Landesarbeitsgericht Hamburg

Urteil vom - Az: 5 SaGa 1/14

Ein Betrieb, zwei DGB-Gewerkschaften - Streiks bis zum Schiedsverfahren zulässig

1. Sind für einen Betrieb nach ihrer Satzung mehrere Gewerkschaften zuständig, begründet dies die Rechtswidrigkeit eines Arbeitskampfes selbst dann nicht, wenn es sich um zwei im DGB organisierte Gewerkschaften handelt. Dies gilt jedenfalls solange, wie eine (Schieds-) Entscheidung nach § 16 der DGB Satzung nicht erfolgt ist. Auch der Umstand, dass das Schiedsgericht entgegen der DGB-Satzung von keiner der beiden Gewerkschaften angerufen wird, führt nicht zur Rechtswidrigkeit eines Arbeitskampfes.
(Leitsatz)

(2.) Für die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft ist ihre Satzung entscheidend. Bei deren Auslegung ist auf den objektivierten Willen des Satzungsgebers abzustellen. Maßgeblich sind insbesondere der Wortlaut, der Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der Satzung.

(3.) Die Ausgestaltung seines Organisationsbereichs steht grundsätzlich jedem Verband frei. Eine Gewerkschaft kann daher für sich entscheiden, für welche Arbeitnehmer und in welchen Wirtschaftsbereichen sie tätig werden will. Sie kann ihren Organisationsbereich betriebsbezogen, unternehmensbezogen oder nach sonstigen Kriterien abgrenzen. Dem steht auch das sog. Industrieverbandsprinzip nicht entgegen. Dieser Organisationsgrundsatz der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften soll im Interesse einer effektiven Gewerkschaftsarbeit sicherstellen, dass die Arbeitnehmer eines Industriezweigs durch jeweils eine DGB-Gewerkschaft vertreten werden. Die Grenzen des jeweiligen Industriezweigs und damit die Zuständigkeit der einzelnen Gewerkschaft zu bestimmen, liegt aber allein in deren Satzungsautonomie. Die freiwillig eingegangene Bindung an die Satzung des DGB steht dem nicht entgegen.
Die Satzung des DGB schließt Doppelzuständigkeiten der Einzelgewerkschaften nicht von vorneherein aus. Vielmehr setzt das Schiedsgerichtsverfahren nach § 16 der DGB-Satzung eine zu beseitigende Doppelzuständigkeit gerade voraus.

(4.) . Hat sich eine Gewerkschaft - wie vorliegend die Beklagte - verpflichtet, die Satzung des DGB zu achten, wird in Zweifelsfällen diejenige Auslegung der Gewerkschaftssatzung vorzuziehen sein, die nicht gegen die Satzung des DGB verstößt. Das bedeutet, dass die Beklagte verpflichtet ist, nach gescheiterten Verhandlungen über die Zuständigkeit, das Schiedsgericht anzurufen, seine Entscheidung zu respektieren und hinzunehmen, dass auch Dritte, etwa die Klägerin (=Arbeitgeber), sich auf eine solche Entscheidung berufen können. Solange allerdings keine Entscheidung des Schiedsgerichts in diesem Verfahren vorliegt, bleiben die betroffenen Gewerkschaften nach ihrer Satzung zuständig, kann sich kein Dritter, also auch nicht die Klägerin, auf eine etwaige Unzuständigkeit berufen.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 05. Mai 2014 - 9 Ga 12/14 - abgeändert:

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes über die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen bei Konkurrenz zweier Gewerkschaften, die beide im DGB organisiert sind.

Die Verfügungsklägerin (im Folgenden: Klägerin) ist ein Dienstleister im Bereich der Transport- und Kontraktlogistik und unterhält u.a. einen Betrieb im X-Weg in Hamburg-H.. In dem Betrieb in H., in welchem 472 Arbeitnehmer einschließlich Auszubildender beschäftigt sind, werden wesentliche Teile der Produktion für die A. GmbH gelagert und ausgeliefert. Die Verfügungsbeklagte (im Folgenden: Beklagte) - die Gewerkschaft I. - und die erstinstanzlich Streitverkündete, die Gewerkschaft V., sind im Betrieb vertreten, beide sind Mitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund.

Die Klägerin bzw. ihre Rechtsvorgängerinnen sind Mitglied im Arbeitgeberverband Verein H. e.V., welcher mit der Gewerkschaft V. Flächentarifverträge der Speditions- und Logistikbranche für den Raum Hamburg abgeschlossen hat. Die Klägerin und die die Gewerkschaft V. vereinbarten unter dem 13. Dezember 2013 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 einen Ergänzungs- und Überleitungstarifvertrag als Haustarifvertrag.

In der Satzung der Beklagten heißt es unter § 32 u.a., dass sie die Satzung des DGB einzuhalten und seine Beschlüsse durchzuführen habe. Ferner heißt es dort, die Beklagte erkenne die satzungsrechtliche Funktion des DGB zur Klärung von Zuständigkeiten zwischen dessen Mitgliedsgewerkschaften an.

Nach dem als Anhang zur Satzung der Beklagten aufgeführten Organisationskatalog umfasst ihr Organisationsbereich u.a. Betriebe der Luft- und Raumfahrtindustrie, wobei zum Organisationsbereich auch „alle Betriebe, selbstständigen Betriebsabteilungen bzw. Nebenbetriebe, Heimarbeiter, Zwischenmeister und Subunternehmer, deren Zweck überwiegend darauf gerichtet ist, die unter diesen Organisationskatalog fallenden Betriebe bei der Verwirklichung ihrer Zielsetzung zu unterstützen (z.B. Vor-, End- und Teilfertigung, Teilefertigung, Zulieferung, Weiterver- und bearbeitung, Erbringung von Dienstleistungen jeder Art, z.B. Transport, Logistik, Montage, Reparatur, Reinigung, Bewachung, Energieerzeugung und -bereitstellung, Kantinen, Versorgungseinrichtungen jeder Art, EDV, Finanzen, Vermögen, Personalwesen, Verwaltung jeder Art, Vertrieb, Handel, Marketing)“ gehören und dies „insbesondere auch für solche Betriebe, selbstständigen Betriebsabteilungen bzw. Nebenbetriebe, Heimarbeiter, Zwischenmeister und Subunternehmer, die aufgrund von Auf- und Abspaltungen, Ausgliederungen und/oder sonstigen unternehmerischen Veränderungen organisatorischer und/oder gesellschafts-rechtlicher Art entstanden sind oder entstehen bzw. tätig sind oder werden“, gelte.

Die Satzung Gewerkschaft V. bestimmt in Ziff. 1.4 des Anhangs 1 als Organisationsbereich u.a.: „Verwaltungen und Betriebe des Spedition-, Transports-Handels-und Lagereigewerbes“. In der Satzung der Gewerkschaft V. ist unter § 2 geregelt, dass diese die Satzung des DGB anerkennt. Weiter ist unter § 4 Ziff. 3 geregelt, dass sie die satzungsrechtliche Funktion des DGB zur Klärung von Organisationszuständigkeiten zwischen dessen Mitgliedsgewerkschaften anerkennt.

Die Satzung des DGB in Form der vom 19. Ordentlichen Bundeskongress 2010 beschlossenen Fassung enthält unter § 15 und in der Anlage 1 Regelungen zur Abgrenzung der Organisationsbereiche der Mitgliedsgewerkschaften sowie in § 16 die Regelung, dass Streitigkeiten zwischen Gewerkschaften, die trotz Vermittlung des Bundesvorstandes nicht geschlichtet werden konnten, durch Schiedsgerichtsverfahren zu entscheiden sind. In der Anlage 2 zur Satzung des DGB ist eine Schiedsgerichtsordnung enthalten.

Ein entsprechendes Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit im Betrieb der Klägerin ist weder von der Beklagten noch von der Gewerkschaft V. eingeleitet worden.

Mit Schreiben vom 20. März 2014 forderte die Beklagte durch ihre Bezirksleitung Küste die Klägerin zum Abschluss eines Firmentarifvertrages u.a. für den Standort X-Weg in Hamburg-H. auf. Die Klägerin teilte gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 28. März 2014 mit, dass sie nicht in Tarifverhandlungen mit der Verfügungsbeklagten eintreten werde, da die Beklagte für den Abschluss eines Tarifvertrages nicht zuständig sei. Mit Schreiben vom 27. März 2013 (Anlage CMS 8. Bl. 116-117 d.A.) teilte die Gewerkschaft V. der Beklagten mit, dass sie, V., für das Logistikunternehmen der Klägerin zuständig sei und forderte die Beklagte auf, die Aufnahme von Tarifverhandlungen gegenüber der Klägerin zu beenden.

Am 10. April 2014 erlangte die Klägerin von einem Papier der Beklagten Kenntnis, in dem es unter der Überschrift „Beschluss der Tarifkommission S“ u.a. heißt, dass die Tarifkommission beschließe, „in den nächsten 14 Tagen am Standort H. einen Warnstreik durchzuführen“.

Die Verfügungsklägerin hat die Rechtsauffassung vertreten, sie unterliege dem Betreuungsbereich der Gewerkschaft V.. Der beabsichtigte Arbeitskampf der Beklagten sei deshalb mangels Tarifzuständigkeit offensichtlich rechtswidrig. Die Beklagte sei bereits nach dem Wortlaut ihrer eigenen Satzung nicht für ihre Betriebe zuständig. Selbst wenn sich eine Zuständigkeit auch der Beklagten aus deren Satzung zunächst ergeben könnte, so würde diese im Hinblick auf die Satzung des DGB, die Teil der Satzung der Beklagten sei, und das dort vorgesehene Schiedsverfahren entfallen. Die Beklagte habe sich in ihrer eigenen Satzung zu dem Grundsatz bekannt, dass es zwischen DGB-Gewerkschaften keine Zuständigkeitsüberschneidungen geben solle und für jeden Betrieb stets nur eine bestimmte DGB-Gewerkschaft zuständig sei. Wenn erkennbar sei, dass beabsichtigte Aktivitäten zu Überschneidungen mit bestehenden Organisationszuständigkeiten einer anderen DGB-Gewerkschaft führten, müsse der Konflikt auf Gewerkschaftsebene möglichst schnell gelöst werden. Bis zu einem Abschluss eines DGB-Schiedsverfahrens sei die seit längerem bei ihr aktive Gewerkschaft V. für den Abschluss von Tarifverträgen zuständig. Die Beklagte habe erst in jüngster Zeit Arbeitnehmer, einschließlich ehemaliger Mitglieder der Gewerkschaft V., mit dem Versprechen besserer Konditionen an sich gebunden.

Jedenfalls sei ein Arbeitskampf der Beklagten unverhältnismäßig. Infolge Arbeitskampfmaßnahmen werde die sie - die Klägerin - ihren vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden, wonach die Bereitstellung benötigter Materialien „just in time“ sicherzustellen sei, nicht mehr nachkommen können. Dies würde zu einem erheblichen Reputationsschaden für sie im Logistikmarkt führen und könne eine Haftung für Schäden der Kunden zur Folge haben. Sie müsse befürchten, dass ein Streik nicht zu einer Entbindung der Haftung gegenüber Kunden führen würde. Sofern sie ihren Kunden A. nicht termingerecht mit entsprechenden Materialien für die Flugzeugproduktion beliefern könne, drohe eine Verzögerung der Fertigstellung der Flugzeuge und damit die Inanspruchnahme von A. durch deren Kunden. Sie sähe sich im Falle eines Streiks erheblichen Schadensersatzforderungen ihrer Kunden sowie Umsatzeinbußen ausgesetzt. Auch ein Verlust des Kunden A., mit dem ca. ein Viertel des Gesamtumsatzes erzielt werde, sei bei signifikanten Beeinträchtigungen nicht auszuschließen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. der Beklagten zu untersagen, ihre Mitglieder oder sonstige Arbeitnehmer der Klägerin in deren Betrieb X-Weg, Hamburg (H.) in dem Zeitraum bis zum 30. Juni 2014 zu (Warn-)Streiks aufzurufen und/oder (Warn-)Streiks in dem genannten Betrieb durchzuführen;

hilfsweise

2. der Beklagten zu untersagen, ihre Mitglieder oder sonstige Arbeitnehmer der Klägerin in deren Betrieb X-Weg, Hamburg (H.) in dem Zeitraum bis zum 31. Mai 2014 zu (Warn-)Streiks aufzurufen und/oder (Warn-)Streiks in dem genannten Betrieb durchzuführen;

3. der Beklagten zu untersagen, ihre Mitglieder oder sonstige Arbeitnehmer der Klägerin in deren Betrieb X-Weg, Hamburg (H.) in dem Zeitraum bis zum 31. Mai 2014 zu (Warn-)Streiks aufzurufen und/oder (Warn-)Streiks in dem genannten Betrieb durchzuführen; sofern diese

a. an mehr als einen Tag pro Woche stattfinden;

b. hilfsweise zu a: an mehr als zwei Tagen pro Woche stattfinden;

c. hilfsweise zu b: an mehr als drei Tagen pro Woche stattfinden;

4. der Beklagten für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die vorstehenden Unterlassungspflichten ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an ihrem Bundesvorsitzenden, anzudrohen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Anträge abzuweisen;

hilfsweise der Klägerin aufzugeben, bis zum 19. Mai 2014 bei dem Arbeitsgericht Hamburg Klage zur Hauptsache zu erheben.

Die Beklagte hat vorgetragen, die von ihr beabsichtigten Warnstreiks seien weder rechtswidrig, noch offensichtlich rechtswidrig. Der Umstand, dass die Streitverkündete im Logistikbereich tätig sei, nehme ihr nicht die Befugnis, für ihre Mitglieder in ihrem Organisationsbereich Tarifforderungen aufzustellen und gegebenenfalls durch Arbeitskampf durchzusetzen. Auch könne die Klägerin nicht verlangen, dass die Tarifzuständigkeit zunächst im organisationsinternen Verfahren nach § 16 der DGB-Satzung geklärt werde. Dieses Verfahren sei intern und schließe nicht aus, dass eine Doppelzuständigkeit bestehe. Wenn eine Doppelzuständigkeit bestehe, führe dies nach den Grundsätzen der Tarifpluralität dazu, dass jede Gewerkschaft befugt sei, für die von ihr vertretenen Mitglieder eigene Forderungen aufzustellen. Ein DGB-Schiedsverfahren nehme ihr nicht ihre Betätigungsfreiheit. Auch der Grundsatz der Tarifeinheit nehme einer Gewerkschaft nicht ihr Betätigungsrecht. Im Übrigen sei auch sie schon lange im Betrieb der Klägerin aktiv und vertrete die überwiegende Zahl der Arbeitnehmer wie sich auch aus dem klaren Wahlergebnis der Betriebsratswahlen im November 2013 ergebe.

Durch das am 5. Mai 2014 verkündete Urteil, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht dem Hauptantrag der Klägerin und dem Hilfsantrag der Beklagten stattgegeben. Zwar seien beide Gewerkschaften nach ihrer Satzung für den Betrieb der Klägerin zuständig. Der beabsichtigte Arbeitskampf der Beklagten aber sei zurzeit unangemessen, denn es sei ihr ein Leichtes, durch Anrufung des Schiedsgerichtes beim DGB eine Klärung der Zuständigkeit herbeizuführen.

Hiergegen richtet sich die am 7. Mai 2014 eingelegte und sogleich begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen.

Sie beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hamburg vom 5. Mai 2014 - 9 Ga 12/14 - die Anträge zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihrer Rechtsauffassung.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien, der von ihnen überreichten Unterlagen sowie ihrer Rechtsausführungen wird ergänzend auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft und im Übrigen form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit zulässig (§§ 64 Abs. 6, 66 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.

1. Die Anträge der Klägerin sind zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSd. § 253 ZPO. Die Klägerin war auch nicht durch das Verbot der doppelten Rechtshängigkeit gehindert nach dem vor dem Arbeitsgericht Hamburg zum Aktenzeichen 3 Ga 6/14 durchgeführten einstweiligen Verfügungsverfahren erneut den Antrag auf Erlass einer Verbotsverfügung zu stellen, denn mit Urteil vom 16. April 2014 wurde die Durchführung von Warnstreiks nur bis zum 24. April 2014 untersagt, die Tarifkommission der Beklagten tagte aber bereits am 28. April 2014 erneut, es handelt sich vorliegend um einen neuen Streitgegenstand. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist auch im Übrigen im Arbeitskampf grundsätzlich zulässig (Germelmann ArbGG, 8. Aufl.2013, § 62 Rnr. 113).

2. Es fehlt für den Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung an einem Verfügungsanspruch iSd. §§ 935, 940 ZPO.

Ein Verfügungsanspruch besteht, wenn ein rechtswidriger Arbeitskampf verhindert werden soll. Anspruchsgrundlage sind die Bestimmungen der §§ 823 Abs. 1 und 1004 BGB zur Abwehr rechtswidriger Eingriffe in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, also das Recht des Unternehmers aus Art. 14 GG. Bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit einer Arbeitskampfmaßnahme ist demgegenüber Ausgangspunkt das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG.

a. Eine Streikmaßnahme kann angesichts der Bedeutung des Streikrechts (Art. 9 Abs. 3 GG) allerdings im einstweiligen Verfügungsverfahren nach ganz überwiegender Meinung der Landesarbeitsgerichte aber nur dann untersagt werden, wenn sie eindeutig rechtswidrig ist und dies glaubhaft gemacht wird (LAG Sachsen02.11.2007 - 7 SaGa 19/07 - NZA 2008, 59-70 mwN., Juris). Die beantragte Untersagungsverfügung muss daher zum Schutz des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und zur Abwendung drohender wesentlicher Nachteile geboten und erforderlich sein. Zur Prüfung, ob eine auf Unterlassung eines Arbeitskampfes gerichtete einstweilige Verfügung im Sinne des § 940 ZPO zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, hat eine Interessenabwägung stattzufinden, in die sämtliche in Betracht kommenden materiell rechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Erwägungen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen für beide Parteien einzubeziehen sind (Hess. LAG 02.05.2003 - 9 SaGa 637/03; LAG Köln 12.12.2005 - 2 Ta 457/05 - NZA 2006, 62; Hess. LAG 11.01.2007 - 9 SaGa 2098/06; Juris). Nur ein gewerkschaftlich geführter Streik kann in Deutschland bekanntlich überhaupt rechtmäßig sein, er hat dann allerdings auch die Vermutung der Rechtmäßigkeit für sich (BAG 19.06.1973 - 1 AZR 521/72 - AP Nr 47 zu Art 9 GG Arbeitskampf, Juris). Auch soweit vertreten wird, dass die Frage der Rechtmäßigkeit im herkömmlichen Umfang zu prüfen ist, auf eine Offensichtlichkeitsprüfung also nicht abgestellt werden kann (z.B. Germelmann aaO), kann es angesichts der Gefährdung des Rechts aus Art. 9 Abs. 3 GG zu Einschränkungen im Arbeitskampf durch den Erlass einstweiliger Verfügungen „nur in ganz seltenen Fällen“ (so Germelmann aaO. Nr. 114) kommen.

Es kann die Frage des Maßstabs nach Auffassung der Kammer hier dahin gestellt bleiben, denn auch bei einer herkömmlichen Prüfung erweist sich der von der Beklagten geplante Arbeitskampf, hier in Form von Warnstreiks, als rechtmäßig.

b. Warnstreiks werden wie andere Streiks durchgeführt, wenn die Versuche druckfreier Verhandlungen als gescheitert angesehen werden. Zu Verhandlungen ist die Klägerin - aus ihrer Sicht betreffend die Zuständigkeiten der verschiedenen Gewerkschaften folgerichtig - nicht bereit. Dass die Beklagte tariffähige, die Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betreffende - also rechtmäßige - Forderungen erhebt, ist nicht im Streit. Ebenso wenig besteht Streit hinsichtlich einer nicht bestehenden Friedenspflicht. Auch weitere formelle Voraussetzungen sind nicht (mehr) im Streit. Entscheidende Frage für die Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Arbeitskampfmaßnahmen ist somit, ob die Beklagte tarifzuständig ist.

c. Dass die Klägerin bereits einen Tarifvertrag für ihren Betrieb in Hamburg mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen hat, steht allerdings einer Zuständigkeit der Beklagten nicht grundsätzlich entgegen.Die Rechtsnormen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar. Diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene Geltung wird nicht dadurch verdrängt, dass für den Betrieb kraft Tarifgebundenheit des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag gilt, für die jeweiligen Arbeitsverhältnisse derselben Art im Falle der Tarifbindung eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag - sogenannte Tarifpluralität(BAG, Urteil vom 07. Juli 2010 - 4 AZR 549/08 -, BAGE 135, 80-115, Juris). Das BAG hat damit seine frühere Rechtsprechung (20.03.1991 - 4 AZR 455/90 - BAGE 67,330) ausdrücklich aufgegeben.

d. Fraglich konnte damit nur sein, ob gerade die Zugehörigkeit der beiden Gewerkschaften zum DGB an ihrer doppelten Zuständigkeit etwas ändern konnte. Für die Tarifzuständigkeit einer Gewerkschaft ist ihre Satzung entscheidend. Bei deren Auslegung ist auf den objektivierten Willen des Satzungsgebers abzustellen. Maßgeblich sind insbesondere der Wortlaut, der Sinn und Zweck, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der Satzung (BAG 27.09.2005 - 1 ABR 41/04 - AP Nr 18 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit, Juris). Wie das Arbeitsgericht zu Recht ausführt, ist bereits nach dem Wortlaut der Satzung der Beklagten grundsätzlich von ihrer Zuständigkeit für den Betrieb der Klägerin in Hamburg H. auszugehen, denn die Satzung umfasst die Zuständigkeit für Betriebe, die sich beschäftigen mit der „Erbringung von Dienstleistungen jeder Art, z.B. Transport, Logistik...“ u.a. für „Betriebe der Luft- und Raumfahrtindustrie“, also für das, was die Klägerin für die Fa. A. leistet.

Die Ausgestaltung seines Organisationsbereichs steht grundsätzlich jedem Verband frei. Eine Gewerkschaft kann daher für sich entscheiden, für welche Arbeitnehmer und in welchen Wirtschaftsbereichen sie tätig werden will. Sie kann ihren Organisationsbereich betriebsbezogen, unternehmensbezogen oder nach sonstigen Kriterien abgrenzen (BAG 27.09.2005 aaO.; 25. September 1996 - 1 ABR 4/96 - BAGE 84, 166; juris). Dem steht auch das sog. Industrieverbandsprinzip nicht entgegen. Dieser Organisationsgrundsatz der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften soll im Interesse einer effektiven Gewerkschaftsarbeit sicherstellen, dass die Arbeitnehmer eines Industriezweigs durch jeweils eine DGB-Gewerkschaft vertreten werden. Die Grenzen des jeweiligen Industriezweigs und damit die Zuständigkeit der einzelnen Gewerkschaft zu bestimmen, liegt aber allein in deren Satzungsautonomie. Die freiwillig eingegangene Bindung an die Satzung des DGB steht dem nicht entgegen.

Anders gesagt: Dass auch die Gewerkschaft V. nach ihrer Satzung zuständig ist für den Betrieb der Klägerin, steht per se nicht der Zuständigkeit der Beklagten entgegen. Einer Doppelzuständigkeit von zwei DGB-Gewerkschaften steht zwingend weder die I.-Satzung noch die inkorporierte Satzung des DGB entgegen. Die Satzung des DGB schließt Doppelzuständigkeiten der Einzelgewerkschaften nicht von vorneherein aus. Vielmehr setzt das Schiedsgerichtsverfahren nach § 16 der DGB-Satzung eine zu beseitigende Doppelzuständigkeit gerade voraus (BAG 27.09.2005 aaO.). Die in diesem Zusammenhang interessierenden Satzungsbestimmungen des DGB lauten:

 „§ 15 Abgrenzung der Organisationsbereiche

1. Für die Abgrenzung der Organisationsbereiche der Gewerkschaften werden vom Bundesausschuss auf Vorschlag des Bundesvorstandes Richtlinien für die Abgrenzung von Organisationsbereichen und eine Veränderung der Organisationsbezeichnung geschaffen, die Bestandteil dieser Satzung sind (Anlage 1). Der Bundesausschuss beschließt die Richtlinien und ihre Änderungen mit Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder.

2. Die in den Satzungen der Gewerkschaften angegebenen Organisationsbereiche und Organisationsbezeichnungen können nur mit Zustimmung des Bundesausschusses rechtswirksam geändert werden..

Solange die Zustimmung nach Satz 1 oder 2 nicht vorliegt, bleibt es bei der Alleinzuständigkeit derjenigen Gewerkschaft, die vor der beabsichtigten Satzungsänderung zuständig war...“

§ 16 Schiedsgerichtsverfahren

1. Streitigkeiten zwischen den im Bund vereinigten Gewerkschaften, die trotz Vermittlung des Bundesvorstandes nicht geschlichtet werden können, sind durch Schiedsgerichtsverfahren zu entscheiden..“.

In der hierzu ergangenen Anlage 1 heißt es u.a. :

 „1. Grundsätze...

d. Zwischen Gewerkschaften auftretende Streitigkeiten über Organisationszuständigkeiten sind im Interesse der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder... möglichst schnell im Wege von Verhandlungen...zu lösen.

e. Schiedsurteile und Einigungen im Rahmen eines Schiedsgerichtsverfahrens nach § 16 der DGB-Satzung interpretieren die Satzungen der Gewerkschaften des DGB im Innenverhältnis und mit verbindlicher Wirkung nach außen...“

In der Anlage 2, der Schiedsgerichtsordnung gemäß § 16 heißt es u.a:

 „5...

d. Das Schiedsurteil hat unter den Parteien die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils.“

aa. Hieraus folgt zunächst, dass die von den Parteien aufgeworfene Frage, welche Gewerkschaft denn zuerst im Betrieb der Klägerin aktiv war, keine für die Kammer entscheidende Rolle spielt. Ein Fall des § 15 - also eine Satzungsänderung zum Zwecke der Ausweitung des eigenen Organisationsbereichs - liegt nicht vor. Soweit das BAG hieraus einen allgemeinen Rechtsgrundsatz abgeleitet hat (12.11.1996 - 1 ABR 33/96 - AP Nr. 11 zu 3 2 TVG Tarifzuständigkeit, Juris) dürfte sich diese Rechtsprechung mittlerweile überholt haben. Nach dem Beschluss des BAG vom 12. November 1996 blieb es, solange ein Schiedsverfahren nicht durchgeführt ist, bei der “Alleinzuständigkeit derjenigen Gewerkschaft, die vor Eintreten der Konkurrenzsituation als zuständig angesehen worden war“. Die Entscheidung ist im Schrifttum vor allem deshalb auf Ablehnung gestoßen, weil die vom BAG für den Fall der Konkurrenzsituation angenommene Rechtsfolge weder in den Satzungen der Einzelgewerkschaften noch in der DGB-Satzung vorgesehen sei (Nachweise im Urteil vom 27.09.2005 aaO.). Selbst wenn an der alten Rechtsprechung festzuhalten wäre, könnte die Kammer mit dem von den Parteien unterbreiteten und glaubhaft gemachten Sachverhalt gar nicht feststellen, welche Gewerkschaft in diesem Sinne als zuständig anzusehen wäre. Sicherlich ist nicht der Beitritt der Klägerin zu einem Arbeitgeberverband ausschlaggebend. Bis zum Sommer 2013 gab es weder einen Tarifvertrag, noch eine betriebsverfassungsrechtlich erkennbare Präsenz der Gewerkschaften. Dann setzte ein gewisser Wettbewerb ein beim Abschluss von Tarifverträgen und der Wahl von Betriebsräten. Welche Gewerkschaft hier ursprünglich, in der Rückschau zunächst allein zuständig war, ließe sich vorliegend nicht entscheiden.

bb. Hat sich eine Gewerkschaft - wie vorliegend die Beklagte - verpflichtet, die Satzung des DGB zu achten, wird in Zweifelsfällen diejenige Auslegung der Gewerkschaftssatzung vorzuziehen sein, die nicht gegen die Satzung des DGB verstößt. Das bedeutet, dass die Beklagte verpflichtet ist, nach gescheiterten Verhandlungen über die Zuständigkeit, das Schiedsgericht anzurufen, seine Entscheidung zu respektieren und hinzunehmen, dass auch Dritte, etwa die Klägerin, sich auf eine solche Entscheidung berufen können. Dieses Verfahren soll eine effektive Gewerkschaftsarbeit ermöglichen, es erfolgt „im Interesse der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder“. Solange allerdings keine Entscheidung des Schiedsgerichts in diesem Verfahren vorliegt, bleiben die betroffenen Gewerkschaften nach ihrer Satzung zuständig, kann sich kein Dritter, also auch nicht die Klägerin, auf eine etwaige Unzuständigkeit berufen. Eine solche Regelung findet sich nämlich nicht in der DGB-Satzung, anders als im Falle des § 15, in dem sich eine Gewerkschaft in den Organisationsbereich einer anderen Gewerkschaft durch eine Satzungsänderung erst hinein begibt. Deshalb heißt es in der Entscheidung des BAG vom 27. September 2005 (aaO.) konsequenter Weise, dass das Schiedsgerichtsverfahren dazu dient, „nach Möglichkeit die Doppelzuständigkeit zwischen konkurrierenden Gewerkschaften zu beseitigen“. Anders gesagt: Bis zu einem Schiedsspruch bleibt es bei der Doppelzuständigkeit, beide Gewerkschaften können Tarifverträge abschließen, die auch nicht unwirksam werden, wenn die Zuständigkeit konstituierend durch den Spruch des Schiedsgerichts entfällt und deshalb können beide Gewerkschaften verhandeln und Druck durch einen im Übrigen rechtmäßigen Arbeitskampf ausüben. Kurzum: Verstoßen in einem Betrieb konkurrierende DGB-Gewerkschaften gegen die inkorporierte DGB-Satzung, rufen also bewusst das DGB-Schiedsgericht zur Klärung ihrer Zuständigkeit nicht an, führt dies nicht im Außenverhältnis zu einer rechtlichen Unfähigkeit Tarifverträge wirksam abzuschließen. Mangels Zuständigkeit ist die Beklagte jedenfalls nicht an einem Arbeitskampf zu hindern.

e. Der beabsichtigte Arbeitskampf verstößt auch im Übrigen nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Hierbei geht es darum, bezogen auf ein vorgegebenes Kampfziel zu würdigen, ob ein Kampfmittel (und die Intensität seiner Verwendung) geeignet, erforderlich und proportional eingesetzt wird. Hier ist die Klägerin - ihrer Rechtsauffassung folgend konsequent - nicht verhandlungsbereit. Dementsprechend ist es der zuständigen Gewerkschaft, der Beklagten, im Rahmen ihrer Einschätzungsprärogative überlassen, zu Warnstreiks aufzurufen. Dass dadurch beträchtliche Folgen bei einer Verpflichtung zur Lieferung „just in time“ eintreten, ist typische Streikfolge und gewollt und rechtmäßig. Ein Vernichtungsstreik liegt jedenfalls nicht vor. Wie weit diese Warnstreiks gehen, wie oft, wie intensiv usw. bleibt der Beklagten überlassen. Deshalb waren auch die nach Abweisung des Hauptantrages zweitinstanzlich angefallenen und zu entscheidenden Hilfsanträge abzuweisen, denn sie greifen in diese Einschätzungsprärogative der Beklagten ein. Die erstinstanzliche Entscheidung war deshalb abzuändern, die Anträge waren zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.



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