Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein

Urteil vom - Az: 2 Sa 203/22

Durchgehend krankgeschrieben: Keine Entgeltfortzahlung während der Kündigungsfrist

1. Meldet sich der Arbeitnehmer unmittelbar nach seiner Kündigung krank und ist bis zum Ablauf seiner Kündigungsfrist krankgeschrieben, so muss der Arbeitnehmer damit rechnen, dass er unter Umständen keine Entgeltfortzahlung beanspruchen kann.
(Redaktioneller Orientierungssatz)

2. Der Text eines Kündigungsschreibens einer Eigenkündigung in Verbindung mit einer bereits kurz vorher eingereichten Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin sowie die Würdigung der Gesamtumstände nach einer Zeugenaussage des behandelnden Arztes können den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern.
(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 23.11.2022 - 5 Ca 973/22 - abgeändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 376,80 € brutto Urlaubsabgeltung sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit 20.04.2022 zu zahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits zu 90 %, die Beklagte zu 10 % (I. und II. Instanz)

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung für die Zeiträume vom 05.05. bis 31.05.2022 in unstreitiger Höhe von 2.044,78 € brutto und vom 01.06. bis 15.06.2022 in unstreitiger Höhe von 1.232,94 € brutto und erstinstanzlich über die Abgeltung weiterer Urlaubstage.

Die Klägerin war aufgrund eines schriftlichen Arbeitsvertrages vom 28.03. 2019 seit dem 01.05.2019 bis 15.06.2022 als Pflegeassistentin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin endete durch ordentliche Eigenkündigung der Klägerin.

Der Wortlaut der Kündigung vom 04.05.2022 lautet wie folgt:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit kündige ich das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis vom 01.05.2019 unter Einhaltung der maßgeblichen gesetzlichen Kündigungsfrist von vier Wochen ordentlich und fristgerecht zum 15.06.2022.

Nach meiner Rechnung stehen mir noch 11 Tage Urlaub von diesem Jahr zu und noch 6 Tage von letzten Jahr. Hiermit beantrage ich Urlaub vom 01.06.2022-15.06.2022 (11 Tage). Die restlichen Urlaubstage verrechnen sie bitte mit meiner letzten Gehaltsabrechnung.

Bitte senden Sie mir eine Bestätigung des Erhalts dieses Briefes, meine Arbeitspapiere sowie ein qualifiziertes Arbeitszeugnis an die oben aufgeführte Adresse.

Ich bedanke mich für die bisherige Zusammenarbeit und wünsche ihren Unternehmen alles Gute.“

Die Klägerin erkrankte vom

- 05.05. bis 11.05., festgestellt am 05.05.2022

- sodann bis 15.05., festgestellt am 10.05.2022 (Folgebescheinigung)

- sodann vom 12.05.2022 bis 22.05.2022, festgestellt am 12.05.2022 (Erstbescheinigung)

- sodann bis 05.06.2022, festgestellt am 19.05.2022 (Folgebescheinigung)

- sodann bis 15.06.2022, festgestellt am 07.06.2022 (Folgebescheinigung)

arbeitsunfähig, was durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die der Beklagten vorliegen, von dem die Klägerin behandelnden Arzt Dr. S. am 05.05., 10.05., 16.05., 27.05., 05.06. und 07.06.2022 attestiert ist. Die Beklagte zahlte für den Zeitraum vom 05.05.2022 bis zum 15.06.2022 keine Entgeltfortzahlung an die Klägerin.

Die Beklagte rechnete mit der Lohnabrechnung für den Monat Mai 2022 (Anlagenkonvolut B1, Bl. 81 d. A.) gegenüber der Klägerin 11 Tage Urlaubsabgeltung i.H.v. 1.188,00 € brutto ab und leistete entsprechende Zahlung an die Klägerin.

Die Klägerin hat behauptet, dass sie die Eigenkündigung am 05.05.2022 verfasst und am 11.05.2022 persönlich der Beklagten übergeben habe. Sie sei im Zeitraum vom 05.05.2022 bis einschließlich 15.06.2022 arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Das Krankheitsbild sei eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit infolge arbeitsplatzspezifischer Belastung, welche sich in den ersten Tagen auch körperlich durch starke Magenschmerzen geäußert habe. Die Klägerin sei durch die extrem hohen Arbeitsanforderungen und den harschen Umgang der Frau H. vollkommen überlastet und psychisch beeinträchtigt, was sich auch körperlich durch starkes Unwohlsein, Unruhezustände und Magenschmerzen geäußert habe. Der sie behandelnde Arzt Dr. S. habe der Klägerin explizit aufgrund der Beschwerden dazu geraten, den Betrieb nicht mehr aufzusuchen.

Die Klägerin entbindet in dem Zusammenhang Dr. med. D. S. im Rahmen dieses Rechtsstreits gegenüber dem Arbeitsgericht sowie der beklagten Partei von seiner ärztlichen Schweigepflicht.

Die Klägerin hat vorgetragen, dass ihr über die von der Beklagten geleistete Urlaubsabgeltung Abgeltung für weitere 5 Urlaubstage i.H.v. 680,76 € brutto zustehe. Ein Verfall der Urlaubsansprüche aus dem Kalenderjahr 2021 (9 Tage) sei mangels Verwirklichung der Mitwirkungsobliegenheiten der Beklagten nicht eingetreten.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.044,78 € brutto sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 680,76 € brutto Urlaubsabgeltung sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.232,94 € brutto sowie Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat bestritten, dass die Übergabe der Kündigung durch die Klägerin persönlich am 11.05.2022 erfolgt sei. Die Klägerin habe sich gleichzeitig mit Verfassen der Eigenkündigung per 05.05.2022 arbeitsunfähig schreiben lassen und diese Arbeitsunfähigkeit habe schlussendlich passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses bestanden. Tatsächlich sei die Klägerin jedoch nicht arbeitsunfähig gewesen. Auch eine weitere Mitarbeiterin der Beklagten, Frau P., habe zeitgleich eine Eigenkündigung ausgesprochen und sei ebenfalls bis zu deren Ende des Arbeitsverhältnisses passgenau durch Herrn Dr. S. arbeitsunfähig geschrieben worden.

Die Beklagte habe sämtliche der Klägerin zustehenden Urlaubsansprüche abgegolten, Restansprüche gebe es nicht mehr. Die Beklagte verweist hierzu auf die Lohnabrechnungen gem. Anlagenkonvolut B1, Bl. 72 ff. d. A.

Die Klage vom 15.06.2022 ist der Beklagten am 20.06.2022 (Postzustellungsurkunde, B. 12-13 d. A.), die Klageerweiterung vom 29.07.2022 am 01.08.2022 (elek-tronisches Empfangsbekenntnis, B. 51 d. A.) zugestellt worden.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dass die Klägerin Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach §3 Abs. 1 Satz 1 EFZG habe, da der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Urteil vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) nicht erschüttert sei. Es liege keine zeitliche Koinzidenz zwischen den der Klägerin bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten und dem Beginn und Ende der Kündigungsfrist vor. Das Kündigungsschreiben sei am 05.05.2022 verfasst worden; das Schreiben selbst datiert vom 04.05.2022. Die 1. Arbeitsunfähigkeit der Klägerin datiere vom 05.05.2022, allerdings habe die Klägerin die Kündigung erst am 11.05.2022 an die Beklagte übergeben. Die Kündigungsfrist habe daher bis 15.06.2022 angedauert. Es liege im Unterschied zu dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall keine durchgehende Arbeitsunfähigkeit vom 05.05. bis 15.06.2022 vor. Vielmehr habe der die Klägerin behandelnde Arzt bei mehrfachen Arztbesuchen in zeitlichen Abständen jeweils die weiter andauernde Arbeitsunfähigkeit attestiert. Der weitergehende Vortrag im Hinblick auf die Eigenkündigung einer weiteren Mitarbeiterin sei zu pauschal, dass er einem weiteren Beweis durch das Gericht nicht zugänglich sei.

Die Klägerin habe einen weiteren Urlaubsabgeltungsanspruch von 3 Tagen in Höhe von 376,80 Euro brutto. Im Übrigen sei die Klage als unbegründet abzuweisen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 30.11.2022 zugestellte Urteil am 19.12.2022 Berufung eingelegt und diese am 05.01.2023 begründet.

Die Beklagte trägt vor, dass das Arbeitsgericht der Klägerin die Entgeltfortzahlungen zu Unrecht zugesprochen habe. Die ausgeurteilte Urlaubsabgeltung werde nicht angegriffen. Sie, die Beklagte sehe weiterhin den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als erschüttert an. Unstreitig habe sich die Klägerin ab Eigenkündigung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses krankschreiben lassen. Hinzu komme, dass die Klägerin zeitgleich mit der Kollegin P. denselben Arzt aufgesucht habe, welcher auch diese passgenau arbeitsunfähig krankgeschrieben habe. Die Klägerin habe zunächst behauptet, sie sei aufgrund des harschen Umgangs mit Herrn H. arbeitsunfähig erkrankt, später habe sich jedoch herausgestellt, dass ein direkter Kontakt mit dem Gesellschafter überhaupt nicht bestanden habe. Außerdem habe sich die Klägerin nicht fortlaufend krankschreiben lassen, sondern habe sich während der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit eine neue Erstbescheinigung ausstellen lassen (12. Mai bis 22. Mai 2022).

Im Hinblick auf den Zugang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hätte die Klägerin vortragen müssen, wann und bei welcher Gelegenheit sie vorstellig gewesen sei. Sie, die Beklagte, habe die AU-Bescheinigung am 05.05.2022 vorgefunden.

Es mache auch keinen Unterschied, ob es sich um eine durchgehende Arbeitsunfähigkeit handele oder ob mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt worden seien. Ausschlaggebend sei allein die Tatsache, dass die Klägerin am 04.05.2022 einen Kündigungsentschluss gefasst habe und sich am Folgetag habe krankschreiben lassen. Einen schlüssigen Vortrag auf das Vorliegen einer Erkrankung im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes habe die Klägerin nicht erbracht. Die Klägerin habe nicht im Einzelnen vorgetragen, welche Beschwerden sie gehabt habe, welche Verhaltensregeln der Arzt ihr auferlegt habe und welche Medikamente sie erhalten habe. Sie, die Beklagte, bestreite ausdrücklich mit Nichtwissen, dass die Klägerin keine Leistungen von der gesetzlichen Krankenkasse erhalten habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck zum Aktenzeichen 5 Ca 973/22 vom 23. November 2022 wird in Bezug auf die Ziffer 1. und 3. des Urteilstenors abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und trägt ergänzend vor, dass es hinsichtlich der Umstände, die zu der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin geführt hätten, nicht auf den Umgang mit Herrn H., sondern der Pflegeleitung Frau H. abzustellen sei. Es habe sich bei der fälschlichen Angabe um ein Kommunikationsversehen zwischen ihr und ihrem Anwalt gehandelt. Sie, die Klägerin, habe die Kündigung am 11.05.2022 persönlich übergeben und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum vom 05.05.2022 bis 15.06.2022 der Beklagten übersandt. Sie sei wegen Gastroenteritis und Reaktion auf schwere Belastung arbeitsunfähig krankgeschrieben worden. Angaben zur Krankheitsursache und auch zu einem vom Arzt angeratenen Verhalten seien erfolgt. Leistungen der Krankenkasse habe die Klägerin nicht bezogen. Die Krankenkasse habe die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht in Zweifel gezogen.

Das Berufungsgericht hat den Zeugen Dr. S. in der mündlichen Verhandlung vom 02.05.2023 vernommen. Auf das Ergebnis der Beweisaufnahme im Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vorbringens wird auf den Inhalt der von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 02.05.2023 verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung der Beklagten ist nach §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, Abs. 2 ArbGG statthaft und zulässig. Die Berufung ist form- und fristgerecht entsprechend den Anforderungen der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt und begründet worden.

B.

Die Berufung hat auch in der Sache selbst Erfolg, da sie begründet ist.

I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung der Entgeltfortzahlung für die Zeiträume vom 05.05.2023 bis 31.05.2022 in Höhe von 2.044,78 Euro und vom 01.06.2023 bis 15.06.2022 in Höhe von 1.232,94 Euro.

1. a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Für diese Anspruchsvoraussetzungen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast (BAG, Urt. v. 11.12.2019 - 5 AZR 505/18 -, Rn.16, BAGE 169,117; BAG, Urt. v. 08.09.2021 - 5 AZR 149/21 -, Rn. 11, juris).

aa) Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG reicht die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung strahlt auch auf die beweisrechtliche Würdigung aus (Staudinger/Oetker [2019] § 616 Rn. 540). Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (so die st. Rspr. vgl. BAG 26. Oktober 2016 - 5 AZR 167/16 - Rn. 17, BAGE 157, 102; 15. Juli 1992 - 5 AZR 312/91 - zu II 1 der Gründe, BAGE 71, 9; ebenso MHdB ArbR/Greiner 5. Aufl. Bd. 1 § 82 Rn. 28; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. EFZG § 3 Rn. 79; Reinecke DB 1989, 2069 (unter 5.1.2); ErfK/Reinhard 21. Aufl. EFZG § 5 Rn. 14; Schmitt/Küfner-Schmitt in Schmitt EFZG 8. Aufl. § 5 EFZG Rn. 111; NK-GA/Sievers EFZG § 5 Rn. 66 f., jeweils mwN).

bb) Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSd. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre (st. Rspr. BAG 11. August 1976 - 5 AZR 422/75 - zu 2 c der Gründe, BAGE 28, 144; 11. Oktober 2006 - 5 AZR 755/05 - Rn. 35; BGH 16. Oktober 2001 - VI ZR 408/00 - zu II der Gründe, BGHZ 149, 63; zust. MHdB ArbR/Greiner 5. Aufl. Bd. 1 § 82 Rn. 28; MüKoBGB/Müller-Glöge 8. Aufl. EFZG § 3 Rn. 79; ErfK/Reinhard 21. Aufl. EFZG § 5 Rn. 14; Schmitt/Küfner-Schmitt in Schmitt EFZG 8. Aufl. § 5 EFZG Rn. 111). Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt jedoch ein „bloßes Bestreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Die den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers (dazu bspw. BAG 26. Oktober 2016 - 5 AZR 167/16 - Rn. 18, BAGE 157, 102) oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.

cc) Bei der näheren Bestimmung der Anforderungen an die wechselseitige Darlegungslast der Parteien ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber in aller Regel keine Kenntnis von den Krankheitsursachen hat und nur in eingeschränktem Maß in der Lage ist, Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzutragen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hat das Bundesarbeitsgericht bereits erkannt, dass dem Arbeitgeber, der sich auf eine Fortsetzungserkrankung iSd. § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG beruft, hinsichtlich der ihn insoweit treffenden Darlegungs- und Beweislast Erleichterungen zuzubilligen sind (vgl. BAG 13. Juli 2005 - 5 AZR 389/04 - zu I 6 der Gründe, BAGE 115, 206; im Anschluss hieran BAG 10. September 2014 - 10 AZR 651/12 - Rn. 27, BAGE 149, 101). Da die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung oder eine Beweislastumkehr auslöst, dürfen an den Vortrag des Arbeitsgebers, der ihren Beweiswert erschüttern will, keine - unter Berücksichtigung seiner eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten - überhöhten Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitgeber muss gerade nicht, wie bei einer gesetzlichen Vermutung, Tatsachen darlegen, die dem Beweis des Gegenteils zugänglich sind.

b) Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag z.B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden (vgl. BAG 17. Juni 2003 - 2 AZR 123/02 - Rn. 30; 26. August 1993 - 2 AZR 154/93 - BAGE 74, 127). Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Soweit er sich für die Behauptung, aufgrund dieser Einschränkungen arbeitsunfähig gewesen zu sein, auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte beruft, ist dieser Beweisantritt nur ausreichend, wenn er die Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbindet (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 -, BAGE 175, 358-366, Rn. 12 - 16)

2. Ausgehend hiervon hat die Klägerin die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung für die streitgegenständliche Zeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG nicht dargetan.

a) Der Beweiswert der vorgelegten fünf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Klägerin ist erschüttert.

Entgegen der Annahme des Arbeitsgerichts ist die Rechtsprechung des BAGs im Urteil vom 08.09.2021 - 5 AZR 149/21 - auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Die Begründung im vom BAG entschiedenen Fall habe es sich um eine durchgehende Krankschreibung des Arbeitnehmers zeitlich passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist gehandelt, vorliegend handele es aber um keine durchgehende Arbeitsunfähigkeit der Klägerin, die sich bei mehrfachen Arztbesuchen in zeitlichen Abständen jeweils weiter andauernde Arbeitsunfähigkeit habe attestieren lassen, ist zu kurz gegriffen.

Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin mit 5 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 15.06.2022 krankgeschrieben worden ist sowie der Inhalt des Kündigungsschreibens führen dazu, dass Zweifel an der Erkrankung der Klägerin entstanden sind, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Die Klägerin hat sich erstmalig am 05.05.2022 krankgemeldet. Die letztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeiten umfassen genau vom 05.05.2022 bis zum 15.06.2022 einen Zeitraum von sechs Wochen, der dem im § 3 EGFZ geregelten maximalen Entgeltfortzahlungszeitraum von 6 Wochen entspricht. Das von der Klägerin am 05.05.2023 mit dem Datum 04.05.2022 verfasste Kündigungsschreiben (beim Arbeitgeber abgegeben am 11.05.20229) enthält eine Kündigungsfrist bis zum 15.06.2022. Die Klägerin beantragt im Kündigungsschreiben 11 Tage Urlaub ab 01.06.2022 bis 15.06.2022 und bittet um Verrechnung der verbleibenden 6 Tage mit der Gehaltsabrechnung. Obwohl es sich lediglich um einen Urlaubsantrag handelt, der noch nicht bewilligt war und der Zeitraum vom 05.05.2022 bis 01.06.2022 vier Wochen ausmachen, erbittet die Klägerin die Zusendung der Kündigungsbestätigung, der Arbeitspapiere sowie eines qualifizierten Arbeitszeugnisses an ihre Privatadresse. Sie bedankt sich des Weiteren für die bisherige Zusammenarbeit und wünscht dem Unternehmen alles Gute. Aus der Formulierung des Kündigungsschreibens ergibt sich, dass die Klägerin bereits am 05.05.2022 nicht die Absicht hatte, nochmals in den Betrieb zurückzukehren. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen kann es nicht darauf ankommen, dass die Klägerin die Kündigung erst am 11.05.2022 im Betrieb abgegeben hat. Hierzu bestand zunächst auch kein Anlass, da die Klägerin mit der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis 11.05.2022 arbeitsunfähig krankgeschrieben war.

b) Da es der Beklagten gelungen ist, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern, oblag es der Klägerin konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf die bestehenden Erkrankungen zulassen. Die Klägerin hat sich mit ihrem erst- und zweitinstanzlichen Vortrag darauf berufen, dass sie eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit erlitten habe, die sich in den ersten Tagen durch starke Magenschmerzen geäußert hätten. Dies habe sich auch durch starkes Unwohlsein, und Unruhezustände geäußert. Aus der Bescheinigung der T. Krankenkasse vom 14. Juli 2022 ergaben sich dann die attestierten Diagnosen A… sonstige nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis nicht näher bezeichneten Ursprungs und F… Reaktion auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet. Entgegen des Vortrags der Beklagten in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin damit vorgetragen, welche Krankheiten sie gehabt habe und behauptet, dass ihr der Arzt geraten habe, den Betrieb nicht mehr aufzusuchen. Da die Beklagte den beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und das Bestehen entsprechender Erkrankungen bezweifelt hat, traf die Klägerin die Beweislast für das Bestehen der vorgetragenen Erkrankungen nach erfolgter Schweigepflichtsentbindung des sie behandelnden Arztes Dr. S.. Hierbei geht die Kammer davon aus, dass der Zeuge S. glaubwürdig war und seine Aussagen insgesamt glaubhaft waren. Der Zeuge hat umfassend geäußert, sich nicht widersprochen und war bemüht die Beweisfrage zu beantworten.

Die Klägerin hat bei ihrem ersten Besuch über Magenschmerzen geklagt. Der Zeuge S. ist sodann von einem gastrointestinalen Infekt ausgegangen. Eine Untersuchung der Klägerin hat nicht stattgefunden. Vielmehr hat der Zeuge darauf hingewiesen, dass er eine in der Pflege tätige Person mit einem vermuteten Infekt wegen der Ansteckungsgefahr nicht zur Arbeit gehen lassen könne. Ein Abstrich oder eine Stuhluntersuchung habe nicht stattgefunden und sei in derartigen Fällen auch nicht indiziert. Ob die Klägerin vom 05.05.2022 bis 11.05.2023 nachweislich erkrankt war, ist nicht bewiesen. Der Zeuge hat weiter bekundet, dass die Klägerin bei ihrem nächsten Besuch am 12.05.2022 über weiter bestehende Beschwerden geklagt und nach wie vor auch Durchfall habe. Im Gespräch habe man dann über das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung gesprochen. Die Klägerin habe berichtet, dass sie per WhatsApp unter Druck gesetzt worden sei und unter Schlafstörungen und einer permanenten Angststörung leiden würde. Der Zeuge hat der Klägerin geraten, das Gespräch mit der Arbeitgeberseite zu suchen. Es sei sodann eine neue Diagnose im Rahmen einer Erstbescheinigung gestellt worden. Den Text der WhatsApp-Nachricht habe er nicht gelesen. Die Klägerin habe ihm aber am 10.05.2022 gesagt, dass sie kündigen wolle.

Die Klägerin hat sodann im Laufe der weiteren Verhandlung die WhatsApp-Nachricht vom 05.05.2022 vorgelegt.

Unter Würdigung der Gesamtumstände und der vorzunehmenden Beweiswürdigung ist die Kammer davon überzeugt, dass die Klägerin nicht erkrankt war. Bei der Bildung seiner Überzeugung urteilt das Gericht frei und unterliegt, außer im Falle gesetzlicher Vermutungen (§ 292 ZPO) und Beweisregeln, keinerlei Bindung. Die Richter haben die Pflicht zur gewissenhaften Prüfung und Abwägung des gesamten Streitstoffs, insbesondere des Wertes der einzelnen Beweismittel, der Indizien, der Beweisanzeichen und der Parteibehauptungen, insbesondere unter Bewertung von gewissen Widersprüchen im Sachvortrag einer Partei oder von Zeugen (Schwab in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Aufl. 2022, § 58 ArbGG, Rn. 81). Nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO haben die Tatsacheninstanzen unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer ggf. durchgeführten Beweisaufnahme nach ihrer freien Überzeugung darüber zu befinden, ob sie eine tatsächliche Behauptung für wahr erachten oder nicht. Die Beweiswürdigung muss vollständig, widerspruchsfrei und umfassend sein. Mögliche Zweifel müssen überwunden, aber nicht völlig ausgeschlossen sein. Für die volle richterliche Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 ZPO ist ausreichend, dass ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit erreicht ist, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen (st. Rspr., vgl. BAG 16. Juli 2015 - 2 AZR 85/15 - Rn. 73; BGH 18. Oktober 2017 - VIII ZR 32/16 - Rn. 14; BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 2 AZR 611/17 –, Rn. 24, juris). Bereits die Formulierung der Kündigung spricht gegen eine Erkrankung der Klägerin. Der Text des Kündigungsschreibens macht deutlich, dass die Klägerin nicht mehr im Betrieb der Beklagten erscheinen wollte und ihre Arbeitsleistung nicht erbringen wollte. Es ist bei den von der Klägerin geschilderten Magenschmerzen naturgemäß unmöglich bereits am 04.05.2022 zu wissen, dass man selbst bis zum 31.05.2022 erkrankt sein wird. Bei den im Rahmen des Verfahrens vorgetragenen Krankheitsursachen war nur von Magenschmerzen die Rede, nicht jedoch von Durchfall. Es ist bei Pflegepersonal allgemein bekannt, dass bei ansteckenden Erkrankungen eine Tätigkeit als Pflegepersonal unterbleiben muss. Soweit die Klägerin von einer psychischen Belastungssituation durch WhatsApp-Nachrichten der Pflegedienstleitung gesprochen hat, hat sie diese nicht belegen können. Bei der WhatsApp-Nachricht der Pflegedienstleitung vom 05.05.2022 handelt es sich um eine freundliche Nachfrage, wann die Klägerin wieder arbeitsfähig sei, da offensichtlich hoher Personalmangel bei der Beklagten herrschte. Eine irgendwie geartete Drucksituation ist nicht ersichtlich. Woraus eine permanente Angstsituation resultieren sollte, die es der Klägerin unmöglich mache vor die Tür zu gehen, erschließt sich der Kammer nicht. Die Klägerin hat auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, weitere WhatsApp-Nachrichten gebe es nicht. Die Klägerin hat dem Anraten ihres Arztes das Gespräch mit der Beklagten zu suchen, nicht befolgt. Sie hat sich dort nicht gemeldet, weil für sie bereits feststand, dass sie ihre Arbeit nicht wiederaufnehmen wird. Die Klägerin hat dem Zeugen S. im Gespräch vom 12.05.2022 berichtet, dass sie kündigen werde, obwohl sie die Kündigung bereits am 05.05.2022 geschrieben und am 11.05.2022 bei der Beklagten abgegeben hatte. Für die Kammer steht fest, dass die Klägerin ihrem Arzt Beschwerden vorgetragen hat, die tatsächlich nicht bestanden haben. Sie war nicht durch Krankheit an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung verhindert. Ein Anspruch auf die Zahlung von Entgeltfortzahlung für die geltend gemachten Zeiträume besteht demgemäß nicht.

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts war daher in diesen Punkten abzuändern.

II. Der Anspruch auf Zahlung der Urlaubsabgeltung war im Rahmen der Berufung nicht angegriffen worden. Er war daher nicht abzuändern.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, § 92 ZPO. Die Revision war aufgrund des vorliegenden Einzelfalls nicht zuzulassen. Sie orientiert sich im Wesentlichen an dem Urteil des BAG vom 08.09.2023 - 5 AZR 149/21 -, juris.



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