Kläger mit Verweis auf seine Schwerbehinderung auf eine Stellenausschreibung der beklagten Stadt für die Ausländerbehörde als "Fallmanager*innen im Aufenthaltsrecht". Die Ausschreibung betonte, dass "schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber" bei gleicher Eignung und Qualifikation bevorzugt behandelt würden. Aufgrund einer Terminkollision konnte der Kläger die Einladung zum Vorstellungsgespräch nicht annehmen und bat um einen Ersatztermin. Die Beklagte lehnte einen Ersatztermin ab, da das Stellenbesetzungsverfahren nicht verzögert werden könne und die Auswahlkommission aufgrund anderer Termine zeitnah nicht erneut zusammenkommen könne. Der Kläger argumentierte, dass die Beklagte gemäß § 165 S. 3 SGB IX verpflichtet gewesen sei, einen Alternativtermin anzubieten, und forderte eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Antidiskriminierungsgesetz (AGG) in Höhe von mindestens 5.000 Euro. Dies wurde jedoch abgelehnt.
Das BAG sah keinen Verstoß gegen das AGG und lehnte einen Anspruch nach § 15 Abs. 2 AGG ab. Obwohl ein schwerbehinderter Bewerber grundsätzlich Anspruch auf ein Ersatzangebot habe, um die Chancen im Bewerbungsverfahren zu verbessern, sei dies in diesem Fall aufgrund der Dringlichkeit der Stellenbesetzung und der Vielzahl anderer Bewerbungsverfahren für die Beklagte nicht zumutbar gewesen.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor

Die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 5. November 2021 - 3 Sa 840/20 - wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über einen Anspruch der klagenden Partei auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts und einer Behinderung.

Die schwerbehinderte klagende Partei wurde zweigeschlechtlich geboren und bezeichnet sich als Hermaphrodit.

Mit einer E-Mail vom 16. September 2019 bewarb sie sich unter Angabe der Schwerbehinderung auf eine Stellenausschreibung der beklagten Stadt, mit der diese für ihre Ausländerbehörde "Fallmanager*innen im Aufenthaltsrecht" suchte und dabei mitteilte, dass "schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber" gleicher Eignung und Qualifikation bevorzugt behandelt würden.

In ihrer Bewerbung bat die klagende Partei im Rahmen des Auswahlverfahrens die Anrede "Sehr geehrte* Herm F" zu verwenden. Die Abkürzung "Herm" stehe für die ersten vier Buchstaben von Hermaphrodit.

Mit E-Mail vom 4. November 2019 wandte sich die Beklagte unter Verwendung der Anrede "Sehr geehrte(r) Frau/Herr F" an die klagende Partei und lud sie zu einem Vorstellungsgespräch am Montag, den 18. November 2019, um 12:30 Uhr in den Räumen der Beklagten ein. Die klagende Partei wurde um eine kurze telefonische Nachricht gebeten, sofern sie diesen Termin nicht wahrnehmen könne.

Am 6. November 2019 teilte die klagende Partei per E-Mail mit, dass sie am Montag, den 18. November 2019, "schon einen anderen Termin in Brandenburg" habe, weshalb sie um einen Ersatztermin bitte.

Die Beklagte führte im Jahr 2019 insgesamt 202 Stellenbesetzungsverfahren durch. Daran nahmen neben der Personalverwaltung und der Leitung des jeweiligen Fachdienstes, in dem die Stelle zu besetzen war, der Personalrat, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte sowie ggf. die Schwerbehindertenvertretung teil. Die Vorstellungsgespräche fanden vor einer Auswahlkommission statt. In der Ausländerbehörde der Beklagten lag die Wartezeit für terminierte Vorsprachen bei Fallmanagern in der zweiten Jahreshälfte 2019 bei sieben Monaten.

Die Beklagte teilte der klagenden Partei mit E-Mail vom 7. November 2019 unter der Anrede "Sehr geehrte Herm F" mit, dass kein Ersatztermin eingeräumt werden könne, weil das Stellenbesetzungsverfahren nicht weiter verzögert werden solle. Die Auswahlkommission könne aufgrund anderer Termine zeitnah nicht nochmals zusammenkommen.

Zum Vorstellungsgespräch am 18. November 2019 erschien die klagende Partei nicht.

Mit E-Mail vom 7. Januar 2020 erkundigte sie sich bei der Beklagten nach dem Sachstand und reichte noch am selben Tag unter Bezugnahme auf ihre Nichteinstellung eine Klage auf Zahlung einer Entschädigung wegen Diskriminierung iHv. mindestens 5.000,00 Euro ein. Die Klage wurde der Beklagten am 15. Januar 2020 zugestellt. Diese lehnte die Zahlung einer Entschädigung ab.

Die klagende Partei hat die Auffassung vertreten, dass sie sowohl wegen ihres Geschlechts als auch ihrer Behinderung im Auswahlverfahren diskriminiert worden sei. Ersteres indiziere schon die Stellenausschreibung. Die Verwendung des sog. Gendersterns ("Fallmanager*innen") bedeute eine Diskriminierung von Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht angehören. Der Genderstern stelle keine geschlechtsneutrale Formulierung dar, sondern schließe Hermaphroditen als biologisch und genetisch eigenständige Gruppe aus. Dem fehlenden Willen der Beklagten zur Berücksichtigung von Hermaphroditen entspreche auch die Formulierung "schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber", die sich gleichfalls nur auf Männer und Frauen beziehe. Zudem habe die Beklagte in ihrer E-Mail vom 4. November 2019 nicht die gewünschte Anrede "Herm" verwandt.

Die Beklagte habe zudem gegen ihre nach § 165 Satz 3 SGB IX bestehende Pflicht zur Einladung schwerbehinderter Menschen zu einem Vorstellungsgespräch verstoßen. Sie habe auf die begründete Absage des angebotenen Termins trotz entsprechender Bitte keinen Alternativtermin angeboten.

Die klagende Partei hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die jedoch 5.000,00 Euro nicht unterschreiten sollte.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die klagende Partei ihr Klageziel weiter.

 

Gründe

Die zulässige Revision der klagenden Partei ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist nicht begründet.

I. Die Klage ist zulässig. Der Klageantrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Die klagende Partei durfte die Höhe der von ihr begehrten Entschädigung in das Ermessen des Gerichts stellen (st. Rspr., statt vieler nur BAG 25. November 2021 - 8 AZR 313/20 - Rn. 13, BAGE 176, 226).

II. Die Klage ist aber unbegründet. Die klagende Partei hat keinen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG.

1. Der persönliche Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist zwar eröffnet. Die klagende Partei fällt aufgrund der Bewerbung für ein Beschäftigungsverhältnis nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG unter den persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Die Beklagte ist Arbeitgeberin iSv. § 6 Abs. 2 AGG.

2. Die klagende Partei hat den Entschädigungsanspruch auch frist- und formgerecht geltend gemacht und eingeklagt (§ 15 Abs. 4 AGG, § 61b Abs. 1 ArbGG).

3. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG sind jedoch nicht erfüllt. Die klagende Partei wurde durch die Zurückweisung ihrer Bewerbung zwar unmittelbar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt (vgl. BAG 31. März 2022 - 8 AZR 238/21 - Rn. 15). Sie hat aber nicht hinreichend dargelegt, dass sie diese Benachteiligung iSv. § 7 Abs. 1 AGG wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen ihrer Schwerbehinderung nach § 164 Abs. 2 SGB IX erfahren hat.

a) Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG, das einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte zu gewährleisten hat, untersagt im Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes, ua. wegen des Geschlechts und wegen einer Behinderung. Das spezielle Benachteiligungsverbot des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verbietet eine Benachteiligung wegen einer Schwerbehinderung. Im Einzelnen gelten hierzu nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGB IX die Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Zwischen der Benachteiligung und einem in § 1 AGG genannten Grund bzw. zwischen der Benachteiligung und der Schwerbehinderung muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. BAG 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21 - Rn. 23 ff.).

b) Grundsätzlich trägt die Person, die einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend macht, die Darlegungslast für das Vorliegen seiner Voraussetzungen. § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang jedoch eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. einer Schwerbehinderung vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Es bedarf des Vortrags von Indizien, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen der Schwerbehinderung erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen (BAG 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21 - Rn. 28 f.; 1. Juli 2021 - 8 AZR 297/20 - Rn. 20 mwN, BAGE 175, 228).

c) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die klagende Partei keine Benachteiligung wegen ihres Geschlechts dargelegt.

aa) Der Begriff des Geschlechts in § 1 AGG bezieht sich auf die biologische Zuordnung zu einer Geschlechtsgruppe und erfasst auch die geschlechtliche Identität von Menschen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind (vgl. ErfK/Schlachter 23. Aufl. AGG § 1 Rn. 7; Schaub ArbR-HdB/Ahrendt 20. Aufl. § 36 Rn. 6; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. September 2023 AGG § 1 Rn. 5; Bauer/Krieger/Günther AGG und EntgTranspG 5. Aufl. § 1 AGG Rn. 25; BeckOGK/Baumgärtner Stand 1. September 2023 AGG § 1 Rn. 108; Erman/Armbrüster BGB 17. Aufl. § 1 AGG Rn. 7; HWK/Rupp 10. Aufl. § 1 AGG Rn. 4). Damit werden intersexuelle, zweigeschlechtliche bzw. intergeschlechtliche Menschen vor geschlechtsbezogenen Benachteiligungen geschützt (vgl. Däubler/Beck/Däubler 5. Aufl. § 1 AGG Rn. 48; Hoffmann JZ 2021, 484, 488; MüKoBGB/Thüsing 9. Aufl. § 1 AGG Rn. 22; NK-ArbR/Schneider 2. Aufl. AGG § 1 Rn. 11; AR/Kappenhagen 10. Aufl. § 1 AGG Rn. 5; Körlings NZA 2018, 282; v. Roetteken AGG Stand Juni 2023 § 1 Rn. 404; Staudinger/Serr [2020] § 1 AGG Rn. 20). Dies entspricht dem verfassungsrechtlichen Verständnis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG) und des besonderen Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG (vgl. hierzu BVerfG 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16 - Rn. 36 ff., BVerfGE 147, 1). Soweit die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1780 S. 31) formuliert, dass das weitere Merkmal "sexuelle Identität" auch "zwischengeschlechtliche Menschen" erfasse, erhöht dies das Schutzniveau bezüglich des Merkmals "sexuelle Identität", steht aber einer Berücksichtigung dieser Personengruppe beim Merkmal "Geschlecht" nicht entgegen.

Wegen des durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gewährleisteten Schutzes zweigeschlechtlicher Menschen kann dahinstehen, ob das Unionsrecht diesen ebenfalls gewährleistet oder ob es sich um eine günstigere nationale Vorschrift handelt (vgl. zum Unionsrecht: Dutta/Fornasier NZA 2021, 605, 608; Hoffmann JZ 2021, 484, 487; EuArbRK/Mohr 5. Aufl. RL 2006/54/EG Art. 1 Rn. 15; Körlings NZA 2018, 282; Preis/Sagan/Grünberger/Husemann EuArbR 2. Aufl. Rz. 5.74 ff.).

bb) Die klagende Partei hat keine Indizien iSv. § 22 AGG vorgetragen, aus denen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf geschlossen werden könnte, dass sie wegen ihrer Zweigeschlechtlichkeit benachteiligt worden ist.

(1) Aus der Verwendung des Gendersterns bei der Stellenausschreibung ("Fallmanager*innen") kann nicht geschlossen werden, dass nicht eingestellte zweigeschlechtliche Menschen im Auswahlverfahren wegen ihres Geschlechts benachteiligt wurden.

(a) Schreibt der Arbeitgeber eine Stelle entgegen § 11 AGG unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG aus, kann dies die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass die sich erfolglos bewerbende Person im Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren wegen eines Merkmals iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde. Zur Vermeidung der Vermutungswirkung in Bezug auf das in § 1 AGG enthaltene Merkmal "Geschlecht" hat eine Ausschreibung daher geschlechtsneutral zu erfolgen. Sie muss sich an Menschen jedweden Geschlechts richten, nicht nur an Männer und Frauen (vgl. Dutta/Fornasier NZA 2021, 605, 608; Bettinghausen BB 2018, 372, 374; Jacobs RdA 2018, 263, 269; v. Roetteken AGG Stand September 2019 § 11 Rn. 145 ff.).

(b) Unter einer Ausschreibung iSv. § 11 AGG ist die an eine unbekannte Vielzahl von Personen gerichtete Aufforderung eines Arbeitgebers zu verstehen, sich auf die ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Stellenausschreibungen sind deshalb - wie typische Willenserklärungen und Allgemeine Geschäftsbedingungen - nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen potentiellen Bewerbern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten der durchschnittlichen sich bewerbenden Person zugrunde zu legen sind (BAG 29. April 2021 - 8 AZR 279/20 - Rn. 42 mwN, BAGE 175, 39).

(c) Hiervon ausgehend kann die hier zu beurteilende Ausschreibung der Beklagten nur dahin gehend verstanden werden, dass sie sich an Menschen jedweden Geschlechts richten soll. Entgegen der Auffassung der Revision wird dies bei objektiver Betrachtung durch den Genderstern gerade zum Ausdruck gebracht. Der Genderstern drängt kein "drittes Geschlecht als Lückenbüßer zwischen Mann und Frau" (so aber Körlings NZA 2018, 282, 283). Ebenso wenig verleugnet er die Existenz zweigeschlechtlicher Menschen. Er symbolisiert nach allgemeinem Sprachgebrauch vielmehr alle Geschlechter (vgl. LAG Schleswig-Holstein 22. Juni 2021 - 3 Sa 37 öD/21 - Rn. 28; zustimmend: ErfK/Schlachter 23. Aufl. AGG § 1Rn. 7; BRHP/Horcher AGG 5. Aufl. § 11 Rn. 11; BeckOK ArbR/Roloff Stand 1. September 2023 AGG § 1 Rn. 5; Wernecke/Heinen DB 2021, 2296; Weth/Albert in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger jurisPK-BGB 10. Aufl. Stand 1. Februar 2023 § 1 AGG Rn. 14; Bafteh/Schönbrunn BB 2021, 2424, 2427). Durch die Verwendung des Gendersterns als symbolhaftes Sonderzeichen wird typischerweise mitgeteilt, dass sich die Ausschreibung an jede die Anforderungen erfüllende Person richtet und das Geschlecht - gleich welches - bei der Auswahlentscheidung keine Rolle spielen wird. Dieses geschlechterübergreifende Sprachverständnis wird bestätigt durch die Verwendung des Gendersterns durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (vgl. www.antidiskriminierungsstelle.de Suchbegriff "Genderstern", Meldung vom 27. Februar 2023). Die mit dem Genderstern verdeutlichte Irrelevanz des Geschlechts würde auch die von der Revision beschriebene Gruppe von Hermaphroditen erfassen, die "überhaupt keine Geschlechtsidentität" aufweisen. Dabei ist ohne Belang, welche Herkunft der Genderstern hat und ob er von allen sprachwissenschaftlichen Autoritäten anerkannt wird. So ist beispielsweise die im August 2020 gefasste Position der Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. zur Verwendung des "Gendersternchens" kritisch in Bezug auf Orthografie und Grammatik. Solche Bedenken beeinflussen aber nicht das Verständnis des durchschnittlichen Adressatenkreises der Ausschreibung. Für diesen ist entscheidend, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht nur Personen bestimmter Geschlechter angesprochen werden sollen.

(2) Auch die Ansprache "schwerbehinderter Bewerberinnen und Bewerber" im weiteren Text der Stellenausschreibung indiziert keine Benachteiligung zweigeschlechtlicher Menschen. Die Formulierung bezieht sich zwar nur auf Männer und Frauen. Aus dem Gesamtzusammenhang der Ausschreibung ergibt sich jedoch, dass auch schwerbehinderte zweigeschlechtliche Menschen zu einer Bewerbung aufgefordert werden sollen. Schon der voranstehend verwendete Genderstern verdeutlicht die Geschlechtsneutralität. Für eine Einschränkung des Adressatenkreises bei schwerbehinderten Menschen fehlen jegliche Anhaltspunkte.

(3) Schließlich indiziert auch die in der E-Mail der Beklagten vom 4. November 2019 unterlassene Verwendung der Anrede "Sehr geehrte* Herm" keine Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zwar hat die klagende Partei schon bei ihrer Bewerbung einen entsprechenden Anredewunsch geäußert. Die Nichtberücksichtigung dieses Wunsches lässt aber nicht auf eine Benachteiligung schließen, da der Arbeitgeber auch aus Gründen des Diskriminierungsschutzes nicht gehalten ist, eine eher unbekannte und unübliche Ausdrucksweise zu verwenden. Zudem hat die Beklagte hier in ihrer weiteren E-Mail vom 7. November 2019 wunschgemäß die Anrede "Herm" verwendet. Allein dies entkräftet das Vorbringen der klagenden Partei.

(4) Soweit die Beklagte im Laufe des Rechtsstreits vereinzelt die maskuline Form "Kläger" in Schriftsätzen benutzt hat, kann hieraus kein Rückschluss auf eine Benachteiligung im bereits vorher abgeschlossenen Auswahlverfahren gezogen werden.

d) Die klagende Partei hat auch keine Benachteiligung wegen ihrer (Schwer)Behinderung dargelegt. Eine solche wird vorliegend nicht durch die unterbliebene Durchführung eines Vorstellungsgesprächs indiziert.

aa) Nach § 165 Satz 1 SGB IX melden die Dienststellen der öffentlichen Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit ua. frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze. Nach § 165 Satz 3 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die sich auf einen solchen Arbeitsplatz beworben haben, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Insoweit ist der schwerbehinderte bzw. diesem gleichgestellte Bewerber im Bewerbungsverfahren besser gestellt als nicht schwerbehinderte Konkurrenten (BAG 23. Januar 2020 - 8 AZR 484/18 - Rn. 48, BAGE 169, 302). Schwerbehinderte Bewerber sollen durch das in § 165 Satz 3 SGB IX genannte Vorstellungsgespräch ihre Chancen im Auswahlverfahren verbessern können (BAG 1. Juli 2021 - 8 AZR 297/20 - Rn. 29, BAGE 175, 228). Nach § 165 Satz 4 SGB IX ist eine Einladung nur entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt (vgl. hierzu: BAG 19. Januar 2023 - 8 AZR 437/21 - Rn. 36 ff.; 11. August 2016 - 8 AZR 375/15 - Rn. 36 f., BAGE 156, 107).

bb) Ein individueller Anspruch bzw. ein individuelles Recht des schwerbehinderten Bewerbers auf eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch besteht nicht (vgl. BAG 26. November 2020 - 8 AZR 59/20 - Rn. 43, BAGE 173, 93, unter Aufgabe von BAG 24. Januar 2013 - 8 AZR 188/12 - Rn. 46). Der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 165 Satz 3 SGB IX geregelte Pflicht zur Einladung begründet aber regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung (BAG 19. Januar 2023 - 8 AZR 437/21 - Rn. 33 mwN). Dies setzt jedoch voraus, dass dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung des Bewerbers bekannt war oder er diese kennen musste (BAG 26. November 2020 - 8 AZR 59/20 - Rn. 32 ff., aaO). Ein Bewerber, der seine Schwerbehinderung bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, muss aufgrund der ihn nach § 241 Abs. 2 iVm. § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Interesse des Arbeitgebers an einem ordnungsgemäßen Auswahl-/Stellenbesetzungsverfahren und an einer möglichst zügigen Entscheidung über die Besetzung der ausgeschriebenen Stelle den potentiellen Arbeitgeber rechtzeitig in Kenntnis setzen (vgl. BAG 17. Dezember 2020 - 8 AZR 171/20 - Rn. 36 ff., BAGE 173, 288; Düwell in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 165 Rn. 8).

cc) Die daraus folgende Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nach § 165 Satz 3 SGB IX ist nicht mit dem Anbieten eines einzigen Vorstellungstermins erfüllt, wenn der schwerbehinderte Mensch seine Verhinderung vor der Durchführung des Termins unter Angabe eines hinreichend gewichtigen Grundes mitteilt und dem Arbeitgeber bei Vornahme einer Gesamtschau das Anbieten eines Ersatztermins in zeitlicher und organisatorischer Hinsicht zumutbar ist (vgl. ErfK/Rolfs 23. Aufl. SGB IX § 165 Rn. 3; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX 5. Aufl. § 165 Rn. 8a). Eine formale Beschränkung der Einladungspflicht auf das Anbieten eines einzigen Termins würde der dargestellten Zielsetzung des § 165 Satz 3 SGB IX, im Auswahlverfahren die Chancen schwerbehinderter Bewerber zu verbessern, nicht gerecht (Reus/Mühlhausen NZS 2012, 534, 535; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens SGB IX aaO).

dd) Ob ein Ersatztermin angeboten werden muss, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Ausgehend von der wechselseitigen Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 iVm. § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB (vgl. hierzu BAG 7. Februar 2019 - 6 AZR 75/18 - Rn. 33, BAGE 165, 315; 24. Oktober 2018 - 10 AZR 69/18 - Rn. 24), sind sowohl das Interesse des einen Termin absagenden Bewerbers an der Vorstellung als auch das Interesse des öffentlichen Arbeitgebers an einer effizienten Durchführung des Bewerbungsverfahrens zu berücksichtigen.

(1) Informiert der schwerbehinderte Bewerber den öffentlichen Arbeitgeber unter Angabe von Gründen über das beabsichtigte Nichterscheinen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, das Angebot eines Ersatztermins zu prüfen, falls die Absage ein weiterhin bestehendes Interesse an einer Vorstellung erkennen lässt. Ob der Arbeitgeber einen Ersatztermin anbieten muss, hängt vom Gewicht des Verhinderungsgrundes und der Organisation des Auswahlverfahrens ab. Insbesondere bei einer kurzfristigen Erkrankung wird eine Verschiebung der Vorstellung bei organisatorischer Machbarkeit regelmäßig zumutbar sein (Düwell in LPK-SGB IX 6. Aufl. § 165 Rn. 16 mit Verweis auf VG Düsseldorf 16. Juli 2012 - 26 L 854/12 -). Gleiches gilt, falls der Bewerber seine Verhinderung mit Ortsabwesenheit oder einer zeitlichen Kollision mit einem anderen Termin begründet und belegt (zB gebuchte Urlaubsreise, Arztbesuch).

(2) Demgegenüber ist dem Arbeitgeber eine Einschätzung der Situation nicht möglich, wenn der Bewerber zu einem angebotenen Vorstellungstermin ohne Absage nicht erscheint oder die Absage keine nachvollziehbare Begründung anführt. Es ist dann schon nicht ausgeschlossen, dass der Bewerber kein Interesse an der Bewerbung mehr hat. Sollte das Interesse (erkennbar) weiterbestehen, tritt es zurück. Im Rahmen der wechselseitigen Rücksichtnahmepflichten ist es Sache des Bewerbers, seine Beweggründe zu kommunizieren und damit für Klarheit zu sorgen. Dem Arbeitgeber ist es nicht zuzumuten, die Hintergründe des Nichterscheinens bzw. der Absage zu eruieren. Es besteht daher weder eine Verpflichtung des Arbeitgebers zu gesonderter Kontaktaufnahme mit dem Bewerber (vgl. BAG 1. Juli 2021 - 8 AZR 297/20 - Rn. 46, BAGE 175, 228) noch ist ein Ersatztermin veranlasst.

ee) Ausgehend von diesen Grundsätzen begründet vorliegend das unterbliebene Anbieten eines Ersatztermins für ein Vorstellungsgespräch keine Vermutung der Benachteiligung der klagenden Partei wegen ihrer Schwerbehinderung. Die Beklagte war hierzu nicht verpflichtet. Dies hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei erkannt.

(1) Die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung vermuten lassen, ist nur eingeschränkt revisibel. Die revisionsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Würdigung der Tatsachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (BAG 25. November 2021 - 8 AZR 313/20 - Rn. 28 mwN, BAGE 176, 226).

(2) Das Berufungsurteil hält dieser revisionsrechtlichen Kontrolle stand.

(a) Die Beklagte war nach § 165 Satz 3 SGB IX verpflichtet, die klagende Partei zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Die klagende Partei ist schwerbehindert iSv. § 151 Abs. 1, § 2 Abs. 2 SGB IX. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte als öffentliche Arbeitgeberin der Agentur für Arbeit das fragliche Stellenangebot ("Fallmanager*innen im Aufenthaltsrecht") gemäß § 165 Satz 1 SGB IX gemeldet. Die klagende Partei hat sich auf den Arbeitsplatz beworben. Die Beklagte hat kein offensichtliches Fehlen der fachlichen Eignung iSv. § 165 Satz 4 SGB IX behauptet.

(b) Dementsprechend hat sie die klagende Partei mit E-Mail vom 4. November 2019 zu einem Vorstellungsgespräch am 18. November 2019 um 12:30 Uhr eingeladen. Die Einladung ist - wie das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen hat - mit Blick auf die Einladungsfrist und den konkreten Termin, nicht zu beanstanden. Dem tritt die Revision auch nicht entgegen.

(c) Mit der Einladung zum Vorstellungsgespräch vom 4. November 2019 hat die Beklagte ihre Pflicht aus § 165 Satz 3 SGB IX erfüllt, obwohl kein Vorstellungsgespräch stattgefunden hat. Die klagende Partei hat den vorgesehenen Termin nicht wahrgenommen. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Beklagte trotz entsprechender Bitte der klagenden Partei nicht verpflichtet war, diese zu einem Ersatztermin einzuladen, um ihre Verpflichtung als öffentlicher Arbeitgeber aus § 165 Satz 3 SGB IX zu erfüllen.

(aa) Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, dass sich aus der E-Mail vom 6. November 2019 und dem darin enthaltenen Hinweis auf einen "anderen Termin in Brandenburg" nichts zur Bedeutung und Verschiebbarkeit dieses Termins ergebe. Demgegenüber hat das Landesarbeitsgericht die organisatorischen Schwierigkeiten für die Beklagte bei Ermöglichung eines Ersatztermins infolge von über 200 durchzuführenden Stellenbesetzungsverfahren im Jahr 2019 und die Dringlichkeit der konkreten Stellenbesetzung mit Blick auf die langen Bearbeitungszeiten in der Ausländerbehörde der Beklagten im zweiten Halbjahr 2019 berücksichtigt. Diese wechselseitigen Interessen hat das Landesarbeitsgericht abgewogen und angenommen, dass die Interessen der Beklagten am Festhalten an dem vorgesehenen Termin für das Vorstellungsgespräch die Interessen der klagenden Partei an der Ermöglichung eines Ersatztermins überwiegen. Die Revision zeigt insoweit keinen revisiblen Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts auf. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht möglich oder in sich widersprüchlich wäre oder gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstieße.

(bb) Dies gilt - entgegen der Auffassung der Revision - auch soweit das Landesarbeitsgericht angenommen hat, aus der Einladung zum Vorstellungsgespräch vom 4. November 2019 könne nicht geschlossen werden, dass im Falle einer Absage des vorgesehenen Termins für das Vorstellungsgespräch ein Ersatztermin möglich sei. Dabei hat das Landesarbeitsgericht nachvollziehbar darauf abgestellt, dass der Einladung keine Aussage zur Möglichkeit von Ersatzterminen zu entnehmen sei. Die Einladung enthalte nur die Bitte um Benachrichtigung im Falle einer Verhinderung.

e) Soweit die klagende Partei in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eine Benachteiligung wegen ihrer (Schwer)Behinderung ua. noch aus der angeblichen Nichtbeteiligung des Personalrats, der Schwerbehindertenvertretung sowie der behaupteten Nichtbestellung eines Inklusionsbeauftragten abgeleitet hat, handelt es sich um neuen Sachvortrag, der in der Revisionsinstanz nach § 559 Abs. 1 ZPO nicht berücksichtigungsfähig ist.

f) Aus demselben Grund ist eine Benachteiligung wegen eines anderen in § 1 AGG genannten Merkmals im Revisionsverfahren nicht zu prüfen. Bezüglich des Merkmals "Rasse" hat die klagende Partei in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht ausdrücklich zu Protokoll erklärt, die Klage werde nicht auf eine "Diskriminierung wegen der Rasse" gestützt. Dies steht einer entsprechenden Prüfung im Revisionsverfahren entgegen. Es würde sich um eine unzulässige Klageerweiterung handeln (vgl. BAG 18. Februar 2021 - 6 AZR 92/19 - Rn. 15).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.



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