Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein

Urteil vom - Az: 1 Sa 159/21

Ist der Zugang einer Kündigung durch Einwurf-Einschreiben mit Einlieferungsbeleg bewiesen?

Wird ein Kündigungseinschreiben per Einwurf-Einschreiben übersendet und legt der Absender den Einlieferungsbeleg und die Reproduktion des Auslieferungsbelegs mit der Unterschrift des Zustellers vor, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für den Zugang des Schreibens beim Empfänger.
(Leitsatz des Gerichts)

Die beklagte Arbeitgeberin kündigte dem Kläger mit Schreiben vom 26.10.2020 fristgemäß zum 30.11.2020. Das Kündigungsschreiben adressierte die Beklagte an die Wohnanschrift des Klägers und gab es am 28.10.2020 als Einwurf-Einschreiben bei der Post auf. Am 29.10.2020 bestätigte der Postmitarbeiter mit seiner Unterschrift diese Sendung "dem Empfangsberechtigten übergeben bzw. das Einschreiben Einwurf in die Empfangsvorrichtung des Empfängers eingelegt" zu haben. Der Kläger, der in einer Hochhausanlage mit 10 Stockwerken und einer Briefkastenanlage mit ca. 80 Fächern wohnt, behauptete nun, er habe keine Kündigung erhalten. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, könnten Unbefugte diesen Brief wieder dem Briefkasten entnommen haben – so der Kläger. Der Kläger erhob u.a. mit dem Antrag festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis ungekündigt fortbestehe.
Während das Arbeitsgericht Elmshorn dem Feststellungsantrag statt gab, hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein die Berufung des Beklagten zugelassen und die Feststellungsklage des Klägers abgewiesen. Die Beklagte habe den Einlieferungsbeleg mit der Sendungsnummer, die Reproduktion des Auslieferungsbelegs mit derselben Sendungsnummer und der Unterschrift des Zustellers sowie dem Datum 29.10.2020 vorgelegt. Nach Ansicht der Kammer sei damit die Zustellung des Schreibens am 29.10.2020 bewiesen. Beim Einwurf-Einschreiben erfolge die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten oder das Postfach des Empfängers. Unmittelbar vor dem Einwurf zieht der Postangestellte das sogenannte "Peel-off-Label" (Abziehetikett), das zur Identifizierung der Sendung dient, von dieser ab und klebt es auf den so vorbereiteten, auf die eingeworfene Sendung bezogenen Auslieferungsbeleg. Auf diesem Beleg bestätigt der Postangestellte nach dem Einwurf mit seiner Unterschrift und der Datumsangabe die Zustellung. Damit werde die Zustellung eines Einwurf-Einschreibens für den Postzusteller aus der routinemäßigen Zustellung herausgenommen. Bei dieser Vorgehensweise seien fehlerhafte Zustellungen zwar nicht naturgesetzlich ausgeschlossen, aber nach der Lebenserfahrung so unwahrscheinlich, dass die Annahme eines Anscheinsbeweises gerechtfertigt sei. Während bei einem Einfamilienhaus die Möglichkeit eines Fehlwurfs ausgeschlossen sei, sei die theoretische Möglichkeit eines Fehlwurfs bei einer Briefkastenanlage/mehreren Briefkästen so unwahrscheinlich, dass zunächst einmal der Beweis des ersten Anscheins für die richtige Zustellung begründet wird. Dieser kann ggf. vom Empfänger noch widerlegt werden. Somit vermag der vom Kläger erhobene Einwand, das Kündigungsschreiben könne aus seinem Hausbriefkasten durch einen Dritten entnommen worden sein, den Zugang des Kündigungsschreibens nicht zu beseitigen.
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 22.06.2021 - 4Ca 86 e/21 -teilweise geändert: Der Klageantrag zu 3) (Feststellungsantrag) wird abgewiesen.

Der Kläger trägt 96 % der Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens sowie die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Beklagte trägt 4 % der Kosten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren nur noch über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses und insoweit allein um die Frage, ob dem Kläger ein Kündigungsschreiben der Beklagten zugegangen ist.

Der Kläger ist bei der Beklagten auf Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags seit August 2017 als Service-Mitarbeiter in einer der von der Beklagten betriebenen Spielhallen beschäftigt. Er wohnt in einer Hochhausanlage mit 10 Stockwerken. Die Briefkastenanlage im Hausflur des Wohnhauses weist ca. 80 Fächer auf. Ganz oben rechts ist der ordnungsgemäß mit seinem Namen versehene Briefkasten des Klägers. Wegen der Einzelheiten wird auf die entsprechenden Fotos in den Anlagen B 8 und B 9 verwiesen (Bl. 53 f. d. Berufungsakte).

Aus Anlass der ersten Schließung der Spielhallen der Beklagten wegen der Corona-Pandemie vereinbarten die Parteien für die Zeit vom 01.04.2020 bis zum 31.03.2021, dass die Arbeitszeit des Klägers während der Zeiten einer Betriebsschließung auf 0 Stunden herabgesetzt wird.

Unter dem 26.10.2020 fertigte die Beklagte ein Schreiben, mit dem sie das Arbeitsverhältnis fristgemäß zum 30.11.2020 kündigte (Anlage B 1, Bl. 10 d.A.), adressierte es an die Wohnanschrift des Klägers und gab es am 28.10.2020 als Einwurf-Einschreiben mit der Sendungsnummer R... bei der Post auf. Am 29.10.2020 bestätigte der Postmitarbeiter mit seiner Unterschrift diese Sendung "dem Empfangsberechtigten übergeben bzw. das Einschreiben Einwurf in die Empfangsvorrichtung des Empfängers eingelegt" zu haben (Anlage B 6, Bl. 28 d.A.).

Für den November zahlte die Beklagte an den Kläger bis auf einen erstinstanzlich streitigen Betrag von EUR 173,41 brutto seine reguläre Vergütung, für Dezember 2020 leistete die Beklagte einen Betrag in Höhe von EUR 84,12 als "Nachverrechnung aus Vormonaten". Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08.01.2021 bat dieser um Übersendung der Abrechnungen für November und Dezember 2020 sowie Auszahlung der noch nicht geleisteten Beträge (Anlage B 1, Bl. 38 d. Berufungsakte). Die Abrechnungen übersandte die Beklagte mit Schreiben vom 12.01.2021.

Mit seiner Klage hat der Kläger, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses geltend gemacht.

Er hat behauptet, er habe keine Kündigung erhalten. Die Abrechnungen habe er erstmals mit dem Schreiben der Beklagten im Januar 2021 bekommen.

Er hat, soweit für das Berufungsverfahren von Interesse, beantragt

...3. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten ungekündigt fortbesteht.

Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.

Sie hat ausgeführt: Das Arbeitsverhältnis der Parteien habe aufgrund der am 29.10.2020 zugestellten Kündigung am 30.11.2020 geendet. Sie habe dem Kläger mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Arbeitszeugnis mit diesem Enddatum ausgestellt (Anlage B 4, Bl. 14 d.A.) und übersandt, ohne dass der Kläger Einwendungen erhoben habe. Gleiches gelte für die von ihr ebenfalls nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses übersandte Abrechnung für November. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger die Kündigung in seinem Briefkasten vorgefunden habe. Im Übrigen spreche nach der Rechtsprechung des BGH und des LAG Baden-Württemberg ein Anscheinsbeweis für den Zugang der Kündigung. Das gelte jedenfalls, wenn - wie hier - der Auslieferungsbeleg des Zustellers vorgelegt werde.

Im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht hat der Vertreter der Beklagten erklärt, vom 01.11.2020 bis zum 31.05.2021 seien die Spielhallen in Schleswig-Holstein geschlossen gewesen.

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil u.a. den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses der Parteien festgestellt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Das Arbeitsverhältnis bestehe fort, da die Beklagte den Zugang des Kündigungsschreibens nicht bewiesen habe. Der Auslieferungsbeleg eines Einwurf-Einschreibens liefere keinen Beweis des ersten Anscheins für den Zugang dieses Schreibens. Wegen der Einzelheiten der Begründung hierzu wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Gegen das am 07.07.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 09.07.2021 Berufung eingelegt und diese am 06.09.2021 begründet.

Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag zum Vorliegen eines Anscheinsbeweises für den Zugang ihres Kündigungsschreibens. So habe der Kläger vorgerichtlich keine Einwendungen gegen das Austrittsdatum auf den Abrechnungen und im Zeugnis erhoben. Auch habe er nach dem 30.11.2020 seine Arbeitskraft nicht angeboten, sondern offenbar Arbeitslosengeld bezogen. Die von ihr vorgelegten Unterlagen belegten, dass das mit der Versendung eines Einwurf-Einschreibens verbundene Verfahren eingehalten worden sei. Der Einwand, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass trotz des ordnungsgemäßen Auslieferungsbelegs die Postsendung in einen falschen Briefkasten geworfen worden sei, sei rein theoretischer Natur. Zu einer Widerlegung des Beweises trage der Kläger nichts vor.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 22. Juni 2021 - 4 Ca 86 e/21 - abzuändern und den mit dem Klageantrag zu 3) geltend gemachten Feststellungsantrag abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erwidert: Abrechnungen habe er erstmalig auf seine Aufforderung vom 08.01.2021 erhalten. Er bestreite den Einwurf des Kündigungsschreibens in seinen Briefkasten. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, könnten Unbefugte diesen Brief wieder dem Briefkasten entnommen haben. Er habe sich an das Jobcenter gewandt, da er keine Leistungen bekommen habe.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Akte verwiesen.

 

Gründe

Die gemäß § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG statthafte, form- und fristgemäß eingelegte und begründete und damit zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Arbeitsgericht hat dem Klagantrag zu 3. zu Unrecht stattgegeben. Der Antrag zu 3. ist zulässig, aber nicht begründet. Dementsprechend ist das arbeitsgerichtliche Urteil teilweise abzuändern und dieser Antrag abzuweisen.

A. Der Klagantrag zu 3. ist zulässig. Der Antrag ist als allgemeiner Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO statthaft. Der Kläger bestreitet den Zugang einer schriftlichen Kündigung. Auf diesen Sachverhalt ist § 4 Satz 1 KSchG nicht anwendbar (BAG vom 28.06.2007 - 6 AZR 873/06 - juris, Rn 10). Demzufolge ist statthaft nicht der Kündigungsschutzantrag nach § 4 Satz 1 KSchG, sondern die vom Kläger erhobene allgemeine Feststellungsklage im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO. Der Klagantrag ist auch gerichtet auf das Bestehen eines Rechtsverhältnisses, nämlich den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Das für die Klage erforderliche Feststellungsinteresse besteht, weil die Beklagte den Fortbestand dieses Arbeitsverhältnisses über den 30.11.2020 hinaus bestreitet.

B. Der Klagantrag zu 3. ist aber unbegründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien endet infolge der dem Kläger am 29.10.2020 zugegangenen Kündigung, die als rechtswirksam gilt, fristgemäß am 30.11.2020.

I. Dem Kläger ist am 29.10.2020 das Schreiben, mit dem die Beklagte die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erklärte, zugegangen. Dies folgt allerdings nicht bereits aus den von der Beklagten vorgetragenen Indizien für den Zugang dieses Schreibens; es folgt jedoch aus einem Anscheinsbeweis für den Zugang, den der Kläger nicht widerlegt hat.

1. Die von der Beklagten behaupteten Indizien können den Zugang des Kündigungsschreibens beim Kläger nicht belegen.

a) Das gilt zunächst dafür, dass die Beklagte dem Kläger vorgehalten hat, er habe seine Arbeitsleistung nach dem 01.12.2020 tatsächlich nicht angeboten, was den Rückschluss auf den Zugang der Kündigung rechtfertige. Das stellt schon deswegen kein Indiz für den Zugang des Kündigungsschreibens dar, weil die Spielhalle der Beklagten nach ihrem eigenen Vortrag bereits seit dem 01.11.2020 geschlossen war. Dies hat der bevollmächtigte Vertreter der Beklagten im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht ausdrücklich erklärt. Selbst wenn es sich insoweit um ein Versehen im Datum gehandelt haben sollte, war die Spielhalle der Beklagten jedenfalls ab dem 01.12.2020 geschlossen, sodass der Kläger dort seine Arbeitsleistung nicht mehr tatsächlich anbieten konnte. Dies folgt aus § 10 Abs. 1 Nr. 5 der Landesverordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus SARS-CoV-2 vom 29.11.2020 (GVOBl S-H, 2020, Seite 940). Nach dieser Vorschrift waren sämtliche Spielhallen im Land Schleswig-Holstein mit Wirkung vom 30.11.2020 zu schließen.

Damit lässt sich der Umstand, dass der Kläger am 01.12.2020 nicht zur Arbeit erschien, hinreichend erklären. Die Spielhalle war nämlich bereits geschlossen.

Dass die Beklagte den Monat November 2020 in vollem Umfang abrechnete - trotz von ihr behaupteter Schließung wegen Corona - dürfte im Übrigen daran liegen, dass dem Kläger wegen der von der Beklagten gefertigten Kündigung vom 28.10.2020 im November 2020 kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld mehr zustand, § 98 Abs. 1 Nr. 2 SGB III.

b) Auch der Umstand, dass der Kläger keine Einwände gegen das Ausscheidungsdatum "30.11.2020" im ihm übersandten Zeugnis und auf den Abrechnungen erhoben hat, lässt nicht zwingend den Schluss darauf zu, dass dem Kläger das Kündigungsschreiben zugegangen ist.

Den Zugang der Abrechnungen vor dem 12.01.2021 hat der Kläger stets bestritten. Einen Beweis für die Zustellung der - ersichtlich formlos - übermittelten Abrechnungen hat die Beklagte nicht angeboten. Wenn die Abrechnungen dem Kläger nicht zugegangen sind, konnte der Kläger das dort vermerkte Austrittsdatum nicht feststellen und sich auch nicht dagegen wehren.

Zum Zugang des Zeugnisses hat der Kläger nicht ausdrücklich Stellung genommen, insbesondere hat er diesen auch nicht ausdrücklich unstreitig gestellt. Selbst wenn man davon ausgeht, das Zeugnis sei ihm zugegangen, steht aber nicht fest, wann dies geschah. Hierzu hat die Beklagte nicht vorgetragen, insbesondere nicht, wann sie dies abgesandt hat. Immerhin hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten bereits im Schreiben vom 08.01.2021 darauf hingewiesen, dem Kläger sei kürzlich die Information erteilt worden, dass er gekündigt worden sei, ihm aber eine schriftliche Kündigung nicht vorliege. Ob dies eine Reaktion auf das übersandte Zeugnis gewesen ist, haben beide Parteien nicht weiter vertieft. Allein daraus, dass der Kläger sich zum Zeugnis gar nicht erklärt hat, ist nicht mit der notwendigen Gewissheit ein Beleg für den Zugang eines Kündigungsschreibens herzuleiten.

2. Für den Zugang des Kündigungsschreibens vom 28.10.2020 am 29.10.2020 durch Einwurf in den Wohnungsbriefkasten des Klägers spricht aber der Beweis des ersten Anscheins.

a) Beim Anscheinsbeweis geht es um die Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung durch den Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Unzweifelhaft ermöglicht die freie Beweiswürdigung dem Richter, aus feststehenden Tatsachen unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung Schlüsse auf das Vorliegen streitiger Tatsachenbehauptungen zu ziehen. Eine besondere Form dieser mittelbaren Beweisführung ist der Anscheinsbeweis. Voraussetzung seiner Anwendung ist ein sogenannter typischer Geschehensablauf, also ein sich aus der Lebenserfahrung bestätigender gleichförmiger Vorgang, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen (MüKo/ZPO/Prütting, 5. Auflage 2016, § 286, Rn 48; ebenso: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Auflage 2008, § 286, Rn 47/48).

b) Ob bei Vorlage des Einlieferungsbelegs und der Reproduktion eines Auslieferungsbelegs eines Einwurf-Einschreibens der Beweis des ersten Anscheins dafür begründet wird, dass eine Sendung durch Einlegung in einen Briefkasten oder ein Postfach zugegangen ist, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt (dagegen etwa LAG Rheinland-Pfalz vom 23.09.2013 - 5 Sa 18/13 - und vom 17.09.2019 - 8 Sa 57/19 -; Arbeitsgericht Düsseldorf vom 06.04.2017 - 10 Ca 1762/16 - und vom 22.02.2019 - 14 Ca 465/19 -; LAG Hamm vom 05.08.2009 - 3 Sa 1677/08 -, wobei dort der Auslieferungsbeleg keinem bestimmten Empfänger zugeordnet werden konnte; dafür zuletzt: LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 12.03.2019 - 2 Sa 139/18 -; LAG Baden-Württemberg vom 28.07.2021 - 4 Sa 68/20 -; OVG Schleswig-Holstein vom 26.02.2015 - 3 LB 11/14 -; BGH vom 27.09.2016 - II ZR 299/15 -). In der Literatur haben sich zuletzt Karcher/Mengestu (Das Ende des "reitenden Boten?", in DB 2021, 561 ff) unter ausführlicher Darstellung der Rechtsprechung für die Annahme eines entsprechenden Erfahrungssatzes ausgesprochen.

c) Die Kammer folgt der Auffassung, dass bei Übersendung eines Schriftstücks per Einwurf-Einschreiben und gleichzeitiger Vorlage des Einlieferungsbelegs und der Reproduktion des ordnungsgemäß unterzeichneten Auslieferungsbelegs ein Beweis des ersten Anscheins für den Zugang dieses Schriftstücks beim Empfänger spricht.

aa) Der feststehende tatsächliche Geschehensablauf führt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Einwurf der Sendung in das richtige Postfach bzw. den richtigen Briefkasten. Dafür bieten die organisatorischen Anweisungen, die die Deutsche Post AG für die Zustellung eines Einwurf-Einschreibens getroffen hat, eine hinreichend sichere Grundlage. Beim Einwurf-Einschreiben erfolgt die Ablieferung durch Einwurf der Sendung in den Briefkasten oder das Postfach des Empfängers. Unmittelbar vor dem Einwurf zieht der Postangestellte das sogenannte "Peel-off-Label" (Abziehetikett), das zur Identifizierung der Sendung dient, von dieser ab und klebt es auf den so vorbereiteten, auf die eingeworfene Sendung bezogenen Auslieferungsbeleg. Auf diesem Beleg bestätigt der Postangestellte nach dem Einwurf mit seiner Unterschrift und der Datumsangabe die Zustellung (vgl. die Beschreibung des Ablaufs in BGH vom 27.09.2016 - II ZR 299/15 - juris, Rn 33).

Damit wird die Zustellung eines Einwurf-Einschreibens für den Postzusteller aus der routinemäßigen Zustellung herausgenommen. Unmittelbar vor der Zustellung muss er sich über die im Einzelfall zuzustellende Sendung vergewissern und seine Aufmerksamkeit auf diese Zustellung richten. Dies wird verstärkt dadurch, dass er nicht nur das Abziehetikett auf den Auslieferungsbeleg händisch zu kleben hat, sondern, dass er zusätzlich für die ordnungsgemäße Zustellung mit seiner Unterschrift zeichnet. Bei dieser Vorgehensweise sind fehlerhafte Zustellungen zwar nicht naturgesetzlich ausgeschlossen, aber nach der Lebenserfahrung so unwahrscheinlich, dass die Annahme eines Anscheinsbeweises gerechtfertigt ist.

bb) Der dem zugrundeliegende Erfahrungssatz lautet damit letztlich, dass eine Zustellung ordnungsgemäß erfolgt, wenn eine berufsmäßig mit der Zustellung beauftragte Person - wie ein Zusteller der Deutschen Post AG - mit der zuzustellenden Sendung vor dem Briefkasten steht, in den die Sendung einzuwerfen ist, das "Peel-off-Label" von der zuzustellenden Sendung abzieht, das Schriftstück einwirft und anschließend durch seine Unterschrift auf dem vorgesehenen Auslieferungsbeleg, auf dem das "Peel-off-Label" aufgeklebt ist, bestätigt. Während bei einem Einfamilienhaus in diesem Fall die Möglichkeit eines Fehlwurfs ausgeschlossen ist, ist die theoretische Möglichkeit eines Fehlwurfs bei einer Briefkastenanlage/mehreren Briefkästen so unwahrscheinlich, dass zunächst einmal der Beweis des ersten Anscheins für die richtige Zustellung begründet wird. Dieser kann ggf. vom Empfänger noch widerlegt werden.

Ein Beweis ist nach § 286 ZPO nicht erst dann geführt, wenn jede Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes komplett ausgeschlossen ist. Vielmehr genügt es, wenn der Richter einen brauchbaren Grad der Gewissheit von der zu beweisenden Tatsache erlangt hat (vgl. zum Beweismaß: Zöller-Greger, 34. Auflage 2022, § 286, Rn. 19). Dieses Beweismaß ist bei dem hier zugrunde gelegten Sachverhalt erreicht.

d) Danach sind vorliegend die Voraussetzungen für die Annahme eines Anscheinsbeweises für die Zustellung der Kündigung gegeben. Die Zustellung des Einwurf-Einschreibens ist durch die Deutsche Post AG erfolgt und damit durch jemanden, der berufsmäßig mit der Zustellung betraut ist und eine entsprechende Erfahrung aufweist. Die Beklagte hat den Einlieferungsbeleg mit der Sendungsnummer, die Reproduktion des Auslieferungsbelegs mit derselben Sendungsnummer und der Unterschrift des Zustellers sowie dem Datum 29.10.2020 vorgelegt. Damit ist die Zustellung des Schreibens am 29.10.2020 bewiesen. Irgendeinen relevanten Sachvortrag, der den Zugang in Frage stellen könnte, hat der Kläger nicht gehalten. Der allein von ihm erhobene Einwand, es bestehe auch die Möglichkeit, dass das Kündigungsschreiben aus seinem Hausbriefkasten durch einen Dritten entnommen worden sei, vermag den Zugang des Kündigungsschreibens nicht zu beseitigen.

II. Die am 29.10.2020 zugestellte Kündigung gilt gemäß den §§ 4 Satz 1, 7 KSchG als rechtswirksam, da sie vom Kläger nicht angegriffen worden ist. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien im August 2017 begründet wurde, wirkt die Kündigung - wie erklärt - gemäß § 622 Abs. 1 Nr. 1 BGB fristgemäß zum 30.11.2020.

III. Die Kostenentscheidung hinsichtlich des arbeitsgerichtlichen Verfahrens beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Der Kläger trägt gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens vollständig. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG. Die Frage, ob in der hier zugrundeliegenden Konstellation ein Anscheinsbeweis für den Zugang eines Kündigungsschreibens besteht, hat grundsätzliche Bedeutung.



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