Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Urteil vom - Az: L 11 AS 346/22

Keine Hartz-IV-Rückforderung nach Ausbildungsabbruch

1. Der Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhalten (§ 34 SGB II) erfordert einen Kausalzusammenhang zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und dem deswegen erfolgten Bezug von SGB II-Leistungen (hier: zwischen einem Ausbildungsabbruch und dem ca. 3,5 bis 7,5 Jahre später erfolgenden SGB II-Leistungsbezug wegen Arbeitslosigkeit). Maßstab hierfür ist die sozialrechtliche Theorie der wesentlichen Bedingung.

2. Auch bei der Auslegung der Härtefallvorschrift nach § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand handelt und nicht jedes vorwerfbare Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Ersatzpflicht führt. Erfasst wird nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, also einem inneren Zusammenhang zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw. Leistungserbringung.

3. Es widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot), dem Grundsatz des Forderns und Förderns (§§ 2, 14 SGB II), § 1 Abs. 2 Satz 4 Nr. 6 SGB II a.F. (seit 01.01.2023: § 1 Abs. 2 Satz 4 Nr. 5 SGB II) und § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I, wenn eine typische Jugendsünde (hier: Ausbildungsabbruch eines damals 20-jährigen Heranwachsenden in einer von ihm als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) zu Ersatzansprüchen in Höhe von mehr als 30.000,00 bzw. 51.000,00 Euro gegenüber einem (zuletzt) erst 28-jährigen ungelernten Langzeitarbeitslosen führen.
(Leitsätze des Gerichts)

Der im Jahr 1991 geborene Kläger verlor seinen Ausbildungsplatz zum Elektroniker wegen wiederholten, unentschuldigten Fehlens am Arbeitsplatz.
In der Folgezeit bezog der Kläger von der beklagten Bundesagentur für Arbeit zunächst Arbeitslosengeld I und sodann SGB II-Leistungen. Aufgrund des Ausbildungsabbruchs kürzte die Beklagte die gewährten Grundsicherungsleistungen um 30% und verlangte überdies die Rückzahlung der über mehrere Jahre gebilligten Leistungen von etwa 51.000 Euro. Nach Ansicht des Beklagten habe der Kläger seine Hilfebedürftigkeit grob fahrlässig herbeigeführt, sodass er die gezahlten Leistungen wegen sozialwidrigen Verhaltens erstatten müsse. Mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Elektroniker hätte der Kläger sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Hiergegen trug der Kläger vor, sein Verhalten könne nicht als Ursache seiner jetzigen Hilfebedürftigkeit gewertet werden – mit Erfolg.
Das LSG Niedersachsen-Bremen entschied, dass die Rückforderung von über 51.000 Euro wegen eines schon über mehrere Jahre zurückliegenden „sozialwidrigen Verhaltens“ gegen das Übermaßverbot verstoße. Bei einem unkooperativen, schwer vermittelbaren Arbeitslosen gebe es keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme, dass er mit einem regulären Berufsabschluss durchgängig gearbeitet hätte. Zudem hat das Gericht zugunsten des Klägers einen Härtefall angenommen. Dem Kläger sei lediglich eine typische "Jugendsünde" (hier der Ausbildungsabbruch) vorzuwerfen. Gerade unter jungen Menschen seien Schul- und Ausbildungsabbrüche ein weit verbreitetes Phänomen. Derartige Jugendsünden seien nicht lebenslang prägend für die Erwerbsbiographie, sondern verlieren im Laufe der weiteren Persönlichkeitsentwicklung sowie des Erwachsenwerdens nach und nach ihre Bedeutung. Damit widerspreche es dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Grundsatz des Forderns und Förderns, wenn eine solche „Jugendsünde“ zu erheblichen Ersatzansprüchen führe, die jegliche Erwerbsperspektive des Klägers zerstören.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor: 

Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 2022 sowie der Bescheid des Beklagten vom 25. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2021 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, die Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019 zurückzunehmen.

Der Beklagte erstattet dem Kläger ein Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt vom Beklagten die Rücknahme mehrerer Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) über mehr als 30.000,00 Euro (für die Zeit von Dezember 2015 bis September 2019) im Wege des sog. Zugunstenverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)

Der im Juni 1991 geborene Kläger nahm nach Beendigung seiner Schulausbildung eine Berufsausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik auf. Die Berufsausbildung begann laut dem vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Lebenslauf im September 2009, laut seinem an den Beklagten gerichteten Schreiben vom 17. Juni 2013 dagegen erst im September 2010 (Bl. 80 Verwaltungsakte [Papierakte] - VA). Reguläres Ausbildungsende wäre voraussichtlich März 2013 gewesen (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 17. Oktober 2022). Am 16. März 2012 kündigte der Ausbildungsbetrieb fristlos das Ausbildungsverhältnis mit der Begründung, dass der Kläger sich am 10. Februar 2012 unerlaubt von seinem Arbeitsplatz entfernt, wiederholt gegen seine Mitteilungspflicht nach § 25 der Arbeitsordnung verstoßen und seit dem 1. März 2012 unentschuldigt gefehlt habe (Kündigungsschreiben vom 16. März 2012, Bl. 89 der Gerichtsakte - GA). Der Kläger schilderte die Begleitumstände der Kündigung abweichend und verwies u.a. auf eine damals wegen Mobbing am Arbeitsplatz attestierte Arbeitsunfähigkeit sowie auf depressive Schübe (vgl. im Einzelnen: Schreiben des Klägers vom 17. Juni 2013, Bl. 80, 81 VA).

In der Folgezeit bezog der Kläger von der Bundesagentur für Arbeit (BA) Arbeitslosengeld I (Alg I), wobei der Alg I-Anspruch in den ersten 12 Wochen sperrzeitbedingt ruhte. Nach Auslaufen des Alg I-Anspruchs gewährte der Beklagte dem Kläger ab dem 1. März 2013 laufende SGB II-Leistungen, auch für den im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Zeitraum Dezember 2015 bis September 2019. Über weite Zeiträume waren die SGB II-Leistungen sanktionsbedingt gemindert.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2013 stellte der Beklagte fest, dass der Kläger durch eine besonders schwere Verletzung der ihm in seinem Beruf obliegenden Sorgfaltspflichten seinen Arbeitsplatz (gemeint: Ausbildungsplatz) verloren habe. Wegen des Einkommensverlustes hätten ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erbracht werden müssen. Sein Verhalten sei als zumindest grob fahrlässig anzusehen, so dass er zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet sei (§ 34 SGB II). Umfang und Höhe der zu ersetzenden Leistungen würden ihm in einem gesonderten Bescheid mitgeteilt. Mangels einer vom Kläger hiergegen erhobenen Klage wurde dieser sog. Grundlagenbescheid bestandskräftig.

In der Folgezeit erließ der Beklagte gestützt auf den Grundlagenbescheid vom 27. Mai 2013 insgesamt zehn Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II für die Monate März bis August 2013, März 2014 bis Januar 2015 und Juni 2015 bis September 2019 (also einen Zeitraum von insgesamt 5 Jahren und 9 Monaten). Die Summe der geltend gemachten Ersatzansprüche nach § 34 SGB II betrug über 51.000,00 Euro, vgl. im Einzelnen: Bescheide vom 21. Oktober 2013, 2. September 2014, 5. Mai 2014, 4. Dezember 2015, 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019. Die zehn Bescheide wurden bestandskräftig, da der Kläger keine Widersprüche hiergegen einlegte.

Zum 1. November 2019 stellte der Beklagte die laufende Leistungsbewilligung ein, weil der Kläger am 1. Oktober 2019 eine befristete und mit öffentlichen Mitteln geförderte Beschäftigung aufgenommen hatte (Bescheid vom 1. Oktober 2019). Nachdem der Kläger und seine ehemalige Arbeitgeberin diese Beschäftigung mittels Aufhebungsvertrag vorzeitig beendet hatten, bezog der Kläger ab dem 1. April 2020 vom Beklagten erneut laufende SGB II-Leistungen (vgl. Bescheid vom 4. Mai 2020).

Den im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X stellte der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 6. Oktober 2020. Laut Antragsschrift richtete sich der Überprüfungsantrag gegen "alle bestandskräftigen Bescheide seit dem 1. Januar 2019 sowie gegen alle Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung eines Ersatzanspruches der letzten vier Jahre, insbesondere gegen die Bescheide vom 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 26. April 2016 und 28. November 2019". Eine inhaltliche Begründung erfolgte auch nach Aufforderung durch den Beklagten nicht. Der Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag daraufhin mit der Begründung ab, dass in den "Bescheiden seit dem 1. Januar 2019" weder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen noch das Recht falsch angewendet worden sei. Die "Bescheide seit dem 1. Januar 2019" blieben daher unverändert (Bescheid vom 25. Februar 2021).

Den vom Bevollmächtigten hiergegen eingelegten und in der Sache unbegründet gelassenen Widerspruch vom 25. März 2021 wies der Beklagte mit der ergänzenden Begründung zurück, dass keine Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung ersichtlich seien. Der Ausgangsbescheid entspreche den gesetzlichen Bestimmungen. Auch sei in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen-Bremen geklärt, dass es bei einem nur pauschalen Überprüfungsantrag an einem hinreichend konkretisierten Antrag i.S.d. § 44 SGB X fehle und keine Verpflichtung zur inhaltlichen Prüfung bestehe. Im vorliegenden Fall habe der Kläger pauschal die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide ab 1. Januar 2019 sowie der in seinem Antrag genannten Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen beantragt. Weder der Überprüfungsantrag noch der Widerspruch seien begründet worden. Der Überprüfungsantrag sei daher zu Recht als unbegründet zurückgewiesen worden (Widerspruchsbescheid vom 16. April 2021).

Hiergegen hat der Kläger am 11. Mai 2021 beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben und geltend gemacht, einen Überprüfungsantrag bezüglich "diverser Bescheide (vier) über Geltendmachung eines Ersatzanspruchs" gestellt zu haben. Er sei vom 1. Oktober 2019 bis 31. März 2020 in Ausbildung gewesen (wohl gemeint: vom 1. September 2009 - vielleicht aber auch 2010 - bis 16. März 2012). Er habe höchstens 700,00 Euro verdient. Eine Ersatzpflicht erfordere einen kausalspezifischen Zusammenhang. Er frage, worin das Gericht diesen sehe und warum hier komplett aufgehoben werde. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Kläger selbst beim Beklagten angegeben haben soll, dass sein Ausbildungsverhältnis wegen unentschuldigten Fehlens beendet worden sei. Auch wenn aus den Verbis-Vermerken hervorgehe, dass jemand dies so notiert habe, gehe aus den Vermerken nicht hervor, dass der Kläger dies selbst gesagt habe. Im Widerspruchsbescheid seien zudem "völlig andere Gründe zu lesen". Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers erstinstanzlich u.a. folgende Fragen formuliert: Wie wurde denn das Ausbildungsverhältnis beendet? Bei welchem Mitarbeiter des Jobcenters war der Kläger denn? Wo hat er das angeblich erklärt?

Der Beklagte hat erstinstanzlich vorgetragen, dass der Kläger die Beendigung seines Ausbildungsverhältnisses durch seine unentschuldigten Fehlzeiten selbst herbeigeführt habe. Dementsprechend sei seine Hilfebedürftigkeit durch sozialwidriges Verhalten zumindest grob fahrlässig verursacht worden (vgl. hierzu im Einzelnen: Schriftsatz vom 14. März 2022).

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 15. Juni 2022 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass angesichts des (überwiegend) pauschalen Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X nur die im Antragsschreiben ausdrücklich genannten Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018 und 28. November 2019 einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen seien. Wegen der Bestandskraft des Grundlagenbescheids vom 27. Mai 2013 seien die o.g. Bescheide allerdings nur daraufhin zu überprüfen, ob der Beklagte bei der Höhe des jeweils geforderten Ersatzanspruchs die im jeweils betroffenen Zeitraum tatsächlich gewährten SGB II-Leistungen richtig ermittelt habe und ob auch weiterhin die erforderliche Kausalität zwischen dem Fehlverhalten des Klägers einerseits und der Notwendigkeit der Gewährung von SGB II-Leistungen andererseits vorgelegen habe. Beides sei zu bejahen. Eine die Kausalität unterbrechende Zäsur sei erst mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit ab dem 1. November 2019 (gemeint: 1. Oktober 2019) eingetreten.

Gegen das dem Kläger am 8. Juli 2022 zugestellte Urteil richtet sich seine am 11. Juli 2022 eingelegte und auf die Überprüfung der Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 1. Juli 2017, 16. Mai 2018, 26. April 2016, 28. November 2019, 20. August 2018 und 18. Dezember 2018 beschränkte Berufung (vgl. zu dieser Berufungsbeschränkung: Schriftsatz vom 17. Oktober 2022). Zur Begründung verweist er auf seinen erstinstanzlichen Vortrag. Die "vier Bescheide bezüglich der Ersatzansprüche" dürften bereits wegen Verjährung aufzuheben seien. Da die "angebliche Grundentscheidung" am 27. Mai 2013 ergangen sei, die Erstattungsbescheide dagegen erst drei, vier, fünf und dann über sechs Jahre später, werde die Einrede der Verjährung erhoben.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

  1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. Februar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2021 aufzuheben,
  2. den Beklagten zu verpflichten, die Bescheide vom 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 26. April 2016 und 28. November 2019 aber auch vom 20. August 2018 und 18. Dezember 2018 zurückzunehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist zur Begründung auf die aus seiner Sicht überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.

Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger mitgeteilt, dass er seine Abschlussprüfung bei Fortführung der Ausbildung vermutlich bestanden hätte. Der Beklagte hat auf Nachfrage des Senats zur Kausalität zwischen dem im Frühjahr 2012 erfolgten Ausbildungsabbruch und der in den Jahren 2015 bis 2019 bestehenden Hilfebedürftigkeit ergänzend u.a. vorgetragen, dass in Deutschland gerade im handwerklichen Bereich seit Jahren ein Fachkräftemangel herrsche. Der Kläger hätte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung als Elektroniker sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt und somit eine langfristige Hilfebedürftigkeit verhindern können. Anhaltspunkte für eine besondere Härte i.S.d. § 34 SGB II seien nicht ersichtlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet über die Berufung gemäß § 124 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung, nachdem die Beteiligten dieser Entscheidungsform zugestimmt haben (Schriftsätze vom 14. November und 6. Dezember 2022).

Die Berufung ist zulässig und begründet. Der Beklagte ist verpflichtet, die Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019 gemäß § 44 SGB X zurückzunehmen.

1.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Überprüfung (§ 44 SGB X) lediglich der Bescheide vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019, nachdem der Kläger seine Berufung ausdrücklich hierauf beschränkt hat (Schriftsatz vom 17. Oktober 2022). Anders als im Verwaltungs- und Klageverfahren begehrt der Kläger im Berufungsverfahren nicht mehr, auch die darüberhinausgehende Leistungsgewährung für die Zeit ab 1. Januar 2019 nach Maßgabe des § 44 SGB X zu überprüfen und zurückzunehmen. Ebenso wenig sind die in dem zuletzt vom Kläger gestellten Berufungsantrag nicht genannten weiteren Bescheide, die für andere Zeiträume Ersatzansprüche nach § 34 SGB IIfeststellen und geltend machen, Gegenstand des im Berufungsverfahren streitbefangenen Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X.

2.

Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG wurde in den Bescheiden über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019 das Recht unrichtig angewandt, so dass der Kläger gemäß § 44 SGB X Anspruch auf Rücknahme dieser Bescheide hat.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

a.

Der am 6. Oktober 2020 gestellte Überprüfungsantrag bezog sich auf einen Einzelfall i.S.d. § 44 SGB X und war somit hinreichend konkretisiert (vgl. zu den Anforderungen an die hinreichende Konkretisierung eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X: BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014 - B 14 AS 39/13 R m.w.N.). Der Bevollmächtigte des Klägers hatte in seinem Überprüfungsantrag die vier Bescheide vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018 und 28. November 2019 ausdrücklich genannt. Aber auch hinsichtlich der Bescheide vom 20. August und 18. Dezember 2018 (betreffend die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen für die Bewilligungszeiträume Juni/Juli 2017 sowie September bis Dezember 2018), die der Kläger erstmals im Berufungsverfahren konkret erwähnt und als von seinem Überprüfungsantrag mitumfasst erklärt hat, erweist sich der Überprüfungsantrag als (gerade noch) hinreichend bestimmt. Schließlich hatte der Kläger im Überprüfungsantrag vom 6. Oktober 2020 die Überprüfung "aller Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung eines Ersatzanspruches der letzten vier Jahre" begehrt. Da alle in den Jahren 2016 bis 2020 ergangenen Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II auf einem einzigen Grundlagenbescheid nach § 34 SGB IIberuhten (nämlich in der Sache auf dem Ausbildungsabbruch im März 2012 - Bescheid vom 27. Mai 2013), war für den Beklagten der gemäß § 44 SGB X zu überprüfende Einzelfall hinreichend konkret erkennbar.

b.

Die im vorliegenden Berufungsverfahren nach Maßgabe des § 44 SGB X zu überprüfenden Bescheide vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019 betreffen Ersatzansprüche über mehr als 30.000,00 Euro für einen Zeitraum von fast vier Jahren (Dezember 2015 bis September 2019). Mit weiteren, im vorliegenden Berufungsverfahren allerdings nicht streitbefangenen Bescheiden hat der Beklagte weitere Ersatzansprüche nach § 34 SGB II für andere Zeiträume und in Höhe weiterer ca. 20.000,00 Euro geltend gemacht, gestützt ebenfalls auf den bestandskräftigen Grundlagenbescheid vom 27. Mai 2013. Aus dem Ausbildungsabbruch resultieren somit Ersatzansprüche nach § 34 SGB II von mittlerweile mehr als 51.000,00 Euro, die in einer Zeit aufgelaufen sind, in der der Kläger 22 bis 28 Jahre alt und durchgängig beschäftigungslos war.

c.

Der Kläger hat Anspruch auf Rücknahme der Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019, weil das ihm vorgeworfene ausbildungsvertragswidrige und zur fristlosen Arbeitgeberkündigung führende Verhalten für den im Zeitraum Dezember 2015 bis Mai 2019 erfolgten SGB II-Leistungsbezug nicht (mehr) kausal war.

Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist derjenige zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet, der nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat. Als Herbeiführung i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II gilt auch, wenn durch das sozialwidrige Verhalten die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Der Ersatzanspruch nach § 34 SGB II knüpft ausweislich der amtlichen Überschrift dieser Norm an ein sozialwidriges Verhalten des Leistungsempfängers an (BSG, Urteil vom 3. September 2020 - B 14 AS 43/19 R, Rn. 10, 12). Somit ist für einen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II erforderlich, dass der Betreffende - im Sinne eines objektiven Unwerturteils - in zu missbilligender Weise sich selbst oder seine unterhaltsberechtigten Angehörigen in die Lage gebracht hat, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2020, a.a.O., Rn. 13). Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat anschließt, handelt es sich bei der Ersatzpflicht nach § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand (BSG, Urteil vom 3. September 2020, a.a.O., Rn. 12 mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - sowie des BSG).

aa.

Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte entsprechend dem Grundlagenbescheid vom 27. Mai 2013 den vorzeitigen Ausbildungsabbruch als sozialwidriges Verhaltens i.S.d. § 34 SGB II wertet. Schließlich war mit diesem bestandskräftig gewordenen Bescheid festgestellt worden, dass das Verhalten des Klägers, welches im Frühjahr 2012 zur fristlosen Kündigung seines Ausbildungsverhältnisses geführt hatte, als sozialwidrig i.S.d. § 34 SGB IIanzusehen ist (vgl. zur Zulässigkeit eines solchen isolierten Grundlagenbescheides: BSG, Urteil vom 29. August 2019 - B 14 AS 49/18 R). Im Rahmen der rechtlichen Überprüfung der anknüpfend an einen solchen Grundlagenbescheid ergehenden Folgebescheide (hier: Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018, 20. August 2018, 18. Dezember 2018 und 28. November 2019) ist der bestandskräftige Grundlagenbescheid nicht mehr materiell-rechtlich zu überprüfen; vielmehr ist er inhaltlich bindend (vgl. etwa: BSG, Urteil vom 29. August 2019, a.a.O.).

bb.

Das SG hat sich bei seiner materiell-rechtlichen Prüfung somit zutreffend darauf beschränkt, die vom Antrag nach § 44 SGB X erfassten Bescheide nur darauf zu überprüfen, ob die nach § 34 SGB II erforderliche Kausalität zwischen dem konkret geltend gemachten Erstattungsanspruch und dem sozialwidrigen Verhalten vorlag, sowie darauf, ob die Ersatzansprüche zutreffend beziffert wurden.

Da bei sozialwidrigem Verhalten i.S.d. § 34 SGB II nur die deswegen erbrachten Geld- oder Sachleistungen zu erstatten sind (Hervorhebung durch den Senat), muss zwischen dem sozialwidrigen Verhalten und dem eingetretenen Erfolg (Erhalt von SGB II-Leistungen) ein Kausalzusammenhang bestehen (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 12. Dezember 2018 - L 13 AS 137/17). Maßstab hierfür ist die sozialrechtliche Theorie der wesentlichen Bedingung (Silbermann in: Eicher/Luik, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 34 Rn. 36; Stotz in: BeckOGK [ehemals: Gagel, SGB II / SGB III], Stand 1.3.2022, § 34 SGB II Rn. 32; Merten in: BeckOK SozR, 66. Edition Stand 1.9.2022, § 34 SGB II Rn. 7; ebenso für § 34a SGB II: BSG, Urteil vom 12. Mai 2021 - B 4 AS 66/20 R).

Entgegen der Auffassung des SG und wohl auch des Beklagten ist es nicht erst mit der mehr als sieben Jahre nach dem Ausbildungsabbruch erfolgten Aufnahme der befristeten Beschäftigung bei der Stadt H. (Beschäftigungsbeginn: 1. Oktober 2019) zu einer Zäsur im Kausalverlauf gekommen. Vielmehr beruhte auch bereits der vorliegend streitbefangene SGB II-Leistungsbezug nicht mehr auf dem ca. 3,5 bis 7,5 Jahre vorher erfolgten Ausbildungsabbruch.

Der zum 16. März 2012 erfolgte Ausbildungsabbruch war zwar ursächlich im Sinne der sozialrechtlichen Theorie der wesentlichen Bedingung für den Wegfall des Anspruchs auf Ausbildungsvergütung für die restliche Zeit des Ausbildungsverhältnisses, also für die ca. 12,5 Monate vom 17. März 2012 bis (voraussichtlich) Ende März 2013. Dieser Zeitraum ist vorliegend jedoch überhaupt nicht streitbefangen, sondern ein mehr als 3,5 bis 7,5 Jahre späterer Zeitraum.

Der Wegfall des Anspruchs auf Ausbildungsvergütung für die Zeit nach dem regulären Ausbildungsende im März 2013 beruhte nicht auf dem Ausbildungsabbruch, sondern auf der zeitlichen Begrenzung des Ausbildungsverhältnisses. Der Kläger hätte auch bei Fortführung bzw. Beendigung der Berufsausbildung im streitbefangenen Zeitraum (Dezember 2015 bis September 2019) keinen Anspruch mehr auf Ausbildungsvergütung gehabt.

Eine Kausalität zwischen Ausbildungsabbruch und dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen SGB II-Leistungsbezug (Dezember 2015 bis September 2019) käme somit allenfalls dann in Betracht, wenn der im März 2012 erfolgte Ausbildungsabbruch auch nach Ablauf von weiteren 3,5 bis 7,5 Jahren noch weiterhin als rechtlich wesentliche Ursache für die Arbeitslosigkeit des Klägers (und den sich daraus ergebenden Bezug von SGB II-Leistungen) anzusehen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Die Annahme, dass die Beschäftigungslosigkeit des Klägers in der Zeit von Dezember 2015 bis September 2019 (mit daraus resultierender Hilfebedürftigkeit i.S.d. SGB II) rechtlich wesentlich auf dem ca. 3,5 bis 7,5 Jahre zuvor erfolgten Ausbildungsabbruch beruhte, setzt eine Prognose der Erwerbsbiographie des zum Zeitpunkt des Ausbildungsabbruchs erst 20-jährigen Klägers voraus.

Der erkennende Senat hält jedoch jegliche Einschätzung des weiteren beruflichen Werdegangs des Klägers, der im Heranwachsendenalter (also vor Vollendung des 21. Lebensjahres, vgl. § 1 Jugendgerichtsgesetz - JGG) seine erste Berufsausbildung abgebrochen hat, für rein spekulativ. Schließlich ergeben sich aus den dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgängen erhebliche gesundheitliche Einschränkungen des Klägers (u.a. im psychischen Bereich), die sich negativ auf die Erwerbs- und Vermittlungsfähigkeit des Klägers ausgewirkt haben. Angesichts der Vielzahl der gegenüber dem Kläger festgestellten Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II (in den bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Fassungen) drängt sich zudem auf, dass es sich beim Kläger schon allein wegen seines Verhaltens bzw. seiner offensichtlich fehlenden Kooperationsbereitschaft um keinen leicht, sondern um einen schwer vermittelbaren jungen Arbeitslosen handelt. Hierfür spricht auch, dass es dem Beklagten in all den Jahren des SGB II-Leistungsbezug (soweit ersichtlich praktisch durchgängig seit März 2013 bis laufend) kein einziges Mal gelungen ist, den Kläger in Ausbildung oder in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Vielmehr war der Kläger trotz des dem Beklagten obliegenden Vermittlungsauftrags bislang nur in einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (Februar 2017 bis Februar 2019) sowie in einem mit öffentlichen Mitteln geförderten Arbeitsverhältnis (ab Oktober 2019 - vorzeitiger Abbruch durch Aufhebungsvertrag bereits im April 2020) beschäftigt, ansonsten beschäftigungslos (vgl. hierzu auch den auf Bl. 90 GA befindlichen Lebenslauf des Klägers; vgl. zu den dem Beklagten für die Förderung schwer zu erreichender junger Menschen zur Verfügung stehenden besonderen Fördermaßnahmen: § 16h SGB II).

Auch wenn - worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat - eine Vermittlung des Klägers wegen des fehlenden Berufsabschlusses erschwert gewesen sein dürfte, ist dieser Aspekt im weiteren Zeitablauf immer mehr in den Hintergrund getreten. Die vom Beklagten durchzuführenden Vermittlungsbemühungen hatten sich nach dem Ausbildungsabbruch entweder auf den ungelernten Bereich oder aber auf eine zweite Berufsausbildung des Klägers zu richten. Gerade angesichts seines Lebensalters (zu Beginn des SGB II-Leistungsbezugs: 21 Jahre; zuvor hatte der der Kläger für ca. ein Jahr Arbeitslosengeld I bezogen) war es geboten, dem Kläger den Arbeitsmarkt durch Fördermaßnahmen zu erschließen (Grundsatz des Förderns und Forderns gemäß vgl. §§ 2, 14 SGB II; vgl. nochmals zu den besonderen Fördermaßnahmen für schwer zu erreichende junge Menschen: § 16h SGB II).

Entgegen der Auffassung des Beklagten fehlen im vorliegenden Fall hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Kläger bei regulärem Abschluss seiner Berufsausbildung im vorliegend streitbefangenen Zeitraum (Dezember 2015 bis September 2019 - also ca. 3,5 bis ca. 7,5 Jahre später) durchgängig beschäftigt gewesen wäre und entsprechendes Erwerbseinkommen erzielt hätte. Schließlich hatte der Kläger keine unbefristete Beschäftigung aufgegeben, sondern "nur" seine ohnehin befristete Berufsausbildung ca. ein Jahr vorher abgebrochen. Ebenso wenig kann die nahtlose Übernahme eines Auszubildenden in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis als Normalfall oder Automatismus angesehen werden. Es ist für den Senat nicht erkennbar, worauf der Beklagte seine Einschätzung stützt, dass der schwer vermittelbare Kläger bei Ausbildungsabschluss entweder nahtlos von seinem Ausbildungsbetrieb unbefristet übernommen worden wäre oder sofort bei einem anderen Arbeitgeber eine unbefristete Beschäftigung im Ausbildungsberuf gefunden hätte.

Rein vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass selbst bei Unterstellung sowohl eines erfolgreichen Abschlusses der Berufsausbildung als auch eines unmittelbar darauf folgenden frühen Berufseinstiegs gravierende Zweifel daran bestehen, dass ein etwaiges erstes Beschäftigungsverhältnis (oder aber auch ein Folgebeschäftigungsverhältnis) auch noch im streitbefangenen Zeitraum (also ca. 2,5 bis 6,5 Jahre nach regulärem Ausbildungsende) weiterhin bestanden hätte. Dies beruht einerseits auf den aus der Verwaltungsakte ersichtlichen gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers, vor allem aber auf den durch die vielfältigen Sanktionen dokumentierten Kooperationsdefiziten des Klägers, die ein langjähriges, durchgängiges Beschäftigungsverhältnis als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Dies belegt auch die weitere Erwerbsbiographie des Klägers: Zwar absolvierte er von 2017 bis 2019 eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung in einem Museum, beendete dann aber die ca. ein halbes Jahr dort aufgenommene und erneut mit Mitteln des Bundes geförderte abhängige Beschäftigung vorzeitig, nämlich auf der Grundlage eines mit seiner Arbeitgeberin geschlossenen Aufhebungsvertrags.

cc.

Unabhängig von der fehlenden Kausalität des im März 2012 erfolgten Ausbildungsabbruchs für die ca. 3,5 bis 7,5 Jahre später bestehende Hilfebedürftigkeit (s.o. Abschnitt bb.) erweisen sich die im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Bescheide nach § 34 SGB II auch aus Härtefallgesichtspunkten als rechtswidrig i.S.d. § 44 SGB X.

Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II ist von der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würden.

Für das Vorliegen einer Härte i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II sind besondere Umstände erforderlich, die die Ersatzpflicht abweichend von der Regel als atypisch erscheinen lassen. Dies setzt voraus, dass im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Geltendmachung der Ersatzpflicht auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, den Nachrang der Leistungen nach dem SGB II wiederherzustellen, als unzumutbar und unbillig erscheinen lassen (vgl. Stotz in: BeckOGK [ehemals: Gagel, SGB II / SGB III], Stand: 1. März 2022, § 34 SGB II Rn. 59 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Auch bei der Auslegung der Härtefallvorschrift in § 34 Abs. 1 Satz 6 SGB II gilt nach Überzeugung des erkennenden Senats, dass es sich bei § 34 SGB II um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand handelt und nicht jedes vorwerfbare Verhalten, das eine Hilfebedürftigkeit oder Leistungserbringung nach dem SGB II verursacht, zur Ersatzpflicht führt. Erfasst wird vielmehr nur ein Verhalten mit spezifischem Bezug, also einem "innerem Zusammenhang" zur Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit bzw. Leistungserbringung (vgl. oben Abschnitt 2.c. sowie BSG, Urteil vom 2. November 2012 - B 4 AS 39/12 R, Rn. 12, 13 und 16).

(1)

Im vorliegenden Fall fehlt es an einem solchen spezifischen Bezug bzw. inneren Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten (Ausbildungsabbruch im März 2012) und der im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Beschäftigungslosigkeit in der Zeit von Dezember 2015 bis September 2019.

Schul- und Ausbildungsabbrüche sind unter Jugendlichen, Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre, vgl. § 1 JGG) und sog. jungen Menschen (unter 25 Jahre - U25, vgl. zum Begriff des "jungen Menschen" etwa: § 16h Abs. 1 SGB II) ein weit verbreitetes Phänomen. Diese Abbrüche sind oftmals nur vor dem Hintergrund des Entwicklungsstandes des jeweiligen Jugendlichen, Heranwachsenden oder jungen Menschen erklärbar oder nachvollziehbar. Während außenstehende Dritte derartige Schul- und Ausbildungsabbrüche bereits in der aktuellen Situation als unklug, überstürzt, verfrüht und/oder irrational erkennen, gewinnen die betroffenen Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Menschen diese Einsicht in aller Regel erst in späteren Lebensphasen, also retrospektiv.

Für den Senat sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die dem Kläger vorgeworfene "Jugendsünde" (Ausbildungsabbruch des damals 20-jährigen Kläger in einer von ihm selbst als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) aus seiner damaligen subjektiven Sicht in irgendeinem inneren Zusammenhang mit einer etwaigen Hilfebedürftigkeit in weiter Zukunft (nämlich ca. 3,5 bis 7,5 Jahre später) gestanden haben könnte. Vielmehr dürfte dem Kläger damals - entsprechend seinem Alter und seiner Lebenssituation - die Einsichtsfähigkeit zur Einschätzung etwaiger Spätfolgen seines Tuns oder Unterlassens gefehlt haben. Damit fehlt es an dem erforderlichen "inneren Zusammenhang" zwischen dem Ausbildungsabbruch und dem im vorliegenden Verfahren streitbefangenen deutlich später erfolgten Leistungsbezug.

(2)

Zusätzlich ergibt sich eine Härte i.S.d. § 34 SGB II aus der Unverhältnismäßigkeit der Höhe der vom Beklagten geltend gemachten Ersatzansprüche zu Art und Schwere des dem Kläger vorgeworfenen Fehlverhaltens.

Dem Kläger ist letztlich lediglich eine typische "Jugendsünde" vorzuwerfen (s.o. Abschnitt (1)). Derartige Jugendsünden sind gerade nicht lebenslang prägend für die Erwerbsbiographie, sondern verlieren im Laufe der weiteren Persönlichkeitsentwicklung sowie des Erwachsenwerdens nach und nach ihre Bedeutung.

Neben z.B. der Pädagogik, dem Jugendstrafrecht und dem Jugendhilferecht trägt auch das Grundsicherungsrecht den Besonderheiten des Erwachsenwerdens vielfältig Rechnung (vgl. etwa: U25-Regelungen in §§ 7 Abs. 3 Nr. 4, 22 Abs. 5, 16h und 31a Abs. 2 SGB II - letztere in der bis 31. Dezember 2022 geltenden Fassung; §§ 16k Abs. 2, 31a Abs. 6 SGB II in der seit 1. Januar 2023 geltenden Fassung). Diesen Sonderregelungen für Heranwachsende und sog. junge Menschen liegt der Leitgedanke zugrunde, dass etwaige für diese Lebensphase typische Jugendsünden die Lebens- und/oder Ausbildungschancen nicht nachhaltig verbauen oder zerstören sollen. Somit widerspricht es sowohl dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot), den programmatischen Zielen des SGB II (Grundsatz des Forderns und Förderns, vgl. hierzu erneut: §§ 2, 14 SGB II), dem Grundsatz nach § 1 Abs. 2 Satz 4 Nr. 6 SGB II ("Die Leistungen der Grundsicherung sind insbesondere darauf auszurichten, dass Anreize zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit geschaffen und aufrechterhalten werden") sowie § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB I ("Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll dazu beitragen (...) gleiche Voraussetzungen für die freie Entwicklung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen"), wenn eine typische Jugendsünde (hier: Ausbildungsabbruch des damals 20-jährigen Klägers in einer von ihm als psychisch belastend empfundenen Ausbildungssituation) als Grundlage für eine im Grundsatz zeitlich unbeschränkte Ersatzpflicht herangezogen wird. Schließlich wird durch die im vorliegenden Verfahren streitbefangene Ersatzpflicht über mehr als 30.000,00 Euro (bzw. über mehr als 51.000,00 Euro bei Berücksichtigung auch der weiteren, im vorliegenden Verfahren jedoch nicht streitbefangenen Bescheide nach § 34 SGB II) jegliche Erwerbsperspektive des langzeitarbeitslosen, ungelernten und selbst am Ende des streitbefangenen Zeitraums erst 28-jährigen Klägers zerstört.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg des Klägers hinsichtlich der im Tenor genannten Bescheide nach § 34 SGB II. Erfolglos geblieben ist der Kläger dagegen hinsichtlich der im Verwaltungs- sowie Klageverfahren zusätzlich zur Überprüfung nach § 44 SGB X gestellten sämtlichen Bescheide aus der Zeit vom 1. November 2019 bis zum 6. Oktober 2020. Zu diesem weiteren Streitgegenstand hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt des Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahren konkret vorgetragen. Dementsprechend sind der Wert der insoweit zusätzlich geltend gemachten SGB II-Leistungsansprüche sowie die Kostenquote nach § 193 SGGvom Senat zu schätzen.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.



Sie kennen die Kanzlei Labisch aus folgenden Medien:

Logo SWR1
Logo SWR4
Logo RPR1
Logo Wiesbadener Kurier
Logo Geißener Anzeiger
Logo Wormser Zeitung
Logo Wiesbadener Tagblatt
Logo Main Spitze
Logo Frankfurter Rundschau
Logo Handelsblatt
Logo Allgemeine Zeitung
Logo Darmstädter Echo
Logo Focus
Logo NTV
Logo ZDF WISO
Lexikon schließen
Schließen