Arbeitsgericht Siegen
Urteil vom - Az: 2 Ca 494/21
Ist eine Gehaltskürzung wegen Minusstunden wirksam?
(2.) Die Belastung eines Arbeitszeitkontos mit Minusstunden setzt voraus, dass der Arbeitgeber diese Stunden im Rahmen einer verstetigten Vergütung entlohnt hat und der Arbeitnehmer zur Nachleistung verpflichtet ist, weil er die in Minusstunden ausgedrückte Arbeitszeit vorschussweise vergütet erhalten hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer allein darüber entscheiden kann, ob eine Zeitschuld entsteht und er damit einen Vorschuss erhält.
(3.) Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer - aus welchen Gründen auch immer - im Verlauf des Arbeitsverhältnisses eine gewissen Anzahl von Arbeitsstunden zu wenig geleistet hat, lässt nicht den Schluss zu, dass er auch mit einem negativen Kontostand einverstanden war, der mit späteren Vergütungsforderungen - ggf. sogar bis auf "Null" - verrechnet werden kann.
(4.) Enthält ein Arbeitsvertrag Regelungen, dass Minusstunden durch vorher gutgeschriebene Plusstunden abgebaut werden dürfen, ist dies keine Rechtsgrundlage dafür, einen Abzug von der normalen Vergütung vorzunehmen. Das normale Gehalt kann insofern nicht als Vorschuss gewertet werden.
(Redaktionelle Orientierungssätze)
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 270,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.03.2021 zu zahlen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf 270,00 Euro festgesetzt.
4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
Von der Darstellung des Tatbestandes wird aufgrund § 46 Abs. 2 ArbGG, § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen.
Gründe
A.
Die zulässige Klage hat - soweit über sie noch nach Abschluss des Teilvergleichs vom 16.11.2021 (Blatt 66 bis 67 der Akte) zu entscheiden gewesen ist - in der Sache insgesamt Erfolg, da sie begründet ist.
I.
Der zuletzt noch zur Entscheidung gestellte Zahlungsantrag ist zulässig und insbesondere im Rahmen der Leistungsklage durch die Angabe eines genauen Zahlbetrages hinreichend bestimmt (Germelmann i. Germelmann/Matthes/Prütting, Arbeitsgerichtsgesetz, 9. Auflage 2017, § 46, Rn. 55).
II.
Die Klage ist begründet. Die Klägerin, die in der Zeit vom 14.04.2020 bis 31.03.2021 bei dem Beklagten als Kauffrau im Einzelhandel beschäftigt war, kann von diesem die Zahlung von Vergütung in Höhe von noch 270,00 Euro brutto verlangen, da der Beklagte nicht dazu berechtigt gewesen ist, das Arbeitsentgelt der Klägerin des Monats Februar 2021 entsprechend zu kürzen. Im Einzelnen:
1. Die Klägerin hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Zahlung der vollständigen Vergütung für den Monat Februar 2021 und damit noch in Höhe von restlichen 270,00 Euro brutto gemäß § 611 a BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag der Parteien vom 14.04.2020 (Blatt 4 bis 7 der Akte).
a. Gemäß § 4.1 des Arbeitsvertrags erhält die Klägerin monatlich eine Bruttovergütung in Höhe von 1.458,00 Euro, die einer durchschnittlichen monatlichen Arbeitszeit von 108 Stunden bei einem Stundenlohn von 13,50 Euro brutto entspricht. Diese Vergütung wird damit grundsätzlich von dem Beklagten auch geschuldet.
b. Der Beklagte rechnete für den Monat Februar 2021 mit Entgeltabrechnung vom 01.03.2021 (Blatt 8 der Akte) für die Klägerin eine Vergütung von 1.188,00 Euro brutto für insgesamt 88 Stunden ab und zahlte die sich daraus ergebende Nettovergütung an die Klägerin aus. Er war jedoch nicht dazu berechtigt, 20 Minusstunden, die nach seinem Vortrag in dem Zeitraum von November 2020 bis Februar 2021 entstanden waren, abzuziehen. Die Parteien haben weder eine arbeitsvertragliche Regelung zur Einrichtung eines Arbeitszeitkontos und der Berechtigung des Abzugs von Minusstunden getroffen, noch konnte der Beklagte substantiiert eine Individualabrede zwischen sich und der Klägerin darlegen.
aa.
Die Einrichtung eines Arbeitszeitkontos, insbesondere die Möglichkeit eines negativen Kontostandes, bedarf einer entsprechenden Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien. Ein Arbeitszeitkonto gibt den Umfang der vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeit wieder und kann abhängig von der näheren Ausgestaltung in anderer Form den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers ausdrücken. Die Belastung eines Arbeitszeitkontos mit Minusstunden setzt folglich voraus, dass der Arbeitgeber diese Stunden im Rahmen einer verstetigten Vergütung entlohnt hat und der Arbeitnehmer zur Nachleistung verpflichtet ist, weil er die in Minusstunden ausgedrückte Arbeitszeit vorschussweise vergütet erhalten hat (BAG, Urteil vom 26.01.2011, 5 AZR 819/09, DB 2011, 1227; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.05.2018, 2 Sa 434/17, zitiert nach juris). Eine Zahlung durch den Arbeitgeber ist dann ein Vorschuss, wenn sich beide Seiten bei der Auszahlung darüber einig waren, dass es sich um eine Vorwegleistung handelt, die bei Fälligkeit der Forderung verrechnet wird. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer allein darüber entscheiden kann, ob eine Zeitschuld entsteht und er damit einen Vorschuss erhält. Hingegen kommt es zu keinem Vergütungsvorschuss, wenn sich der das Risiko der Einsatzmöglichkeit bzw. des Arbeitsausfalls tragende Arbeitgeber im Annahmeverzug befunden hat. Allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer - aus welchen Gründen auch immer - im Verlauf des Arbeitsverhältnisses eine gewissen Anzahl von Arbeitsstunden zu wenig geleistet hat, lässt nicht den Schluss zu, dass er auch mit einem negativen Kontostand einverstanden war, der mit späteren Vergütungsforderungen - ggf. sogar bis auf "Null" - verrechnet werden kann (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.04.2014, 5 Sa 579/13, zitiert nach juris; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.11.2011, 3 Sa 493/11, zitiert nach juris).
bb.
Zwar findet sich in § 4.1. des Arbeitsvertrags die Einrichtung eines Arbeitszeitkontos angesprochen. Der Passus lautet:
"Plusstunden werden einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben und im Zeitraum vom ca. 01.10. eines Jahres bis 28.02. des Folgejahres durch Minusstunden abgebaut."
Weitere Regelungen zur Einrichtung und Führung eines Arbeitszeitkontos finden sich im Arbeitsvertrag der Parteien nicht, auch hat der Beklagte keine anderweitige (schriftliche) Vereinbarung zur näheren Ausgestaltung eines Arbeitszeitkontos vorlegen bzw. darlegen können. Bereits die vorhandene Regelung des Arbeitsvertrags lässt - einmal ungeachtet der weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen für einen berechtigten Abzug von Minusstunden - keinen Abzug von Minusstunden der Klägerin per se zu, sondern zum einen nur in § 4.1 festgelegten Zeitraum, zum anderen aber insbesondere auch nur dann, wenn durch den Abzug von Minusstunden vorher gutgeschriebene Plusstunden abgebaut werden sollen. Vorliegend wurde aber ein Abzug von den monatlich geschuldeten Arbeitsstunden vorgenommen, so dass die Klägerin weniger Vergütung erhielt, als arbeitsvertraglich durch den Beklagten geschuldet, nämlich nur 1.188,00 Euro brutto anstatt 1.458,00 Euro brutto. Darüber hinaus wäre Vortrag seitens des Beklagten erforderlich gewesen, dass - das Bestehen der 20 Minusstunden als unstreitig unterstellt - die Nichterfüllung der monatlich geschuldeten Arbeitszeit allein in die Risikosphäre der Klägerin gefallen ist. Insoweit hatte die Klägerin vorgetragen, im Monat Januar 2021 ordnungsgemäß ihre Arbeitsleistung angeboten zu haben, sie gleichwohl von dem Beklagten aber nicht beschäftigt worden sei. Dementsprechend hätte es substantiierten Vortrags bedurft, ob und inwieweit die Klägerin Einfluss auf den monatlich zu erbringenden Arbeitsumfang gehabt haben soll.
cc.
Auch fehlt es an einer substantiierten Darlegung einer von dem Beklagten mit der Klägerin - abweichend von der Regelung unter § 14 des Arbeitsvertrags, nach welcher keine weiteren Vereinbarungen zwischen den Parteien existieren sollen - behaupteten Abrede über die Berechtigung zur Verrechnung von 20 Minusstunden mit dem Arbeitsentgelt für den Monat Februar 2021. In diesem Zusammenhang hatte der Beklagte behauptet, es sei ausdrücklicher Wunsch der Klägerin gewesen, dass im Monat Februar 2021 lediglich 88 anstatt 108 Stunden zur Auszahlung gebracht werden, um das Arbeitszeitkonto auszugleichen. Es bleibt jedoch unklar, wann, mit wem und mit welchem konkreten Inhalt eine solche Abrede zustande gekommen sein soll. Der Vortrag des Beklagten in diesem Zusammenhang war zu allgemein gehalten, um einen entsprechenden Beweis zu erheben. Ein sog. unzulässiger Ausforschungsbeweis liegt vor, wenn es sich um einen Beweisantritt handelt, der nicht dem Beweis konkret behaupteter Tatsachen dient, sondern es erst ermöglichen soll, solche bestimmten Tatsachen überhaupt erst in das Verfahren einzuführen (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.08.2007, 9 Sa 18/07, zitiert nach juris; Greger i. Zöller, 34. Auflage 2022, Vorbemerkungen zu § 284, Rn. 8c). Dies wäre hier der Fall gewesen, da erst durch die Beweisaufnahme sowohl der Zeitpunkt, die Umstände und vor allem der konkrete Inhalt der behaupteten Abrede geklärt worden wären. Dementsprechend konnte dem Beweisangebot mit Schriftsatz des Beklagten 28.09.2021, Seit 3 (Blatt 45 der Akte) - der Vernehmung der Zeugin Grisse - nicht nachgegangen werden.
2. Vor diesem Hintergrund war der Klage - soweit noch über sie zu entscheiden war - stattzugeben.
B.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG, § 91 ZPO. Als unterliegende Partei trägt der Beklagte die Kosten des Rechtsstreits.
C.
Der Streitwertfestsetzung im Urteil hat ihre gesetzliche Grundlage in den §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO. Der Wert des Streitgegenstands entspricht dem Nominalwert der zuletzt zur Entscheidung gestellten Klageforderung.
D.
Die Entscheidung darüber, die Berufung gegen das Urteil für die beklagte Partei nicht zuzulassen, beruht auf § 64 Abs. 3 ArbGG, da keine der dort genannten Fallgruppen einschlägig ist. Die diesbezügliche Entscheidung war in den Tenor des Urteils aufzunehmen, § 64 Abs. 3a Satz 1 ArbGG.
RECHTSMITTELBELEHRUNG
Gegen dieses Urteil ist kein Rechtsmittel gegeben.