Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Urteil vom - Az: L 11 AL 15/19

Arbeitslosengeld: Auch bei einem Online-Antrag ist das Merkblatt vollständig zu lesen

Ein Leistungsempfänger kann sich nicht auf die Unkenntnis seiner Mitteilungspflicht berufen, wenn er den Empfang des Merkblatts "Rechte und Pflichten" im Online-Antrag auf Arbeitslosengeld (ALG) bestätigt hat.
(Redaktioneller Orientierungssatz)

Im vorliegenden Fall hatte ein Berufskraftfahrer geklagt, der zu Weihnachten 2016 arbeitslos wurde. Nachdem der Kläger sich arbeitslos gemeldet hatte, stellte er im Internet einen Antrag auf Arbeitslosengeld (ALG). Dabei bestätigte er, das Merkblatt über seine Rechte und Pflichten als Arbeitsloser zur Kenntnis genommen zu haben. Im Februar 2017 nahm der Kläger eine einwöchige, unbezahlte Probearbeit in Vollzeit bei einem Logistikunternehmen an. Dies teilte er allerdings nicht der beklagten Agentur für Arbeit mit. Zu einer Anstellung kam es jedoch nicht, da sich die Arbeitszeiten für den Kläger als unvorteilhaft erwiesen. Nachdem die Beklagte von der Probearbeit erfahren hatte, forderte sie vom Kläger das gezahlte ALG ab dem Tag zurück, an welchem er mit der Probearbeit begonnen hatte. Die Arbeitslosigkeit sei mit der Probearbeit weggefallen, sodass die Arbeitslosmeldung unwirksam sei - so die Beklagte. Da die Rückforderung auch die Folgezeit nach Beendigung der Probearbeit betraf, wurden insgesamt 5.000 Euro zurückgefordert. Der Kläger hielt dem entgegen, dass eine unbezahlte Probearbeit nicht mit einer regulären Beschäftigung gleichgesetzt werden könne. Er habe keinen Lohn erhalten. Angesichts dieser unbezahlten Probearbeit habe er auch weder vorsätzlich noch grob fahrlässig seine Mitteilungspflichten verletzt. Weiterhin wies der Kläger darauf hin, dass er kein entsprechendes Merkblatt erhalten habe, in dem er darauf hingewiesen wurde, dass er hinsichtlich des Probearbeitens meldepflichtig sei.
Das LSG bestätigte die Rechtsauffassung der Beklagten. Ein Anspruch auf ALG entfalle bei einer – wenn auch unbezahlten – Probearbeit von mindestens 15 Wochenstunden, da der Betroffene dadurch nicht mehr beschäftigungslos sei. Gegen die Rückforderung vom ALG könne auch nicht die Unkenntnis der Meldepflicht entgegengehalten werden. Diese Pflicht ergebe sich nämlich aus dem Merkblatt, dessen Erhalt jeder Arbeitslose bei der Antragstellung erhalte und durch Unterschrift bestätige. Gleiches gelte auch bei einem Online-Antrag, denn ohne eine entsprechende Bestätigung sei es technisch nicht möglich, den Antrag elektronisch an die Beklagte zu übermitteln. Soweit keine Mitteilung der Probearbeit erfolge, handele der Betroffene grob fahrlässig.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor

Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 22. Januar 2019 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Aufhebung der Gewährung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 sowie um eine diesbezüglich von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsforderung iHv insgesamt 5.004,15 Euro.

Der 1976 geborene Kläger bezog nach einer abhängigen Beschäftigung als Berufskraftfahrer von der Beklagten seit dem 29. Dezember 2016 Arbeitslosengeld (Alg) nach Maßgabe des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) in Höhe eines täglichen Leistungsbetrags von 42,51 Euro (Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 10. und 24. Januar 2017). Die für diesen Alg-Bezug erforderliche persönliche Arbeitslosmeldung erfolgte am 19. Dezember 2016. Ausweislich des Verbis-Vermerks der Beklagten meldete sich der Kläger an diesem Tag bei der Agentur für Arbeit mit Wirkung ab 24. Dezember 2016 arbeitslos. Weiterhin wurde vermerkt, dass er den Antrag auf Alg online ausfüllen werde (sog „eService“). Ihm seien neben anderen Unterlagen auch das Merkblatt 1 ausgehändigt worden (vgl Verbis-Vermerk vom 19. Dezember 2016, Bl 88f der Gerichtsakte - GA -).

Zum weiteren Verfahrensablauf hat die Beklagte vorgetragen, dass dem Kläger Benutzername und Kennwort für den eService am 27. Dezember 2016 übersandt und am 29. Dezember 2016 im Rahmen eines Beratungsgespräches persönlich ausgehändigt worden seien. Der Kläger habe dann noch am 29. Dezember 2016 den Alg-Antrag elektronisch gestellt (vgl Alg-Antrag vom 29. Dezember 2016 mit dem Aufdruck „… übermittelt am 29.12.2016“, Bl 376ff der Verwaltungsakte - VA -). In diesem Online-Antrag habe der Kläger die Kenntnisnahme des Merkblattes für Arbeitslose bestätigt (Bl 381 VA). Ohne diese Bestätigung wäre es technisch auch nicht möglich gewesen, den Antrag elektronisch zu übermitteln (Bl 81 GA).

Dagegen hat der Kläger im Berufungsverfahren zunächst vorgetragen, sich nicht daran erinnern zu können, das Merkblatt 1 erhalten zu haben. Später hat er vorgetragen, das Merkblatt 1 nicht erhalten zu haben. Er habe den Alg-Antrag nicht online gestellt, sondern sich telefonisch arbeitslos gemeldet und dann einen persönlichen Termin erhalten. Die Antragsunterlagen habe er ausgefüllt und anschließend eingereicht. An das Datum der Einreichung der Antragsunterlagen könne er sich nicht mehr erinnern, da dies bereits zu lange her sei.

Am 20. April 2017 erfuhr die Beklagte im Rahmen eines Datenabgleichs, dass der Kläger von der H. I. GmbH (im Folgenden: B-GmbH) bei der zuständigen Einzugsstelle für die Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 als versicherungspflichtiger Arbeitnehmer angemeldet worden war. Auf Nachfrage der Beklagten gab die B-GmbH zunächst an, den Kläger in der Zeit vom 1. Februar 2017 (Mittwoch) bis 7. Februar 2017 (Dienstag) bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche gegen Arbeitsentgelt als Berufskraftfahrer beschäftigt zu haben. Das Beschäftigungsverhältnis sei aufgrund eines am 7. Februar mit sofortiger Wirkung geschlossenen Aufhebungsvertrags beendet worden (Arbeitsbescheinigung vom 4. Mai 2017). Später korrigierte die B-GmbH diese Angaben dahingehend, dass es sich bei der Meldung von sozialversicherungspflichtigem Arbeitsentgelt um einen Fehler der Buchhaltung gehandelt habe. Es habe sich um ein Probearbeitsverhältnis gehandelt, für das keine Vergütung gezahlt worden sei. Der Aufforderung der Beklagten, den der Tätigkeit des Klägers zugrundeliegenden Arbeitsvertrag zu übersenden, kam die B-GmbH nicht nach (vgl E-Mail vom 27. Juli 2017).

Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 26. April 2017 zu einer beabsichtigten Aufhebung der Alg-Gewährung ab 1. Februar 2017 sowie zu einer beabsichtigten Rückforderung des gewährten Alg sowie der gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge an. Eine Stellungnahme zu einer möglichen Verletzung von Mitteilungspflichten bzw zu einer etwaigen Kenntnis des Klägers vom Wegfall des Alg-Anspruchs ist im Anhörungsschreiben nicht ausdrücklich erbeten worden.

In seiner Antwort entschuldigte sich der Kläger, seiner Meldepflicht nicht „vom ersten Tag“ nachgekommen zu sein. Er habe sich in der zweiten Februarwoche bei der Agentur für Arbeit melden wollen. Da er aber am 5. Februar 2017 erfahren habe, zukünftig in der Nachtschicht arbeiten zu sollen, habe „alles seinen Lauf“ genommen. Nachtarbeit sei für ihn nicht in Betracht gekommen, weil seine Frau nachts unter Angstzuständen leide. Bis dahin sei ihm nicht mitgeteilt worden, dass genau für diese Schicht ein Fahrer gesucht werde. Der letzte Tag der Einarbeitung sei der 5. Februar 2017 gewesen. Das Arbeitsverhältnis sei zum 7. Februar 2017 wieder aufgehoben worden. Er habe von der B-GmbH keine Leistungen (Gehalt, Spesen oder Nachtzuschläge) und auch keine Abrechnung erhalten. Er habe sich leider keine Gedanken über sein „Nichtmelden“ gemacht. Es sei nicht seine Absicht gewesen, Leistungen zu unterschlagen oder zu Unrecht zu beziehen (Stellungnahme vom 1. Mai 2017).

Die Beklagte hob daraufhin die Alg-Gewährung mit Wirkung ab 1. Februar 2017 auf. Zur Begründung führte sie aus, dass der Kläger 15 Stunden oder mehr pro Woche abhängig beschäftigt gewesen sei. Seine vorherige Arbeitslosmeldung sei dadurch unwirksam geworden. Alg sei für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 zu Unrecht gewährt worden und vom Kläger zu erstatten. Der Erstattungsbetrag setzte sich aus dem in dieser Zeit gewährten Alg iHv 3.825,90 Euro sowie aus den in der Zeit vom 8. Februar bis 30. April 2017 entrichteten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen iHv 1.178,25 Euro zusammen (Gesamtbetrag: 5.004,15 Euro; vgl im Einzelnen: Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Mai 2017, Bl 429 VA, sowie Aufhebungsbescheid vom 10. Mai 2017, Bl 431 VA).

Mit Widerspruch vom 8. Juni 2014 machte der Kläger ergänzend geltend, dass in der Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 noch gar kein Arbeitsverhältnis bestanden habe. Es habe im Vorfeld die Einigung bestanden, dass es zu einem Arbeitsverhältnis kommen solle. Zuvor habe er bei der B-GmbH auf Probe arbeiten sollen. Während der Probearbeit sei der Kläger nur mit Mitarbeitern der B-GmbH mitgefahren und habe sich alles angeschaut. Entsprechend der Vereinbarung zur Probezeit sei kein Lohn gezahlt worden. Das Arbeitsverhältnis sei dann wegen der dem Kläger bis dahin nicht bekannten zukünftigen Arbeitszeiten (16.00 Uhr bis 2.00 Uhr) noch vor Antritt des Beschäftigungsverhältnisses „storniert“ worden. Die unbezahlte Probearbeit sei zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses gedacht gewesen. Es widerspreche dem Vermittlungsauftrag der Beklagten, wenn bereits die Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses zum Verlust des Alg-Anspruchs führe.

Der Widerspruch wurde mit der ergänzenden Begründung zurückgewiesen, dass die als Praktikum bezeichnete Beschäftigung einer normalen Beschäftigung gleichzusetzen sei. Unerheblich sei, ob Arbeitsentgelt gezahlt worden sei. Entscheidend sei lediglich, dass die Beschäftigung mit einer Arbeitszeit von mehr als 15 Stunden wöchentlich ausgeübt worden sei. Hinzu komme, dass von Beginn an ein Arbeitsverhältnis in Aussicht gestellt worden sei. Unabhängig von der Bezahlung sei Fakt, dass der Kläger in der Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 beschäftigt gewesen sei. Mangels einer unverzüglichen Anzeige dieser Beschäftigung sei die Wirkung der Arbeitslosmeldung erloschen, so dass auch der Alg-Anspruch entfallen sei. Über die Regelung im Ausgangsbescheid hinaus seien die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auch für die Zeit vom 1. bis zum 7. Februar 2017 zu erstatten, so dass sich die Gesamtforderung auf 5.103,52 Euro (bislang: 5.004,15 Euro) erhöhe (Widerspruchsbescheid vom 3. August 2017).

Hiergegen hat der Kläger am 11. August 2017 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage erhoben. Die Probearbeit könne keiner normalen Beschäftigung gleichgestellt werden, da der Kläger lediglich mitgefahren sei und sich die Arbeit der Kollegen angeschaut habe. Er habe keinen Lohn erhalten. Angesichts dieser unbezahlten Probearbeit habe er auch weder vorsätzlich noch grob fahrlässig seine Mitteilungspflichten verletzt. Die unbezahlte und auf eine zukünftige Beschäftigung gerichtete Probearbeit dürfe nicht dazu führen, den Alg-Anspruch zu verlieren. Die erstmals mit Widerspruchsbescheid erfolgte Rückforderung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen für die Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 sei rechtswidrig. Sie sei nicht Gegenstand des Ausgangsbescheides gewesen.

Auf den Hinweis des SG, dass die Beklagte den Kläger bislang nicht zu den subjektiven Voraussetzungen des § 48 SGB X angehört habe, hat die Beklagte den Kläger erneut angehört (Anhörungsschreiben vom 21. Februar 2018, Bl 31a GA) und nach Eingang seiner Stellungnahme (Schreiben vom 9. Februar 2018, Bl. 37 GA) an der getroffenen Entscheidung festgehalten (vgl hierzu: an den Kläger persönlich gerichtetes und seinem Prozessbevollmächtigten übersandtes Schreiben der Beklagten vom 17. Juli 2018, Bl 40 GA). Hiergegen hat der Kläger eingewandt, dass sein Vorbringen aus der nachgeholten Anhörung nicht hinreichend gewürdigt worden sei.

Das SG hat die von der Beklagten erstmals im Widerspruchsbescheid geltend gemachte Erstattungsforderung (Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 - Gesamtbetrag: 99,37 Euro) aufgehoben, die Klage im Übrigen dagegen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Erstattungsforderung hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge auch für die Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 eine rechtswidrige Verböserung im Widerspruchsverfahren darstelle. Dagegen erweise sich die Aufhebung der Alg-Bewilligung für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 als rechtmäßig. Der Kläger habe in der Zeit vom 1. bis 7. Februar 2017 mit seiner Tätigkeit für die B-GmbH die sog Kurzzeitigkeitsgrenze von 15 Stunden pro Woche überschritten und sei deshalb nicht mehr arbeitslos gewesen. Auch bei einem Probearbeitsverhältnis handele es sich um eine Beschäftigung iSd § 138 Abs 3 SGB III, selbst wenn hierfür kein Arbeitsentgelt gezahlt werde. Durch die Aufnahme der Beschäftigung sei die Wirkung der Arbeitslosmeldung entfallen, da der Kläger seine Beschäftigung ab 1. Februar 2017 nicht unverzüglich bei der Beklagten angezeigt habe. Dem Kläger sei seine Obliegenheit, leistungsrelevante Änderungen unverzüglich bei der Beklagten anzuzeigen, aus dem bei Antragstellung überreichten Merkblatt für Arbeitslose bekannt gewesen. Die unterbliebene Mitteilung beruhe somit zumindest auf grober Fahrlässigkeit. Der Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 50 SGB X (Alg) bzw aus § 335 SGB III (Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für die Zeit vom 8. Februar bis 30. April 2017). Die erforderliche Anhörung sei im Klageverfahren nachgeholt worden (Gerichtsbescheid vom 22. Januar 2019).

Gegen den dem Kläger am 28. Januar 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich seine am 19. Februar 2019 eingelegte Berufung. Er weist nochmals darauf hin, nur eine unbezahlte Probearbeit ausgeübt zu haben, die aus Mitfahren und Beobachten der Arbeitskollegen bestanden habe. Er selbst habe keine Arbeit verrichtet. Ebenso wenig sei Lohn gezahlt worden. Eine Gleichstellung dieser Probearbeit mit einer normalen Beschäftigung könne nicht erfolgen. Er habe gerade nicht erkennen können, dass die von ihm ausgeübte Probearbeit zum Wegfall des Alg führen könnte. Es sei übliche Praxis, dass im Rahmen der Arbeitsuche Probearbeit getätigt werde. Eine hierauf gestützte Leistungsentziehung widerspreche dem Vermittlungsauftrag der Beklagten. Er habe das Merkblatt 1 nicht erhalten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 22. Januar 2019 abzuändern sowie die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide der Beklagten vom 10. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2017 vollständig aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und im angefochtenen Gerichtsbescheid. Ergänzend verweist die Beklagte auf Entscheidungen des erkennenden Senats vom 2. Oktober 2013 und 21. März 2019 – L 11 AL 45/13 B und L 11 AL 9/16 –, wonach die Kurzzeitigkeitsgrenze auch für Probearbeitsverhältnisse gelte.

Der Senat hat den Kläger hinsichtlich seines Vortrags, keinen online-Antrag gestellt zu haben, auf die das Gegenteil belegende Aktenlage sowie seine ihm obliegende prozessuale Wahrheitspflicht hingewiesen. Mit der Nachfrage, ob der Kläger gleichwohl an seinem Vortrag zum Ablauf der Antragstellung festhalte, hat der Senat auch um Stellungnahme zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -) gebeten. Daraufhin hat der Kläger mitgeteilt, dass er „auf den Erörterungstermin“ verzichte und um eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bitte (Schriftsatz vom 6. Januar 2021).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten sowie die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Gründe

Der Senat entscheidet über die Berufung mit Einverständnis der Beteiligten (Schriftsätze vom 6. und 8. Januar 2021) ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage, soweit sie die Aufhebung der Alg-Bewilligung für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 und die Erstattungsforderung iHv 5.004,15 Euro betrifft (Alg für die Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 sowie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für die Zeit vom 8. Februar bis 30. April 2017), rechtsfehlerfrei abgewiesen.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Alg-Bewilligung ist § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs 3 SGB III. Danach sind Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (hier: Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 10. und 24. Januar 2017) aufzuheben, soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die bei ihrem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass der Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 10. und 24. Januar 2017 vorgelegen hatten, trat am 1. Februar 2017 eine wesentliche Änderung ein. An diesem Tag nahm der Kläger eine Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Woche auf, so dass er nicht mehr beschäftigungslos war. Damit entfiel auch der Anspruch auf Alg, da dieser ua voraussetzt, dass der betroffene Arbeitnehmer arbeitslos ist (§§ 136 Abs 1 Nr 1, 137 Abs 1 Nr 1 SGB III).

Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer, der nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht, sich bemüht, seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (§ 138 SGB III). Nach § 138 Abs 3 SGB III schließt die Ausübung einer Beschäftigung die Beschäftigungslosigkeit nicht aus, wenn die Arbeitszeit weniger als 15 Stunden wöchentlich umfasst (sog Kurzzeitigkeitsgrenze); gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer bleiben unberücksichtigt. Auf die Höhe des erzielten Entgelts kommt es bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals „Arbeitslosigkeit“ hingegen generell nicht an (vgl BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a AL 58/05 R -).

Seit Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses war der Kläger nicht mehr beschäftigungslos, sondern stand in einem Beschäftigungsverhältnis.

Der (leistungsrechtliche) Begriff des Beschäftigungsverhältnisses bestimmt sich in Anlehnung an § 7 SGB IV. Danach ist die Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach § 7 Abs 2 SGB IV gilt als Beschäftigung auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsausbildung. Das bedeutet, dass eine Beschäftigung dann als gegeben anzusehen ist, wenn der Versicherte seine Arbeitskraft einem Dritten unterstellt, also sich dessen Direktionsrecht unterwirft. Die persönliche Abhängigkeit erfordert zum einen die Eingliederung in den Betrieb und zum anderem die Unterordnung unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich Zeit, Dauer, Art und Ort der Arbeitsleistung. Daneben ist entscheidend, dass Gegenstand des Rechtsverhältnisses die Leistung fremdnütziger Arbeit von wirtschaftlichem Wert im Rahmen eines wirtschaftlichen Austauschverhältnisses ist (vgl im Einzelnen: Gutzler in: Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Auflage 2021, § 138 Rn 20 mwN).

Dies zugrunde gelegt war der Kläger während seines Probearbeitsverhältnisses mindestens 15 Stunden pro Woche beschäftigt. Er hatte sich dem Direktionsrecht der B-GmbH unterworfen und seiner Arbeitgeberin seine vollschichtige Arbeitskraft zur Verfügung gestellt (bis zu 48 Stunden pro Woche). Dass der Kläger in der gesamten Zeit seiner Zugehörigkeit zur B-GmbH ausschließlich mitgefahren und den Arbeitskollegen nur bei deren Arbeit zugeschaut haben will, ist nicht glaubwürdig. Auch wenn der Kläger in dieser Zeit in seine zukünftigen Aufgaben sowie die im Beschäftigungsunternehmen üblichen Arbeitsabläufe eingewiesen worden sein wird, widerspricht es sowohl der Lebenserfahrung als auch dem Wesen eines Probearbeitsverhältnisses, dass keinerlei Arbeitsleistung erbracht worden sein soll. Schließlich will sich der zukünftige bzw potentielle Arbeitgeber mittels der Probearbeit einen Eindruck von der Arbeitsleistung des Bewerbers verschaffen. Dies ist unmöglich, wenn der Bewerber sich ausschließlich passiv verhält (nämlich nur mitfährt und den Arbeitskollegen bei deren Arbeit zusieht). Bei lebensnaher Betrachtungsweise ist ausgeschlossen, dass der Kläger nicht auch „mit angepackt“ hat, zB beim Be- und Entladen der Kraftfahrzeuge. Somit hat der Kläger zumindest auch Arbeiten von wirtschaftlichem Wert erbracht. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger unentgeltlich tätig geworden ist. Ein leistungsrechtlich relevantes Beschäftigungsverhältnis setzt keine Entgeltlichkeit voraus (vgl BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a AL 58/05 R -; LSG Saarland, Urteil vom 10. Dezember 2004 - L 8 AL 34/02 -; Urteile des erkennenden Senats vom 17. Mai 2011 und 26. Juni 2012 - L 11 AL 40/08 und L 11 AL 75/11 -; Gutzler in: Mutschler/Bartz/Schmidt-De Caluwe, aaO, § 138 Rn 32 mwN).

Die von der Beklagten vorgenommene Leistungsaufhebung ist auch aus verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden.

Nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X iVm § 330 Abs 3 SGB III sind Verwaltungsakte (hier: Bewilligungs- und Änderungsbescheide vom 10. und 24. Januar 2017) mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.

Der Kläger war nach § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB I verpflichtet, alle Tatsachen unverzüglich mitzuteilen, die für die Leistung erheblich sind. Da durch die Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses der Alg-Anspruch entfiel (s.o.), bestand die Verpflichtung des Klägers, diesen Umstand mitzuteilen.

Diese Mitteilungspflicht hat der Kläger zumindest grob fahrlässig verletzt. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 2. Halbsatz SGB X).

Der Kläger war über seine Mitteilungspflichten durch das ihm überreichte „Merkblatt 1 für Arbeitslose - Ihre Rechte Ihre Pflichten“ hinreichend belehrt worden. Dieses Merkblatt war dem Kläger am 19. Dezember 2016 übergeben worden (vgl Verbis-Vermerk von diesem Tag, Bl 88f GA). Mit Übermittlung des Online-Alg-Antrags hatte der Kläger zudem bestätigt, vom Merkblatt 1 für Arbeitslose Kenntnis genommen zu haben (vgl Darstellung des Online-Antragsverfahrens durch die Beklagte, Schriftsatz vom 16. September 2020, Bl 81, 83 GA). Soweit der Kläger im Berufungsverfahren zunächst vorgetragen hat, keinen online-Antrag bei der Beklagten gestellt und somit auch das Merkblatt nicht erhalten zu haben, wird dieser Vortrag offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Schließlich hat der Kläger auf seine Ladung zur mündlichen Verhandlung sowie nach ausdrücklichem Hinweis auf seine prozessuale Wahrheitspflicht (vgl Ladungsverfügung vom 7. Dezember 2020) auf den „Erörterungstermin“ verzichtet und um eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gebeten. Dies versteht der Senat dahingehend, dass der Kläger an seinem bisherigen Vortrag nicht mehr festhält (vgl hierzu auch bereits die richterliche Verfügung vom 8. Januar 2021, welcher der Kläger nicht entgegengetreten ist). Auch die dem Senat vorliegende Verwaltungsakte belegt, dass der Kläger seinen Alg-Antrag (Bl 376ff VA) auf elektronischem Übermittlungsweg gestellt hat (vgl hierzu den Aufdruck „Online-Formular, übermittelt am 29. Dezember 2016“ auf dem Antragsformular, Bl 376 – 380 VA, den Übermittlungsnachweis auf Bl 381 VA sowie die Darlegungen der Beklagten zum Ablauf einer online-Antragstellung im Schriftsatz vom 16. September 2020, Bl 81 GA). Im zuletzt genannten Schriftsatz hat die Beklagte nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass eine Antragstellung ohne Bestätigung der Kenntnisnahme des Merkblatts technisch ausgeschlossen ist.

In dem dem Kläger ausgehändigten „Merkblatt 1 für Arbeitslose - Ihre Rechte Ihre Pflichten“ wird in Abschnitt 8.2 auf die unverzügliche Pflicht zur Meldung hingewiesen, insbesondere bei Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit. Ausdrücklich erwähnt werden dort auch Probearbeitsverhältnisse (vgl Seite 64f des Merkblatts, Stand: März 2016). Dass der Kläger trotz dieser eindeutigen und ohne Weiteres verständlichen Hinweise die Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses nicht von sich aus bei der Beklagten angezeigt hat, ist zumindest grob fahrlässig. Hierfür spricht auch die Antwort des Klägers auf das Anhörungsschreiben der Beklagten vom 26. April 2017. Dort entschuldigte sich der Kläger für das Unterlassen der Mitteilung von der Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses. Dies zeigt, dass dem Kläger seine Mitteilungspflicht im Grundsatz durchaus bewusst war. Dies ist auch nachvollziehbar, da der Kläger vor dem 1. Januar 2017 bereits wiederholt Alg bezogen und das Merkblatt 1 ausgehändigt bekommen hatte.

Nach alledem stellt sich der Umstand, dass der Kläger die nach § 60 SGB I unverzüglich gebotene Mitteilung an die Beklagte zunächst auf die zweite Februarwoche verschoben hatte (vgl hierzu: Schreiben des Klägers vom 1. Mai 2017) und dann wegen Nichtzustandekommen des Arbeitsverhältnisses vollkommen unterließ, als Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten nach § 60 SGB I dar. Da sich die Mitteilungspflicht lediglich auf Tatsachen bezieht (hier: Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses), kann der Kläger das Unterlassen der Mitteilung auch nicht mit einem etwaigen Irrtum über die rechtlichen Folgen der Aufnahme des Probearbeitsverhältnisses rechtfertigen.

Die Beklagte hat die Jahresfrist des § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X eingehalten. Die zunächst nur unvollständig durchgeführte Anhörung (§ 24 SGB X) ist im Klageverfahren wirksam nachgeholt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X).

Die Aufhebung der Alg-Gewährung bis zum 30. April 2017 (und nicht nur bis zum Ende des Probearbeitsverhältnisses am 7. Februar 2017) erweist sich ebenfalls als rechtmäßig, da der Kläger sich nach Aufnahme des bei der Beklagten nicht angezeigten Probearbeitsverhältnisses in der Folgezeit nicht erneut persönlich arbeitslos gemeldet hatte (§§ 137 Abs 1 Nr 2, 141 Abs 2 Nr 2 SGB III). Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die zutreffenden und nicht ergänzungsbedürftigen Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid (Seite 8, 2. Absatz).

Der Erstattungsanspruch für das in der Zeit vom 1. Februar bis 30. April 2017 gewährte Alg ergibt sich aus § 50 Abs 1 SGB X, für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge aus § 335 Abs 1 und 5 SGB III. Fehler bei der Berechnung des Erstattungsbetrages sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor.



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