Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz

Urteil vom - Az: 10 Sa 66/13

In Mainz arbeitet die Post auch an Fastnacht - Erlöschen einer Abmahnung - Fehlverhalten eines Sanitäters

(1.) Hat eine Partei im arbeitsgerichtlichen Prozess Berufung eingelegt und den die Begründung enthaltenden Brief vor den Fastnachtstagen (Mittwoch) in Mainz der Post übergeben, so ist nicht mit einer Verzögerung der Zustellung - am nächsten Tag - zu rechnen. In Mainz stellt die Post ("sogar") am Rosenmontag zu. Wird die Begründungsschrift tatsächlich erst am (Fastnachts-)Dienstag zugestellt, so liegt dies nicht am Verschulden der Partei. Bei Fristverstreichung (am Montag) ist ihr vielmehr die Einsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

(2.) Eine ursprünglich ausreichende Abmahnung verliert ihre Bedeutung grundsätzlich erst dann, wenn auf Grund des eingetretenen Zeitablaufs oder auf Grund neuer Umstände (zB. einer späteren unklaren Reaktion des Arbeitgebers auf ähnliche Pflichtverletzungen anderer Arbeitnehmer) der Arbeitnehmer wieder im Ungewissen sein könnte, was der Arbeitgeber von ihm erwartet bzw. wie er auf eine etwaige Pflichtverletzung reagieren werde.
Hat der Arbeitgeber ein Fehlverhalten zunächst abgemahnt und in der Folgezeit lediglich Ermahnungen -trotz gleichgelagertem Fehlverhalten - ausgesprochen, so gilt die (anfängliche) Abmahnung jedenfalls nach etwa 9 Jahren als erloschen.

(3.) Verhält sich ein Rettungssanitäter anstandslos gegenüber Angehörigen von Patienten ("Die ist hin."), so rechtfertigt dies grundsätzlich eine Kündigung.
Die (fristlose, hilfsweise fristgerechte) Kündigung im vorliegenden Fall erachtete das Gericht jedoch wegen der langen Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers, dessen Unterhaltspflichten gegenüber Ehefrau und Kind sowie der erloschenen Abmahnung als unverhältnismäßig.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 29. November 2012, Az. 7 Ca 2460/12, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Beklagten vom 29.06.2012.

Der 1959 geborene Kläger ist verheiratet und Vater eines achtjährigen Kindes. Er ist seit dem 15.01.1992 bei dem Beklagten als Rettungssanitäter im Rettungsdienst zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt € 3.213,00 beschäftigt. Der Beklagte ist ein Kreisverband des Deutschen Roten Kreuzes. Er beschäftigt 255 Arbeitnehmer, darunter 70 im Rettungsdienst. Es besteht ein Betriebsrat.

Mit Schreiben vom 14.05.2002 beanstandete der Beklagte gegenüber dem Kläger ein Fehlverhalten während eines Einsatzes am 01.03.2002. In dem Schreiben heißt es ua.

„In der Zukunft erwarten wir, dass Sie sich gegenüber Patienten und deren Angehörigen aufgabenorientierter und einfühlsamer verhalten. Wir hoffen, dass Sie zukünftig diesen unverzichtbaren Anforderungen besser entsprechen werden, ansonsten gefährden Sie den Fortbestand Ihres Arbeitsverhältnisses.“

Mit Schreiben vom 08.12.2003 erteilte der Beklagte dem Kläger eine Abmahnung, weil sich das Pflegepersonal eines Altenheims über sein Verhalten, ua. den anmaßenden Ton, während eines Einsatzes am 21.10.2003 beschwert hatte.

Mit Schreiben vom 12.06.2008 reagierte der Beklagte auf die Beschwerde der Tochter eines Patienten über das Verhalten des Klägers bei einem Krankentransport am 02.05.2008. Der Beklagte machte darauf aufmerksam, dass der einwandfreie Umgang mit Patienten und deren Angehörigen neben einer fachlich kompetenten Patientenversorgung unverzichtbar sei. Er forderte den Kläger auf, sich künftig generell angemessen zu verhalten.

Am 03.06.2012 wurden der Kläger und sein Arbeitskollege nachts zu einem häuslichen Notfall gerufen. Die Patientin war vermutlich aufgrund eines zuvor erlittenen Schlaganfalls gestürzt und verstarb später im Krankenhaus. Der Ehemann und die Tochter der Patientin beschwerten sich in einem Schreiben vom 14.06.2012 über das Verhalten des Klägers im Verlauf des Einsatzes. Sie warfen dem Kläger mehrere inakzeptable Äußerungen vor. Der Kläger soll zweimal wörtlich geäußert haben:

„Die ist hin, die Wohnung wird sie nicht mehr sehen!"

Außerdem:

„Da haben Sie jetzt einen Pflegefall, die nicht mehr unter diesen Bedingungen und in dieser verwinkelten Wohnung leben kann."

Im weiteren Verlauf des Einsatzgeschehens habe sich der Kläger laut Gedanken über den Transport der Patientin vom ersten Stock in den Rettungswagen gemacht. Er soll zu Ehemann und Tochter gesagt haben:

„Schauen Sie sich die doch einmal an, wie sollen wir die denn von hier aus in das untere Stockwerk bekommen? Das ist unmöglich, das schaffen wir nie".

Der Kläger gab zu dem Beschwerdeschreiben am 25.06.2012 eine schriftliche Stellungnahme ab. Er bestritt die Vorwürfe und relativierte seine Äußerungen. Am 25.06.2012 führte der Kreisgeschäftsführer mit dem Kläger im Beisein eines Betriebsratsmitglieds ein Personalgespräch. Mit E-Mail vom 27.06.2012 hörte er den Betriebsrat zu einer beabsichtigten fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung an. Der Betriebsrat antwortete am 28.06.2012, er widerspreche der fristlosen Kündigung, der ordentlichen Kündigung widerspreche er nicht.

Mit Schreiben vom 29.06.2012 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise ordentlich zum 31.12.2012. Gegen diese Kündigung wehrt sich der Kläger mit seiner am 05.07.2012 erhobenen Kündigungsschutzklage.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die fristlose Kündigung vom 29.06.2012 noch durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung zum 31.12.2012 beendet wurde.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Koblenz vom 29.11.2012 Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und - zusammengefasst - ausgeführt, die außerordentliche Kündigung des Beklagten sei mangels vorheriger Abmahnung unwirksam. Der Beklagte habe dem Kläger im Verlauf seiner über 20-jährigen Beschäftigungszeit zwei Ermahnungen und eine Abmahnung erteilt. Die Abmahnung vom 08.12.2003 entfalte im Hinblick auf die jetzt erhobenen Vorwürfe keine Rechtswirkungen mehr, weil sie fast neun Jahre zurückliege. Der Beklagte hätte den Kläger erneut abmahnen müssen, selbst wenn man zu seinen Gunsten unterstelle, dass sich der Kläger bei dem Einsatz am 03.06.2012 unangemessen geäußert habe. Zwar sei zugunsten des Beklagten dessen Interesse an der ordnungsgemäßen Ausführung eines Notfalleinsatzes zu berücksichtigen. Auch könne dem Beklagten schlechthin nicht zugemutet werden, Rettungssanitäter zu beschäftigen, die sich bei Notfalleinsätzen gegenüber Angehörigen in unsensibler Art und Weise verhalten. Zu Gunsten des Klägers sei jedoch zu berücksichtigen, dass er nach seinem unwidersprochen gebliebenem Vortrag ca. 15.000 Notfalleinsätze durchgeführt habe, wovon lediglich drei Einsätze beanstandet worden seien. Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung sei iSd. § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt, weil es auch insoweit an einer zeitnahen Abmahnung fehle. Wegen der Einzelheiten der Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf Seite 7 bis 11 des erstinstanzlichen Urteils vom 29.11.2012 Bezug genommen.

Gegen das Urteil, das am 11.01.2013 zugestellt worden ist, hat die DRK-Landestarifgemeinschaft für den beklagten DRK-Kreisverband mit Schriftsatz vom 06.02.2013 Berufung eingelegt. Der Schriftsatz ist erst am 12.02.2013 (Fastnachtsdienstag) beim Landesarbeitsgericht in Mainz eingegangen. Auf die Verspätung ist der Beklagte am 16.05.2013 hingewiesen worden. Daraufhin hat er am 23.05.2013 beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, die er auf eine verzögerte Postzustellung stützt. Er hat dazu eidesstattliche Versicherungen vorgelegt, wonach die Berufungsschrift bereits am 06.02.2013 (Mittwoch) beim Postamt am Frauenlobplatz in Mainz aufgegeben worden ist. Die Berufungsbegründungsschrift ist am 11.03.2013 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

Der Beklagte macht geltend, die Wertung des Arbeitsgerichts, das - als zutreffend unterstellte - Verhalten des Klägers während des Einsatzes am 03.06.2012 stelle keine sonderlich schwerwiegende Pflichtverletzung dar, sei unrichtig. Das Arbeitsgericht habe den Kündigungsvorwurf in seiner Tragweite nicht zutreffend gewürdigt. Die Äußerungen des Klägers ggü. der Notfallpatientin und ihren engsten Angehörigen seien vollkommen inakzeptabel. Einer vorherigen Abmahnung habe es nicht bedurft. Auch die Diktion des Klägers in seiner schriftlichen Stellungnahme zu dem Beschwerdeschreiben sei in keiner Weise angemessen. Sie belege vielmehr, dass es ihm nicht nur an Unrechts,- sondern auch an Problembewusstsein fehle. Der Kläger sei bereits Ende 2003 einschlägig abgemahnt worden. Weiteres Fehlverhalten sei 2008 schriftlich gerügt, wenn auch nicht förmlich abgemahnt worden. Es sei nicht richtig, dass von ca. 15.000 Notfalleinsätzen des Klägers lediglich drei beanstandet worden seien. Vielmehr seien nur drei Vorfälle aus der Vergangenheit heute noch aktenkundig. Darüber hinaus sei es in weiteren Fällen immer wieder zu unangemessenen Äußerungen des Klägers gekommen.

Der Beklagte beantragt zweitinstanzlich,

das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 29.11.2012, Az. 7 Ca 2460/12, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe seines Berufungserwiderungsschriftsatzes vom 12.04.2013, auf den Bezug genommen wird, als zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.  Die nach § 64 ArbGG statthafte Berufung des Beklagten ist zulässig. Die Berufungsschrift ist zwar erst am 12.02.2013 (Fastnachtsdienstag) und damit einen Tag nach Ablauf der bis zum 11.02.2013 (Rosenmontag) laufenden Berufungsfrist beim Landesarbeitsgericht in Mainz eingegangen. Dem Beklagten war aber nach § 233 ZPO Wiedereinsetzung in diese Frist zu gewähren.

Der Beklagte war ohne sein Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Berufung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG einzuhalten. Er hat glaubhaft gemacht, dass sein Bevollmächtigter einen korrekt adressierten und frankierten, die Berufungsschrift enthaltenden Brief bereits am 06.02.2013 (Mittwoch) der Deutschen Post AG in der Postfiliale am Frauenlobplatz in Mainz übergeben hat, sodass er bei normaler Postlaufzeit vor Fristablauf am 11.02.2013 (Rosenmontag) beim Landesarbeitsgericht in Mainz hätte rechtzeitig eingehen müssen. Die versäumte Frist ist somit allein auf eine verzögerte Zustellung zurückzuführen. Dem Beklagten sind solche Verzögerungen nicht zuzurechnen. Er durfte darauf vertrauen, dass die von der Deutschen Post AG für den Normalfall zugesagten Postlaufzeiten eingehalten würden. In seinem Verantwortungsbereich lag es allein, das Schriftstück ordnungsgemäß und so rechtzeitig aufzugeben, dass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG das Landesarbeitsgericht in Mainz fristgerecht erreichen konnte (BVerfG 07.01.2003 - 2 BvR 447/02 - zu II 1 der Gründe, NJW 2003, 1516; BAG 28.01.2010 - 2 AZR 1008/08 Rn. 14 mwN, NZA-RR 2010, 461).

An Weiberfastnacht (Donnerstag) und dem folgenden Freitag und Samstag findet in Mainz, anders als in anderen Fastnachtshochburgen, ein weitestgehend unbeeinträchtigter Dienst- und Geschäftsverkehr statt, so dass mit einer erheblich verzögerten Postzustellung nicht gerechnet werden muss. Selbst am Rosenmontag wird das Landesarbeitsgericht in Mainz von der Deutschen Post AG mit Sendungen beliefert.

Der Bevollmächtigte des Beklagten hat die Berufungsschrift so frühzeitig zur Post gegeben, dass er - trotz der Fastnachtstage - mit einem fristgemäßen Eingang rechnen durfte. Entgegen der Ansicht des Klägers sind Differenzierungen danach, ob eine eingetretene Verzögerung auf einer verminderten Dienstleistung der Post (zB. von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch) beruht, unzulässig. Die Gerichte dürfen die Wiedereinsetzung nicht mit der Begründung versagen, der Betroffene habe nach Sachlage oder erfahrungsgemäß mit einer Verzögerung der Sendung rechnen müssen (BVerfG 25.09.2000 - 1 BvR 2104/99 - NJW 2001, 1566).

Der Beklagte hat durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen glaubhaft gemacht, dass die Berufungsschrift vier Werktage vor Ablauf der Berufungsfrist und damit so rechtzeitig zu einer Postfiliale im Stadtgebiet von Mainz gebracht worden ist, dass bei normalem Verlauf der Dinge ohne weiteres mit der Einhaltung der Berufungsfrist zu rechnen war. Briefe werden im Stadtgebiet von Mainz innerorts regelmäßig am Tag nach dem Einwurf in den Briefkasten zugestellt.

Damit liegen die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung vor. Der Antrag ist rechtzeitig innerhalb der Zweiwochenfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 ZPO nach Behebung des Hindernisses formgerecht (§ 236 Abs. 1 ZPO) sowie unter Angabe und Glaubhaftmachung der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO) beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

II.  In der Sache hat die Berufung des Beklagten keinen Erfolg. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist weder durch die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 29.06.2012 mit sofortiger Wirkung noch durch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung zum 31.12.2012 aufgelöst worden. Dies hat das Arbeitsgericht zu Recht und mit zutreffender Begründung festgestellt. Die Berufungskammer folgt der Begründung des angefochtenen Urteils und stellt dies gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG fest. Unter Berücksichtigung des Berufungsvorbringens sind lediglich folgende Ausführungen veranlasst:

1.         Die außerordentliche Kündigung ist entgegen der Auffassung der Berufung unwirksam. Die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB liegen nicht vor, weil jedenfalls die Interessenabwägung zugunsten des Klägers ausgeht.

Das Arbeitsgericht hat seiner Entscheidung die - vom Kläger teilweise bestrittene - Darstellung des Beklagten zugrunde gelegt. Danach soll sich der Kläger bei dem Notfalleinsatz am 03.06.2012 gegenüber der Patientin und ihren Angehörigen völlig unangemessen verhalten haben. Das Arbeitsgericht hat als zutreffend unterstellt, dass der Kläger zweimal wörtlich geäußert hat: „Die ist hin, die Wohnung wird sie nicht mehr sehen!" und außerdem: „Da haben Sie jetzt einen Pflegefall, die nicht mehr unter diesen Bedingungen und in dieser verwinkelten Wohnung leben kann." Es hat außerdem unterstellt, dass der Kläger zu Ehemann und Tochter der Patientin gesagt hat: „Schauen Sie sich die doch einmal an, wie sollen wir die denn von hier aus in das untere Stockwerk bekommen? Das ist unmöglich, das schaffen wir nie".

Da Arbeitsgericht hat - auf der Grundlage dieser Unterstellung - eine schwerwiegende Pflichtverletzung des Klägers bejaht. Dem schließt sich die Berufungskammer an. Der Kläger ist als Rettungssanitäter verpflichtet, sich im Einsatz gegenüber den hilfsbedürftigen Patienten und ihren Angehörigen angemessen und respektvoll zu verhalten. Äußerungen wie „Die ist hin“ oder „Wie sollen wir die nach unten bekommen“ sind ungebührlich und respektlos. Darin kommt eine erhebliche Miss- bzw. Nichtachtung der lebensbedrohlich erkrankten Patientin und ihrer besorgten Angehörigen zum Ausdruck. Die Annahme des Arbeitsgerichts, dass derartige Pflichtverletzungen an sich geeignet sind, als wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB angesehen zu werden, ist nicht zu beanstanden.

Die Berufungskammer stimmt dem Arbeitsgericht auch darin zu, dass dem Beklagten selbst bei Vorliegen eines wichtigen Grundes bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht unzumutbar war.

Liegt ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich vor, so kann eine hierauf gestützte beabsichtigte außerordentliche Kündigung gleichwohl das Arbeitsverhältnis nur wirksam beenden, wenn bei der umfassenden Interessenabwägung das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers überwiegt. Dies ist hier nicht der Fall.

Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere Reaktionen sind insbesondere Abmahnung und ordentliche Kündigung anzusehen. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen - zu erreichen (BAG 25.10.2012 - 2 AZR 495/11 - Rn. 15 mwN, NZA 2013, 319).

Nach diesen Grundsätzen, denen die Berufungskammer folgt, ist die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt. Dass vom Arbeitsgericht der Ausspruch einer Abmahnung als ausreichende Reaktion angesehen wurde, ist nicht zu bemängeln. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 19.04.2012 -2 AZR 186/11 - Rn. 22, NZA 2013, 27).

Zugunsten des Klägers sprechen seine 20-jährige Betriebszugehörigkeit seit 1992, sein Lebensalter von 53 Jahren im Zeitpunkt der Kündigung sowie seine Unterhaltspflichten gegenüber der Ehefrau und einem achtjährigen Kind. Das Arbeitsverhältnis war allerdings in der Vergangenheit nicht unbeanstandet verlaufen. Der Kläger ist wegen ungebührlichen Verhaltes gegenüber Patienten, deren Angehörigen und auch gegenüber Pflegepersonal vom Beklagten bereits ermahnt und förmlich abgemahnt worden. Die letzte Abmahnung des Klägers erfolgte allerdings am 08.12.2003 und lag damit bei Kündigungsausspruch fast neun Jahre zurück. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass diese Abmahnung aufgrund des Zeitablaufs wirkungslos geworden ist.

Ob eine Abmahnung nach Ablauf einer bestimmten Zeit wirkungslos geworden ist, lässt sich nicht pauschal beurteilen. Eine ursprünglich ausreichende Abmahnung verliert ihre Bedeutung grundsätzlich erst dann, wenn auf Grund des eingetretenen Zeitablaufs oder auf Grund neuer Umstände (zB. einer späteren unklaren Reaktion des Arbeitgebers auf ähnliche Pflichtverletzungen anderer Arbeitnehmer) der Arbeitnehmer wieder im Ungewissen sein könnte, was der Arbeitgeber von ihm erwartet bzw. wie er auf eine etwaige Pflichtverletzung reagieren werde. Dies lässt sich jedoch unter der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Art der Verfehlung des Arbeitnehmers und des Verhaltens des Arbeitgebers im Anschluss an die Abmahnung, beurteilen (BAG 10.10.2002 - 2 AZR 418/01 - Rn. 29, DB 2003, 1797).

Die Berufungskammer teilt die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass die Abmahnung vom 08.12.2003 so lange zurückliegt, dass der Kläger nicht damit rechnen musste, sein Verhalten am 03.06.2012 führe zu einer fristlosen Kündigung. Eine erneute Abmahnung gegenüber dem Kläger war auch nicht entbehrlich. Der Kläger hat zwei Jahrzehnte für den Beklagten als Rettungssanitäter gearbeitet. Dieser Aspekt ist für die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung von entscheidender Bedeutung. Es kann nicht unterstellt werden, dass ein künftiges störungsfreies Miteinander der Parteien nicht mehr in Frage käme. Das in der Beschäftigungszeit von 20 Jahren vom Kläger erworbene Maß an Vertrauen hat hohes Gewicht. Es ist höher zu bewerten als der verständliche Wunsch des Beklagten, nur solche Rettungssanitäter zu beschäftigen, die in ihrem Sozialverhalten gegenüber Patienten und deren Angehörigen in jeder Hinsicht und ausnahmslos „ohne Fehl und Tadel“ sind (vgl. zu diesem Aspekt BAG 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 50, Fall „Emmely“, NZA 2010, 1227).

2.         Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung des Beklagten zum 31.12.2012 nicht iSv. § 1 Abs. 2 KSchG durch Gründe im Verhalten des Klägers bedingt ist. Sie ist auf denselben Lebenssachverhalt gestützt wie die außerordentliche Kündigung. Dem Beklagten war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, den Kläger weiterzubeschäftigen und auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen.

III.  Die Kosten der erfolglos gebliebenen Berufung fallen nach § 97 Abs. 1 ZPO dem Beklagten zur Last.

Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.



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