Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz

Urteil vom - Az: 5 Sa 141/15

"Muss ich oder muss ich nicht?" - Abmahnung nach Rechtsirrtum

(1.) Arbeitnehmerinnen können u.a. dann die Entfernung einer erteilten Abmahnung aus ihrer Personalakte verlangen, wenn die Abmahnung auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens der Arbeitnehmerin beruht.

(2.) Bei einer unklaren Rechtslage handelt eine Arbeitnehmerin bereits fahrlässig, wenn sie sich erkennbar in einem Grenzbereich des rechtlich Zulässigen bewegt, in dem sie eine von der eigenen Einschätzung abweichende Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit des fraglichen Verhaltens in Betracht ziehen muss. Der Geltungsanspruch des Rechts erfordert im Grundsatz, dass der Schuldner das Risiko eines Rechtsirrtums selbst trägt und es nicht dem Gläubiger überbürden kann.
(Hier: Anwendbarkeit eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis der Arbeitnehmerin, welcher die Pflicht zur Teilnahme an betriebsärztlichen Untersuchungen vorschreibt.)

(2.) Ein Attest kann Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit einer Arbeitnehmerin ausräumen, wenn es hinreichend nachvollziehbar ist.
Die Mindestanforderungen einer Nachvollziehbarkeit erfüllt es jedoch nicht, wenn es dort heißt: "aus fachpsychiatrischer Sicht und hinsichtlich der Prophylaxe gravierender gesundheitlicher Störungen iSd. SGB V derzeit weder Nachtdienste noch Dienste durchgeführt werden können, die vor 7:30 Uhr morgens beginnen", während "reguläre Schichtdienste tagsüber" und "Spätschicht durchgeführt werden können, ohne dass Labilisierungen der Psychopathologie und des Biorhythmus zu erwarten sind". Denn insbesondere sind Diagnose und Therapie nicht angeführt worden.

Im vorliegenden Fall weigerte sich die klagende Arbeitnehmerin, welche als Pflegehelferin bei der Beklagten beschäftigt ist, an einer betriebsärztlichen Untersuchung teilzunehmen. Zuvor war die Klägerin dauerhaft in der Spätschicht eingesetzt gewesen. Nun sollte sie in der Frühschicht arbeiten. Die Versetzung in die Frühschicht griff die Klägerin gerichtlich an - allerdings ohne Erfolg. Vor Beginn der Frühschicht legte die Klägerin dann ein fachärztliches Attest vor, wonach sie vor 7.30 Uhr nicht beschäftigt werden könne. Die Beklagte zweifelte an der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin und veranlasste die Untersuchung beim Betriebsarzt. Zur Teilnahme an dieser Untersuchung war die Klägerin aufgrund des MTV Pro Seniore verpflichtet. Nachdem die Klägerin nicht zur Untersuchung erschienen war, erteilte ihr der Beklagte eine Abmahnung. Die Klägerin hatte ihre Abwesenheit u.a. damit begründet, der MTV Pro Seniore finde auf ihr Arbeitsverhältnis keine Anwendung. Im hiesigen Verfahren verlangt die Klägerin die Entfernung der Abmahnung aus der Akte.
Den Antrag der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht jedoch - wie schon die Vorinstanz - abgelehnt, da kein Entfernungsgrund bestünde. Die Klägerin trage das Risiko für einen Rechtsirrtum selbst. Daher könne die Klägerin sich nicht genügend entschuldigen, wenn sie angebe, sie sei davon ausgegangen nicht zur Teilnahme verpflichtet zu sein bzw. habe ihre Verpflichtung erst noch abschließend prüfen müssen.

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 5. Februar 2015, Az. 7 Ca 945/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Abmahnung.

Die 1968 geborene Klägerin ist seit November 1995 in der C. der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin in Bad Kreuznach als Pflegehelferin zu einem Bruttomonatsentgelt von ca. € 2.400,- in Vollzeit beschäftigt. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di. und des Betriebsrats, dessen Vorsitzende sie war. Im schriftlichen Formulararbeitsvertrag vom 28.09.1995 zwischen der Klägerin und der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der DSK Sozialdienste gGmbH, ist ua. folgendes geregelt:

 „§ 14

Soweit dieser Arbeitsvertrag ausdrückliche Regelungen nicht enthält, gelten die Bestimmungen des Tarifvertrages zwischen der DSK Sozialdienste gGmbH in Rheinland-Pfalz und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Bezirksverwaltung Rheinland-Pfalz, in Kraft seit 1. Juli 1990, längstens jedoch bis zum Zustandekommen eines Tarifvertrages für das jeweilige Tarifgebiet oder die jeweilige Einrichtung. Ab diesem Zeitpunkt gelten dann die Bestimmungen des geschlossenen Tarifvertrages. …“

Die Konzernmuttergesellschaft der Beklagten, die Pro Seniore Consulting und Conception für Senioreneinrichtungen AG, und die Gewerkschaft ver.di vereinbarten am 24.09.2004 einen Manteltarifvertrag (MTV Pro Seniore). Die Konzernmutter schloss den Tarifvertrag auch in Vertretung der in der Anlage A zum MTV genannten Tochtergesellschaften, wozu auch die Beklagte gehört, rechtswirksam ab (vgl. dazu: BAG 17.10.2007 - 4 AZR 1005/06 - NZA 2008, 713). Der MTV ist teils mit Wirkung zum 01.10.2004 und im Übrigen mit Wirkung zum 01.01.2005 in Kraft getreten, die Konzernmutter kündigte ihn zum 31.12.2006.

Die Pflegekräfte der C. arbeiten im Schichtdienst. Die Beklagte setzte die Klägerin über einen längeren Zeitraum hinweg ausschließlich in einer Schicht von 13:30 bis 21:00 Uhr ein. Im Mai 2014 kündigte die Beklagte an, dass sie die Klägerin ab Dienstplan August 2014 zukünftig auch wieder im Frühdienst einsetzen werde. Mit Klageschrift vom 23.06.2014 beantragte die Klägerin die Feststellung, dass die von der Beklagten mit Schreiben vom 13.05.2014 angekündigte Versetzung vom Spätdienst auch in den Frühdienst unwirksam sei. Das Arbeitsgericht Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - hat die Klage mit rechtskräftigem Urteil vom 02.10.2014 (Az. 6 Ca 534/14) abgewiesen.

Der erste Frühdienst der Klägerin sollte laut Dienstplan am 11.08.2014 (Montag), um 6:30 Uhr, beginnen. Am 07.08.2014 legte die Klägerin folgende Bescheinigung eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie aus Idar-Oberstein vom 07.07.2014 vor:

"Bescheinigung zur Vorlage beim Arbeitgeber

Oben genannte Versicherte befindet sich seit dem 21.02.2013 durchgängig in meiner fachärztlichen Behandlung.

Aus fachpsychiatrischer Sicht und hinsichtlich der Prophylaxe gravierender gesundheitlicher Störungen im Sinn des SGB V können derzeit weder Nachtdienst noch Dienste durchgeführt werden die vor 7:30 Uhr morgens beginnen.

Reguläre Schichtdienste tagsüber, Spätschicht können durchgeführt werden ohne dass Labilisierungen der Psychopathologie und des Biorhythmus zu erwarten sind.

Die Bescheinigung gilt vorerst bis zum 30.04.15 und muss dann hinsichtlich ihrer weiteren Indikation noch einmal überprüft werden."

Mit Schreiben vom 08.08.2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie sei bereit, die im Attest vom 07.07.2014 angegebenen Einschränkungen vorläufig zu berücksichtigen. Die Klägerin solle den Frühdienst jeweils von 7:30 bis 15.00 Uhr erbringen. Da sich dem vorgelegten Attest eine konkrete Gesundheitsgefährdung nicht entnehmen lasse, forderte sie die Klägerin auf, sich dem Betriebsarzt vorzustellen. Seit 09.08.2014 ist die Klägerin ununterbrochen arbeitsunfähig krankgeschrieben.

Am 21.08.2014 mailte die Klägerin folgenden von ihrem Rechtsanwalt vorformulierten Fragenkatalog an die Beklagte:

ù  Auf welcher Rechtsgrundlage sehen Sie meine Verpflichtung zur Vorstellung bei einem Betriebsarzt?

ù  Aufgrund welcher Vorschriften des Arbeitssicherheitsgesetzes soll der Betriebsarzt meine Untersuchung vornehmen?

ù  Welche Qualifikation hat der Betriebsarzt, dessen Einschaltung Sie befürworten?

ù  Handelt es sich bei diesem Betriebsarzt um einen festangestellten Betriebsarzt oder um einen niedergelassenen Arzt, der von Ihnen bestellt wurde?

ù  Sind die Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes (§ 87 Abs. 1 Nr. 7) bei der ursprünglichen Entscheidung, ob Sie einen Betriebsarzt einstellen oder einen freiberuflich tätigen Arzt verpflichten oder sich einem überbetrieblichen Dienst anschließen, eingehalten worden und wenn ja wann und wodurch?"

Die Beklagte antwortete der Klägerin mit Schreiben vom 22.08.2014 - auszugsweise - wie folgt:

"In § 4 des Manteltarifvertrages ist geregelt, dass der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich auf Verlangen des Arbeitgebers vor seiner Einstellung ärztlich auf seine körperliche Eignung (Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit) untersuchen zu lassen. Weiter muss er während des Arbeitsverhältnisses bei gegebener Veranlassung dem Verlangen des Arbeitgebers auf Wiederholung dieser Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner entsprechen.

Da Sie durch Ihr ärztliches Attest vom 07.07.2014 entsprechende Veranlassung gegeben haben, sind Ihr Gesundheitszustand und Ihre Arbeitsfähigkeit auf die dargestellten Beeinträchtigungen hin zu überprüfen. …"

Die Klägerin ist zum Untersuchungstermin, der am 25.08.2014 (Montag), um 14:00 Uhr, beim Betriebsarzt in Idar-Oberstein stattfinden sollte, nicht erschienen. Sie hat ihr Fernbleiben zuvor auch nicht entschuldigt. Mit Schreiben vom 27.08.2014 teilte sie der Beklagten mit, sie habe den Untersuchungstermin sowohl aus rechtlichen Erwägungen als auch aus krankheitsbedingten Gründen nicht wahrgenommen. Mit Schreiben vom 04.09.2014 erteilte die Beklagte der Klägerin folgende Abmahnung:

"Abmahnung

Mit Schreiben vom 14.08.2014 haben wir Sie aufgefordert, sich zur Überprüfung dem Betriebsarzt vorzustellen und diesem alle notwendigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Der gegebene Anlass hierfür war, dass Sie am 07.08.2014 ein Attest einreichten, nach welchem aus fachpsychiatrischer Sicht und hinsichtlich der Prophylaxe gravierender gesundheitlicher Störungen im Sinn des SGB V derzeit weder Nachtdienste noch Dienste durchgeführt werden können, die vor 7:30 Uhr morgens beginnen. Da wir eine konkrete Gesundheitsgefährdung den ärztlichen Ausführungen nicht entnehmen konnten, war eine betriebsärztliche Untersuchung erforderlich.

Mit Schreiben vom 21.08.2014 haben Sie verschiedene Rückfragen bezüglich der betriebsärztliche Untersuchung gestellt. Wir haben diese Fragen mit Schreiben vom 22.08.2014 beantwortet und darauf hingewiesen, dass die betriebsärztliche Untersuchung bei Herrn Dr. Ch. E. am 25.08.2014, 14:00 Uhr, stattfindet.

Zu der betriebsärztliche Untersuchung sind Sie jedoch nicht erschienen. Sie haben den Termin im Vorfeld nicht abgesagt und sich am 25.08.2014 nicht in der Einrichtung gemeldet. Erst 2 Tage später, am 27.08.2014, haben Sie schriftlich mitgeteilt, dass Sie aus "rechtlichen Erwägungen", wie auch aufgrund von "tatsächlichen Gegebenheiten" den Termin nicht hätten wahrnehmen können.

Gemäß § 6 Ihres Arbeitsvertrags sind Sie verpflichtet, die übertragenen Arbeiten entsprechend den allgemeinen und besonderen Dienstanweisungen des Arbeitgebers und seines Bevollmächtigten gewissenhaft und ordnungsgemäß durchzuführen. Der Manteltarifvertrag vom 24.09.2004, der über die Verweisung in § 14 Ihres Arbeitsvertrages für die Arbeitsbedingungen "im Übrigen" anwendbar ist, regelt unter § 4 Abs. 1, dass ein Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich auf Verlangen des Arbeitgebers vor seiner Einstellung ärztlich auf seine körperliche Eignung (Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit) untersuchen zu lassen. Er muss während des Arbeitsverhältnisses bei gegebener Veranlassung dem Verlangen des Arbeitgebers auf Wiederholung dieser Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner entsprechen.

Es wäre vorliegend somit ihre Pflicht gewesen, den Termin zur betriebsärztlichen Untersuchung am 25.08.2014 wahrzunehmen. Sollte es Ihnen krankheitsbedingt nicht möglich gewesen sein, den Termin wahrzunehmen, wäre es Ihre Pflicht gewesen, dies unverzüglich vor dem anberaumten Termin, Ihrem Arbeitgeber anzuzeigen und eine entsprechende ärztliche Bescheinigung vorzulegen. Beides haben Sie nicht getan.

In Ihrem Schreiben vom 27.08.2014 ist keine ausreichende Entschuldigung für Ihr Fernbleiben von der betriebsärztlichen Untersuchung zu erkennen. Unabhängig von der bestehenden Arbeitsunfähigkeit haben Sie nicht ausreichend dargelegt, geschweige denn nachgewiesen, eine ärztliche Untersuchung aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen zu können.

Im Übrigen waren Sie keinesfalls berechtigt, den Termin zur betriebsärztlichen Untersuchung eigenmächtig verstreichen zu lassen, selbst wenn Sie dbzgl. eine andere rechtliche Auffassung vertreten.

Für die Zukunft fordern wir Sie auf, den allgemeinen und besonderen Dienstanweisungen des Arbeitgebers und seiner Bevollmächtigten gewissenhaft und ordnungsgemäß Folge zu leisten, insbesondere bei gegebener Veranlassung dem Verlangen des Arbeitgebers auf Durchführung einer betriebsärztlichen Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner zu entsprechen. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass wir Ihr Verhalten nicht tolerieren und dass im Wiederholungsfall die Kündigung Ihres Arbeitsverhältnisses erfolgen kann. …"

Nach Zugang der Abmahnung übersandte der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 18.09.2014 der Beklagten eine weitere Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 29.08.2014 mit folgendem Inhalt:

"Ärztliche Bescheinigung

Frau Ullrich befindet sich in meiner fachärztlichen Behandlung.

Im Rahmen der derzeitigen AU ist es der Versicherten nicht möglich emotional übermäßig belastende Untersuchungstermine wahrzunehmen, daher erscheint sie aus meiner fachärztlichen Sicht nicht in der Lage den geforderten Betriebsarzttermin auszuführen."

Mit ihrer am 16.10.2014 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Abmahnung.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 04.09.2014 zurückzunehmen und aus ihrer Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Entscheidungsgründe wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf Seite 6 bis 9 des erstinstanzlichen Urteils vom 05.02.2015 Bezug genommen. Gegen das am 23.02.2015 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit am 23.03.2015 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 07.05.2015 verlängerten Begründungsfrist mit am 07.05.2015 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Die Klägerin macht zur Begründung der Berufung geltend, das Arbeitsgericht habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht korrekt festgestellt. Es habe den Vorwurf, sie habe den angeordneten Untersuchungstermin beim Betriebsarzt unentschuldigt nicht wahrgenommen, zu ihren Lasten fehlerhaft dargestellt und wiedergegeben. Die Beklagte habe im Schreiben vom 08.08.2014 keine Rechtsgrundlage für ihre Aufforderung, sich von einem Betriebsarzt untersuchen zu lassen, genannt. Gerade die fehlende Angabe einer Rechtsgrundlage sowie die fehlende Angabe über den Zweck der Untersuchung habe sie veranlasst, der Beklagten am 21.08.2014 einen Fragenkatalog zu übermitteln. Die Beklagte habe ihre Fragen teilweise mit Schreiben vom 22.08.2014 beantwortet. Durch dieses Antwortschreiben habe sie erstmals erfahren, dass der Betriebsarzt nicht nur beauftragt worden sei, ihre Leistungsfähigkeit für Frühdienste, sondern - ungeachtet ihrer Krankschreibung durch einen Facharzt für Psychiatrie - auch ihren generellen Gesundheitszustand festzustellen. Das Antwortschreiben sei ihr erst am 23.08.2014 (Samstag) zugegangen. Aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung und auch aus Zeitgründen sei sie nicht in der Lage gewesen, am Samstag oder Sonntag überprüfen zu lassen, ob sie trotz fachärztlicher Krankschreibung berechtigterweise ihren Gesundheitszustand nochmals von einem Betriebsarzt überprüfen lassen müsse. Das Arbeitsgericht habe zu Unrecht ein abmahnungswürdiges Verhalten darin gesehen, dass sie den bereits für den 25.08.2015 (Montag) angesetzten Untersuchungstermin nicht wahrgenommen habe.

Das Arbeitsgericht habe ihr zeitliches Unvermögen zu einer rechtlichen Überprüfung des Antwortschreibens entweder übersehen oder - unausgesprochen - die Ansicht vertreten, dass ein Arbeitnehmer kein Recht habe, Antworten auf einen Fragenkatalog anwaltlich überprüfen zu lassen. Zu einer Überprüfung habe durchaus Anlass bestanden. Nach § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore - seine Anwendbarkeit unterstellt - sei ein Arbeitnehmer während des Arbeitsverhältnisses nur bei "gegebener Veranlassung" verpflichtet, sich auf Veranlassung des Arbeitgebers durch einen Arbeitsmediziner untersuchen zu lassen. Die tarifliche Vorschrift sei auch iSd. § 275 SGB V auszulegen. Eine Veranlassung für die geforderte Untersuchung iSd. 4 Ziff. 1 MTV könne allenfalls bejaht werden für die Frage, ob sie - wie fachärztlich festgestellt - aus psychiatrischer Sicht keinen Nachtdienst leisten könne. Es habe jedoch keine Veranlassung bestanden, ihren Gesundheitszustand in toto von einem Betriebsarzt untersuchen zu lassen, nachdem sie von einem Facharzt für Psychiatrie krankgeschrieben worden sei. Da die Beklagte die Krankschreibung selbst nicht bezweifelt habe, habe bereits deshalb keine "gegebene Veranlassung" bestanden. Jedenfalls sei sie berechtigt gewesen, die Frage, ob eine Veranlassung zur betriebsärztliche Untersuchung vorliege, anwaltlich überprüfen zu lassen. Diese Überprüfung sei ihr jedoch verwehrt worden. Sie habe den Untersuchungstermin vom 25.08.2014 daher zu Recht nicht wahrgenommen.

Das Arbeitsgericht habe nicht geprüft, ob es ihr aufgrund psychiatrischer Anamnese zumutbar gewesen sei, von ihrem Wohnort im Hunsrück mit dem Pkw zu dem Betriebsarzt in Idar-Oberstein zu fahren. Sie habe in der Folgezeit - trotz ihrer Erkrankung - alles getan, um den Vorwurf der Beklagten zu entkräften. Sie habe sich bereits am 25.08.2014 mit ihrem Rechtsanwalt in Verbindung gesetzt und ihm mitgeteilt, dass sie ihm das Antwortschreiben vom 22.08.2014 zur Überprüfung zusenden werde. Darüber hinaus habe sie einen Termin mit ihrem Neurologen aus Idar-Oberstein vereinbart, der ihr die ärztliche Bescheinigung vom 29.08.2014 ausgestellt habe. Überdies habe sie der Beklagten mit Schreiben vom 27.08.2014 mitgeteilt, dass ihr der Arzt jede Form der psychischen Belastung als nicht hilfreich für eine baldige Genesung untersagt habe. Außerdem habe sie sich in diesem Schreiben bereit erklärt, sich ggf. nach Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft bei einem Amtsarzt vorzustellen, soweit dies dann noch notwendig sei. Überdies habe sie um Mitteilung des Untersuchungsauftrags des Betriebsarztes und Vorlage entsprechender Korrespondenz gebeten.

Das Arbeitsgericht habe auch ihre "Hintergrundinformationen" nicht gewürdigt. Die Aufforderung der Beklagten vom 08.08.2014, sich beim Betriebsarzt vorzustellen, stehe in direktem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Weigerung, im Frühdienst zu arbeiten, nachdem sie über Jahre hinweg - von wenigen Ausnahmen abgesehen - im Spätdienst eingesetzt worden sei. Die Beklagte wolle sie abstrafen, weil sie als Betriebsratsvorsitzende in den Jahren zuvor erhebliche Missstände im Altenheim angeprangert und das Arbeitsgericht in einer Mehrzahl von Fällen Pflichtverletzungen der Beklagten festgestellt habe. In einem Fall sei sogar ein Verstoß gegen § 23 BetrVG festgestellt worden. Seinerzeit habe die örtliche Zeitung auf Veranlassung ihres Prozessbevollmächtigten über Missstände berichtet. Auch die Aufsichtsbehörde habe den unzureichenden Personalschlüssel der Beklagten im Altenheim untersucht. Die Beklagte habe sie für dies alles persönlich verantwortlich gemacht, auch nachdem sie mehrere in kurzen Zeiträumen durchgeführte Selbstmorde von Senioren kritisiert und in diesem Zusammenhang auf eine unzureichende Personaldecke hingewiesen habe.

In der Abmahnung werde ihr vorgeworfen, dass ihr Schreiben vom 27.08.2014 keine ausreichende Entschuldigung für ihr Fernbleiben enthalte. Obwohl dies ein abgrenzbarer eigener Vorwurf sei, habe das Arbeitsgericht sich nur mit dem ersten Satz dieses Vorwurfs befasst. Auf den Vorwurf, dass sie die bestehende Arbeitsunfähigkeit nicht ausreichend dargelegt und keinen Nachweis erbracht habe, sei das Arbeitsgericht nicht eingegangen. Sie habe die Nichtwahrnehmung des Termins mit der fachärztlichen Bescheinigung vom 29.08.2014 ausreichend entschuldigt.

Außerdem werde ihr in der Abmahnung vorgeworfen, dass sie die Nichtwahrnehmung des Untersuchungstermins nicht vor dem anberaumten Termin angezeigt und durch ärztliche Bescheinigung entschuldigt habe. Die Beklagte fordere hier etwas Unmögliches, nämlich die Beibringung der ärztlichen Bescheinigung vom 29.08. zeitlich vor dem 25.08.2014. Im Übrigen könne jede Krankmeldung nach dem Gesetz nachgereicht werden. Die Beklagte stelle für die Nichtwahrnehmung eines Termins beim Betriebsarzt höhere Anforderungen an den Arbeitnehmer als dies der Gesetzgeber bei einer Erkrankung tue. Eine Pflicht zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung vor dem angesetzten Untersuchungstermin ergebe sich weder aus Gesetz noch aus Vertrag. Der Vorwurf sei mithin nicht stichhaltig, da keine Vertragsverletzung vorliege. Die Abmahnung sei bereits aus diesem Grund aus der Personalakte zu entfernen.

Im Übrigen sei fraglich, ob ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer überhaupt verpflichtet sei, Termine außerhalb seines Heimes wahrzunehmen, zumal die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keinen Hinweis auf die Reisefähigkeit enthalte. Das Arbeitsgericht sei davon ausgegangen, dass sie reisefähig gewesen sei. Andernfalls könne ihr aus der Nichtwahrnehmung des Termins beim Betriebsarzt kein Vorwurf gemacht werden. Fragen zu ihrer Reisefähigkeit seien niemals gestellt worden, sie wären nach dem Gesetz auch nicht verpflichtend zu beantworten gewesen.

Wegen weiterer Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 07.05.2015 und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 12.11.2015 Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt zweitinstanzlich,

das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 05.02.2015, Az. 7 Ca 945/14, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnung vom 04.09.2014 zurückzunehmen und aus der Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihrer Berufungserwiderung vom 29.06.2015, auf die Bezug genommen wird, als zutreffend.

In der mündlichen Berufungsverhandlung machte die Klägerin erstmals geltend, dass die Beklagte, sollte der MTV Pro Seniore - entgegen ihrer Rechtsansicht - auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden, gem. § 4a Ziff. 2 MTV verpflichtet gewesen wäre, sie vor Aufnahme der Abmahnung in die Personalakte anzuhören. Eine derartige Anhörung habe nicht stattgefunden. Die Beklagte rügte Verspätung und beantragte Schriftsatznachlass.

Im Übrigen wird wegen des Sach- und Streitstandes ergänzend auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften und den Inhalt der zur Information der Berufungskammer beigezogenen Akte 6 Ca 534/14 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und inhaltlich ausreichend begründet worden.

II. Die Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die gegen die Abmahnung vom 04.09.2014 gerichtete Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rücknahme und Entfernung der Abmahnung aus ihrer Personalakte. Sie ist nicht zu Unrecht abgemahnt worden.

1. Arbeitnehmer können in entsprechender Anwendung von §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus ihrer Personalakte verlangen. Der Anspruch besteht, wenn die Abmahnung entweder inhaltlich unbestimmt ist, unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, und auch dann, wenn selbst bei einer zu Recht erteilten Abmahnung kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers mehr an deren Verbleib in der Personalakte besteht (st. Rspr., vgl. zB. BAG 20.01.2015 - 9 AZR 860/13 - Rn. 31, NZA 2015, 805; BAG 19.07.2012 - 2 AZR 782/11 - Rn. 13 mwN, NZA 2013, 91).

2. Keine dieser Voraussetzungen ist im Streitfall erfüllt.

a) Die Abmahnung vom 04.09.2014 ist hinreichend bestimmt und enthält auch keine unrichtigen Tatsachen. Die Klägerin stellt nicht in Abrede, dass sie von der Beklagten aufgefordert worden ist, sich beim Betriebsarzt vorzustellen, sie den Untersuchungstermin am 25.08.2014, um 14.00 Uhr, nicht wahrgenommen und ihr Fernbleiben zuvor auch nicht entschuldigt hat.

b) Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Beklagte berechtigt war, dieses Verhalten der Klägerin als eine Verletzung ihrer Verpflichtungen aus § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore abzumahnen.

aa) Nach § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore ist der Arbeitnehmer verpflichtet, sich auf Verlangen des Arbeitgebers vor seiner Einstellung ärztlich auf seine körperliche Eignung (Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit) untersuchen zu lassen. Er muss während des Arbeitsverhältnisses bei gegebener Veranlassung dem Verlangen des Arbeitgebers auf Wiederholung dieser Untersuchung durch einen Arbeitsmediziner entsprechen.

bb) Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der MTV Pro Seniore Anwendung. Die Beklagte war nicht verpflichtet, dem jetzigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin die Anwendbarkeit des Tarifvertrages nochmals zu erläutern. Der Klägerin ist aus den Vorprozessen, die sie mit der Beklagten geführt hat, bekannt, dass der MTV Pro Seniore auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findet, obwohl sie erst seit August 2009 Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft ver.di ist. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird auf die Ausführungen in den Urteilen des LAG Rheinland-Pfalz vom 25.03.2010 (10 Sa 695/09 - Juris) und vom 25.04.2013 (10 Sa 551/12 - Juris) Bezug genommen.

Die Regelungen des MTV Pro Seniore finden kraft einzelvertraglicher Vereinbarung in § 14 des Formulararbeitsvertrags auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Das BAG hat in der Entscheidung vom 02.07.2008 (4 AZR 291/07 - Rn. 19, Juris) die Frage offen gelassen, ob es sich bei § 14 des Formulararbeitsvertrags um eine Tarifwechselklausel handelt. Nach der Rechtsprechung der 10. Kammer des LAG Rheinland-Pfalz in den früheren Rechtsstreiten zwischen denselben Parteien (10 Sa 695/09; 10 Sa 551/12) haben die Parteien vereinbart, dass (zunächst) die Bestimmungen des am 01.07.1990 in Kraft getretenen Tarifvertrags zwischen der DSK Sozialdienste gGmbH in Rheinland-Pfalz und der Gewerkschaft Öffentliche Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), Bezirksverwaltung Rheinland-Pfalz, gelten. Dieser Tarifvertrag sollte „längstens“ bis zum Zustandekommen eines (neuen) Tarifvertrags für das jeweilige Tarifgebiet oder die jeweilige Einrichtung gelten. Ab diesem Zeitpunkt sollten die Bestimmungen des geschlossenen Tarifvertrags gelten. Daraus ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass die Parteien mit dem „Tarifvertrag für das jeweilige Tarifgebiet oder die jeweilige Einrichtung“ denjenigen Tarifvertrag gemeint haben, an den die Beklagte selbst gem. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG gebunden ist. Bei der vertraglichen Bezugnahmeklausel handelt es sich um eine sogenannte Tarifwechselklausel. Die Verweisung zielt auf den MTV Pro Seniore.

Die Klägerin durfte angesichts der klaren Rechtslage aufgrund der eindeutigen gerichtlichen Vorgaben in den Vorprozessen zwischen den Parteien nicht darauf vertrauen, dass sie eine nach § 4 Ziff. 1 MTV angeordnete betriebsärztliche Untersuchung mit dem Argument ablehnen könne, der MTV Pro Seniore finde auf ihr Arbeitsverhältnis keine Anwendung. Selbst bei einer unklaren Rechtslage handelt bereits fahrlässig, wer sich erkennbar in einem Grenzbereich des rechtlich Zulässigen bewegt, in dem er eine von der eigenen Einschätzung abweichende Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit des fraglichen Verhaltens in Betracht ziehen muss (BGH 30.04.2014 - VIII ZR 103/13 - Rn. 23-24 mwN, NJW 2014, 2720). Der Geltungsanspruch des Rechts erfordert im Grundsatz, dass der Schuldner das Risiko eines Rechtsirrtums selbst trägt und es nicht dem Gläubiger überbürden kann (BAG 19.08.2015 - 5 AZR 976/13 - Rn. 31 mwN, Juris). Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin nicht schuldlos gehandelt, als sie die im MTV Pro Seniore geregelten Pflichten nicht erfüllen wollte. Vorliegend lag nicht einmal eine objektiv zweifelhafte Rechtslage vor. Für einen Rechtsirrtum ihres Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin nach § 278 BGB einzustehen (BGH 30.04.2014 - VIII ZR 103/13 - Rn. 25 mwN, aaO).

cc) Die Klägerin war verpflichtet, der Aufforderung der Beklagten sich am 25.08.2014, um 14:00 Uhr, zur Untersuchung bei dem Betriebsarzt in Idar-Oberstein vorzustellen, Folge zu leisten. Für die von der Beklagten geforderte Untersuchung war eine Veranlassung iSv. § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore gegeben.

Die Klägerin sollte laut Dienstplan ab 11.08.2014 wieder Frühdienste leisten. Hiermit war sie nicht einverstanden, so dass sie mit Klageschrift vom 23.06.2014 in dem Rechtsstreit 6 Ca 534/14, den sie rechtskräftig verloren hat, festgestellt haben wollte, dass die Beklagte kraft ihres Direktionsrechts nicht berechtigt sei, sie auch im Frühdienst einzusetzen. Die Klägerin berief sich darauf, dass sie ihre familiären wie private Belange (Dienstzeiten des Ehemannes, Teilnahme an Vereinstätigkeiten usw.), (Begleitung ihres jüngsten Enkelkindes in den Kindergarten, Abholung der beiden älteren Enkelkinder von der Schule) an den Spätdienst ausgerichtet habe. Die Klägerin erkrankte ab 09.08.2014 arbeitsunfähig. Unter diesen Umständen konnten sich berechtigte Zweifel ergeben, ob die Klägerin zu der vertraglich geschuldeten Tätigkeit als Pflegehelferin - auch in der Frühschicht - gesundheitlich nicht doch in der Lage war. Diese Zweifel waren nicht schon durch das von der Klägerin vorgelegte Attest eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 07.07.2014 ausgeräumt.

Zum einen darf nach § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore grundsätzlich der Arbeitgeber den für die Feststellung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers seines Erachtens geeigneten Arzt bestimmen (BAG 27.09.2012 - 2 AZR 811/11 - Rn. 27, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 81). Zum anderen erfüllt das von der Klägerin vorgelegte Attest vom 07.07.2014, wonach "aus fachpsychiatrischer Sicht und hinsichtlich der Prophylaxe gravierender gesundheitlicher Störungen iSd. SGB V derzeit weder Nachtdienste noch Dienste durchgeführt werden können, die vor 7:30 Uhr morgens beginnen", während "reguläre Schichtdienste tagsüber" und "Spätschicht durchgeführt werden können, ohne dass Labilisierungen der Psychopathologie und des Biorhythmus zu erwarten sind", nicht die Mindestanforderungen einer Nachvollziehbarkeit, weil insbesondere Diagnose und Therapie nicht angeführt worden sind. Im Übrigen hat die Klägerin im Rechtstreit 6 Ca 634/14 vorgetragen, die "Dienstplanänderung [habe] im Zusammenwirken mit der Behandlung durch die Arbeitgeberseite" eine "psychische Krise ausgelöst". Sie sei in psychiatrischer Behandlung und "aufgrund der Spannungen auf ihrer Arbeitsstelle" derzeit arbeitsunfähig erkrankt. Dass sie gesundheitlich nicht in der Lage sei, auch Frühdienst zu leisten, machte die Klägerin nicht geltend.

dd) Entgegen der Ansicht der Berufung ist die gesetzliche Regelung in § 275 Abs. 1a SGB V zur Begutachtung der Arbeitsunfähigkeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nicht zur Auslegung der tariflichen Vorschrift des § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore heranzuziehen. Selbst wenn man anderer Ansicht sein sollte, ist die Aufzählung in § 275 Abs. 1a SGB V, die der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der Berufungsverhandlung zitiert hat, nicht abschließend („insbesondere“). In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass auch das Verhalten des Arbeitnehmers vor dem Eintritt der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit einer ärztlichen Bescheinigung geben kann, etwa wenn es zu einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber über die Ableistung einer bestimmten Arbeit - wie hier auch Frühdienst - gekommen ist (Treber EFZG 2. Aufl. § 5 Rn. 57 mwN).

ee) Die Klägerin hat ihr Fernbleiben vom Untersuchungstermin am 25.08.2014 nicht genügend entschuldigt. Sie konnte im Anschluss an den Fragenkatalog vom 21.08.2014, den ihr Prozessbevollmächtigter vorformuliert hatte, und das Antwortschreiben der Beklagten vom 22.08.2014 nicht annehmen, sie sei berechtigt, den Untersuchungstermin am 25.08.2014 nicht wahrzunehmen. Ihr Argument, die Beklagte hätte ihr zunächst Gelegenheit geben müssen, von einem Rechtsanwalt überprüfen zu lassen, ob sie trotz fachärztlicher Krankschreibung verpflichtet sei, den Untersuchungstermin wahrzunehmen, verfängt nicht. Zum einen war die Klägerin bereits anwaltlich beraten, zum anderen trägt sie - wie oben ausgeführt - das Risiko eines Rechtsirrtums. Die Beklagte musste nicht abwarten, bis die Klägerin die Rechtslage überprüft hat. Dass sie zu dem fehlerhaften Ergebnis kam, ihre Weigerung sei berechtigt, steht der Wirksamkeit der Abmahnung nicht entgegen, denn die Klägerin hat aufgrund der Abmahnung die Möglichkeit, die Rechtsmäßigkeit ihrer Weigerung gerichtlich überprüfen zu lassen.

ff) Die Beklagte war berechtigt, den Betriebsarzt in Idar-Oberstein mit der Untersuchung der Klägerin zu beauftragen.

Die in § 4 Ziff. 1 MTV Pro Seniore geregelte Pflicht des Arbeitnehmers zur Mitwirkung an einer vom Arbeitgeber verlangten ärztlichen Untersuchung beeinträchtigt nicht übermäßig das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers. Dieses schließt zwar die Freiheit der Arztwahl ein. Der Arbeitgeber kann die Mitwirkung des Arbeitnehmers aber zum einen nur aus "gegebener Veranlassung", also nur bei berechtigten Zweifeln an der Arbeitsfähigkeit des Mitarbeiters verlangen. Zum anderen steht es mit Blick auf die schutzwürdigen Belange des Arbeitnehmers trotz des Wahlrechts des Arbeitgebers nicht etwa in dessen Belieben, wer die Begutachtung durchführt. Die Auswahl hat vielmehr nach billigem Ermessen (§ 315 Abs. 1 BGB) zu erfolgen. Macht der Arbeitnehmer rechtzeitig vor oder während der Begutachtung begründete Bedenken etwa gegen die Fachkunde oder Unvoreingenommenheit des begutachtenden Arztes geltend, so kann es je nach den Umständen allein billigem Ermessen entsprechen, dass der Arbeitgeber einen anderen Arzt mit der Begutachtung beauftragt. Mit dieser Einschränkung ist es zur Gewährleistung gleichmäßiger Untersuchungsstandards grundsätzlich interessengerecht, das Bestimmungsrecht dem Arbeitgeber einzuräumen. Eine übermäßige Beeinträchtigung berechtigter Belange des Arbeitnehmers liegt darin nicht. Dieser muss das Ergebnis nicht hinnehmen, es wäre vielmehr in einem gerichtlichen Verfahren vollumfänglich nachzuprüfen (so ausdrücklich BAG 27.09.2012 - 2 AZR 811/11 - Rn. 22 mwN, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 68).

Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, nicht an dem von ihm bestimmten Arzt für die Untersuchung festzuhalten, kann sich nur dann ergeben, wenn der Arbeitnehmer -rechtzeitig - begründete Einwände gegen ihn erhebt. Aus der Luft gegriffene oder in der Sache unbeachtliche Bedenken gegen den vom Arbeitgeber bestimmten Arzt sind dagegen nicht ausreichend. So liegt kein begründeter Einwand darin, der vom Arbeitgeber bestimmte Arzt stehe „in dessen Lager“ (so ausdrücklich BAG 27.09.2012 - 2 AZR 811/11 - Rn. 24 mwN, aaO).

Im Streitfall hat die Klägerin keine begründeten Einwände gegen die Unvoreingenommenheit oder ausreichende Fachkunde des von der Beklagten bestimmten Arztes geltend gemacht. Mit ihrem Fragenkatalog stellte die Klägerin überzogene Forderungen. Die Klägerin irrt auch, wenn sie in ihrem Schreiben vom 27.08.2014 an die Beklagte ausführt, sie hätte die Untersuchung verweigern dürfen, weil die Beklagte zuvor verpflichtet gewesen sei, ihr den Untersuchungsauftrag und den diesbezüglichen Schriftverkehr mit dem Arzt vorzulegen sowie mitzuteilen, welche weiteren Absprachen sie - sei es telefonisch oder mithilfe anderer Medien - mit dem Arzt getroffen habe. Für die von der Klägerin vermutete Parteilichkeit des Betriebsarztes spricht nichts. Ihre Bedenken sind iSd. oben zitierten Rechtsprechung des BAG aus der Luft gegriffen und in der Sache unbeachtlich.

gg) Auch der abgemahnte Vorwurf, die Klägerin habe ihr Fernbleiben vom Untersuchungstermin am 25.08.2014 nicht entschuldigt, ist berechtigt. Die ärztliche Bescheinigung vom 29.08.2014, wonach es ihr nicht möglich gewesen sei, den "emotional übermäßig belastenden" Betriebsarzttermin wahrzunehmen, hat die Klägerin erst nach Zugang der Abmahnung mit Schreiben vom 18.09.2014 vorgelegt. Hinzu kommt, dass die Klägerin vorträgt, sie habe sich noch am 25.08.2014 mit ihrem Rechtsanwalt in Verbindung gesetzt und außerdem einen Termin mit ihrem Neurologen vereinbart. Weshalb es ihr nicht möglich gewesen sein soll, die Beklagte oder den Betriebsarzt zu benachrichtigen, dass sie nicht zum Untersuchungstermin erscheinen werde, hat die Klägerin nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht der Berufung verlangte die Beklagte nichts Unmögliches oder Unzumutbares.

Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sein könnte, von ihrem Heimatort im Hunsrück mit dem Pkw nach Idar-Oberstein zu fahren. Da sich die Klägerin in Idar-Oberstein in fachärztlicher Behandlung befand, konnte und durfte die Beklagte im konkreten Fall davon ausgehen, dass die Klägerin auch reisefähig war. Es reicht als Berufungsangriff jedenfalls nicht aus, zu beanstanden, dass sie von der Beklagten nicht nach ihrer Reisefähigkeit gefragt worden sei, und gleichzeitig den Rechtsstandpunkt zu vertreten, dass sie diese Frage nicht hätte beantworten müssen.

hh) Schließlich führen auch die "Hintergrundinformationen" der Klägerin nicht zur Unwirksamkeit der Abmahnung vom 04.09.2014. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abmahnung aus unsachlichen Motiven erfolgt sein könnte. Der Umstand, dass die Parteien mehrere Rechtsstreitigkeiten geführt haben, reicht für sich genommen nicht aus, um auf ein willkürliches Verhalten zu schließen. Dasselbe gilt für die betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten in der Amtszeit der Klägerin als Betriebsratsvorsitzende. Ein Zusammenhang mit der vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin (auch in der Lokalzeitung) geübten Kritik an der Beklagten, erschließt sich ebenfalls nicht.

c) Anhaltspunkte dafür, die Abmahnung sei im Vergleich zum beanstandeten Verhalten der Klägerin unverhältnismäßig, sind nicht gegeben. Die Klägerin hat ihre Pflicht verletzt, sich am 25.08.2014 auf Veranlassung der Beklagten ärztlich untersuchen zu lassen. Sie hat ihr Fernbleiben vor dem anberaumten Untersuchungstermin nicht entschuldigt. Diesen Verstoß gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten konnte die Beklagte in Form einer schriftlichen Abmahnung rügen und diese zur Personalakte der Klägerin nehmen. Es ist der Beklagten zuzubilligen, der Klägerin ihren Pflichtverstoß in der Vergangenheit durch die Abmahnung deutlich zu machen und sie für die Zukunft auf die Einhaltung der entsprechenden Vorschriften hinzuweisen. Unverhältnismäßige Nachteile entstehen der Klägerin dadurch nicht.

3. Die Klägerin ist damit ausgeschlossen, sich noch nach Ablauf der Frist für die Berufungsbegründung auf die formelle Unwirksamkeit der Abmahnung vom 04.09.2014 zu berufen.

Nach der Rechtsprechung des BAG besteht ein Anspruch auf Entfernung einer Abmahnung, wenn sie ein Arbeitgeber ohne vorherige Anhörung des Beschäftigten zu den Personalakten nimmt, obwohl ein tarifvertragliches Anhörungsrecht besteht (zu § 13 Abs. 2 Satz 1 BAT, vgl. BAG 16.11.1989 - 6 AZR 64/88 - NZA 1990, 477). Die Klägerin hat erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung am 12.11.2015 geltend gemacht, dass die Beklagte nach § 4a Ziff. 2 MTV Pro Seniore (der nach ihrer Rechtsansicht keine Anwendung findet) verpflichtet gewesen sei, sie vor Aufnahme der Abmahnung in die Personalakte anzuhören. Sie hat vorgetragen, die Beklagte habe sie nicht angehört. Dieser Vortrag ist verspätet und wird von der Berufungskammer zurückgewiesen.

Geht man zu Gunsten der Klägerin davon aus, die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer erhobene konkrete Rüge, sie sei vor Aufnahme der Abmahnung in die Personalakte nicht angehört worden, sei im zweiten Rechtszug nach § 67 Abs. 2 bzw. Abs. 3 ArbGG noch zulässig, so musste sie das entsprechende tatsächliche Vorbringen nach § 67 Abs. 4 Satz 1 ArbGG in der Berufungsbegründung vorbringen. Einer der Ausnahmefälle, in denen das nicht in der Berufungsbegründung enthaltene neue Vorbringen der Klägerin nach § 67 Abs. 4 Satz 2 ArbGG noch hätte zugelassen werden können, liegt nicht vor. Konkreter Tatsachenvortrag zu einer Nichtanhörung war der Klägerin schon während des erstinstanzlichen Verfahrens möglich. Das neue Vorbringen ist in der mündlichen Berufungsverhandlung so spät erfolgt, dass seine Berücksichtigung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert hätte. Der Beklagten hätte antragsgemäß ein Schriftsatznachlass gem. § 283 Satz 1 ZPO eingeräumt werden müssen, weil sie vor der mündlichen Berufungsverhandlung keine Veranlassung und im Termin keine Gelegenheit hatte, die Darstellung der Klägerin zu überprüfen und ggf. Beweis anzutreten. Bei Berücksichtigung des neuen Vorbringens wäre somit eine Vertagung erforderlich geworden.

Die Verspätung des Vorbringens war entweder durch die Klägerin oder ihren Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) verschuldet. Es hätte einer ordnungsgemäßen Prozessführung entsprochen, die konkrete Rüge zur Nichtanhörung vor Aufnahme der Abmahnung in die Personalakte erheblich früher, spätestens mit der Berufungsbegründung in den Prozess einzuführen. Es kann deshalb offen bleiben, ob das neue Vorbringen nicht schon entgegen § 282 Abs. 1 ZPO nicht rechtzeitig in den Prozess eingeführt worden ist und dies auf grober Nachlässigkeit beruhte, so dass schon § 67 Abs. 3 ArbGG angesichts der offensichtlichen Verzögerung des Rechtsstreits durch das erheblich verspätete Vorbringen die Zurückweisung dieses Vorbringens gerechtfertigt hätte.

III.  Die Kosten der erfolglos gebliebenen Berufung fallen der Klägerin nach § 97 Abs. 1 ZPO zur Last.

Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.



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