Bundesarbeitsgericht

Urteil vom - Az: 2 AZN 724/20

Arbeitgeber kann nachträglich Kündigungsgründe liefern

In dem zugrunde liegenden Fall war der Kläger Chefarzt einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Die beklagte Klinik hatte das Arbeitsverhältnis im Jahr 2018 außerordentlich gekündigt. Die Kündigung stützte die Beklagte auf eine angebliche Tätlichkeit des Klägers gegenüber einer Mitarbeiterin im Jahr 2015, die der Beklagten erst im Jahr 2018 bekannt wurde. Der Kläger wehrte sich mit einer Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung. Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens schob die Beklagte weitere Kündigungsgründe in den Rechtsstreit nach. Dabei stützte die Beklagte die Kündigung u.a. auf vorsätzliche falsche Abrechnungen von Behandlungen sowie auf Fehlbehandlungen von Patienten durch den Kläger. Der Kläger hielt das Nachschieben dieser Kündigungsgründe für unzulässig.
Für das Nachschieben von Kündigungsgründen, die bei Ausspruch der außerordentlichen Kündigung bereits objektiv vorlagen, gebe es weder in direkter noch in analoger Anwendung Schranken, so das Bundesarbeitsgericht.
Das Bundesarbeitsgericht betonte in der Entscheidung auch, dass ein sachlicher oder zeitlicher Zusammenhang zwischen den schon bekannten und erst nachträglich bekannt gewordenen Kündigungsgründen nicht erforderlich sei.
Insofern sei es sogar möglich, dass eine Kündigung zunächst ohne jeden auch nur ansatzweise tragfähigen Grund gleichsam „blanko“ erklärt werden dürfe, in der Hoffnung, es werde sich im Verlauf des Rechtsstreits noch ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung "offenbaren", der im Zeitpunkt ihres Zugangs - von ihm noch unerkannt - bereits vorlag.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor

1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 26. Mai 2020 - 9 Sa 358/19 - wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

2. Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf 267.075,04 Euro festgesetzt.

 

Gründe

Die auf die Zulassungsgründe aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 ArbGG gestützte Beschwerde ist unzulässig. Sie ist nicht in der von § 72aAbs. 3 Satz 2 Nr. 1 bzw. Nr. 2 ArbGG verlangten Form begründet worden.

I. Zu 3.1 der Beschwerdebegründung fehlt es schon an einer Ableitung (Deduktion) des dem Berufungsgericht auf Seite 4 der Beschwerdebegründung zugeschriebenen Rechtssatzes. Die schlichte Gegenüberstellung der fallbezogenen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts und des vom Beschwerdeführer daraus abgelesenen abstrakten Rechtssatzes reicht regelmäßig nicht aus (BAG 6. Dezember 2006 - 4 AZN 529/06 - Rn. 9). Aus den vom Kläger herangezogenen Ausführungen zu B II 9 der Gründe der anzufechtenden Entscheidung folgt nicht, das Landesarbeitsgericht müsse dieser zwingend den von der Beschwerde selbst formulierten Rechtssatz zugrunde gelegt haben. Mindestens ebenso gut ist möglich, dass es sich mit der nunmehr vom Kläger aufgeworfenen - vermeintlichen - Problematik in Bezug auf das Nachschieben von Gründen für eine außerordentliche Kündigung bei verfristeten "Ursprungsgründen" überhaupt nicht befasst hat. Dann handelte es sich aber allenfalls um eine fehlerhafte Rechtsanwendung, die für sich genommen - selbst wenn sie vorläge - die begehrte Zulassung der Revision nicht zu begründen vermöchte. Überdies ist der vom Kläger dem erkennenden Senat auf Seite 5 der Beschwerdebegründung zugeschriebene Rechtssatz angesichts des Zusatzes "jedenfalls" (nicht: "ausschließlich") nicht in der von der Beschwerde gewünschten Weise divergenzfähig.

II. Hinsichtlich der zu 3.2.1 der Beschwerdebegründung formulierten Fragestellung ist aus den vorgenannten Gründen ebenfalls die Entscheidungserheblichkeit nicht aufgezeigt. Es ist wiederum weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass das Berufungsgericht sich mit der nun vom Kläger aufgeworfenen Frage tatsächlich befasst und sie beantwortet hat (vgl. BAG 21. April 2020 - 7 ABN 78/19 - Rn. 23 aE). Im Übrigen ist auch ihre Klärungsbedürftigkeit nicht ausreichend dargelegt. Hierzu hätte es einer eingehenden Begründung bedurft, dass sich der Senat in seinem Urteil vom 23. Mai 2013 (- 2 AZR 102/12 - Rn. 33) von seiner vorherigen, dort einschränkungslos in Bezug genommenen Rechtsprechung abgesetzt habe, § 626 Abs. 2 BGB bilde - vorbehaltlich eines völligen "Auswechselns" der Kündigungsgründe - weder in direkter noch in analoger Anwendung eine Schranke für das Nachschieben von Kündigungsgründen, die bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung bereits objektiv vorlagen, dem Kündigungsberechtigten aber noch nicht bekannt waren (vgl. BAG 4. Juni 1997 - 2 AZR 362/96 - zu II 3 b der Gründe, BAGE 86, 88). Die "Kündigung als solche" ist in diesem Sinn "rechtzeitig" erklärt, wenn bei ihrem Zugang der nachgeschobene Kündigungsgrund objektiv schon vorlag, aber dem Kündigungsberechtigten seinerzeit noch nicht bekannt war.

III. Für die zu 3.2.4 der Beschwerdebegründung formulierte Fragestellung ist abermals die Entscheidungserheblichkeit nicht dargetan. Es ist weder vom Kläger aufgezeigt noch sonst ersichtlich, dass das Landesarbeitsgericht von einem Extremfall ausgegangen wäre, in dem "die Kündigung" durch ein "Auswechseln" von Gründen einen völlig anderen "Charakter" erhalten hat. Mindestens ebenso gut ist möglich, dass es einen solchen Fall verneint hat. Diesbezüglich beanstandet der Kläger erneut "nur" eine fehlerhafte Rechtsanwendung, die für sich genommen - selbst wenn sie vorläge - die Zulassung der Revision nicht zu rechtfertigen vermöchte. Dessen ungeachtet hat der Senat in einem jüngeren als dem von der Beschwerde herangezogenen Urteil erkannt, dass es ohne Bedeutung ist, ob zwischen den bei Kündigungsausspruch schon bekannten und den erst nachträglich bekannt gewordenen Kündigungsgründen ein sachlicher oder zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. BAG 18. Juni 2015 - 2 AZR 256/14 - Rn. 46; tendenziell gegen eine Ausnahme in "Extremfällen" auch BAG 6. September 2007 - 2 AZR 264/06 - Rn. 21). Ohnehin dürfte die Vorstellung verfehlt sein, eine Kündigung könne durch das "Auswechseln" von Gründen einen anderen "Charakter" erhalten. Die "Kündigung" hat als für sich genommen neutrales Gestaltungsrecht (vgl. BAG 5. Dezember 2019 - 2 AZR 107/19 - Rn. 11) keinen anderen "Charakter", als dass sie das Arbeitsverhältnis - hier: außerordentlich fristlos - auflösen soll. Hingegen belegt der vom Kläger herangezogene § 626 Abs. 2 Satz 3 BGB, dass die Gründe, auf die sie gestützt wird, nicht ihr "integraler Bestandteil" sind. Soweit die Beschwerde unter Hinweis auf Bader (NZA-RR 2020, 140, 142) meint, es könne nicht angehen, dass eine Kündigung zunächst ohne jeden auch nur ansatzweise tragfähigen Grund gleichsam blanko erklärt werden dürfe, übersieht sie, dass die Rechtsordnung ein solches Vorgehen grundsätzlich nicht missbilligt. Das belegen die §§ 4, 7 KSchG, wonach sich der Arbeitnehmer auch gegen eine offenkundig unwirksame Kündigung rechtzeitig gerichtlich zur Wehr setzen muss, wenn diese nicht als wirksam gelten soll. Der Arbeitgeber darf auf den Eintritt der Wirksamkeitsfiktion oder einen gerichtlichen Abfindungsvergleich, aber auch darauf hoffen, es werde sich noch rechtzeitig im Verlauf des Rechtsstreits ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündigung "offenbaren", der im Zeitpunkt ihres Zugangs - von ihm noch unerkannt - bereits vorlag. Grenzen zieht die Rechtsordnung nur dort, wo das Motiv für die Kündigung als solches missbilligt wird, etwa weil sich die Kündigung als sittenwidrig (§ 138 BGB), maßregelnd (§ 612a BGB) oder diskriminierend (§ 7 Abs. 1 iVm. § 1AGG) darstellt. Nach alldem kann es auch keine Rolle spielen, ob ein ursprünglich herangezogener Kündigungsgrund bei Ausspruch der Kündigung bereits verfristet war.

IV. Von einer weiteren Begründung wird nach § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG abgesehen.



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