Arbeitsgericht Emden

Urteil vom - Az: 2 Ca 263/21

Anzeige von Arbeitsunfähigkeit auch durch Boten möglich

(1.) Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer dazu verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen.

(2.) Zur Übermittlung der Anzeige darf der Arbeitnehmer auch eine andere Person aus dem Betrieb als Boten beauftragen.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Im vorliegenden Rechtsstreit erlitt der Kläger am Arbeitsplatz eine Fingerquetschung. Nachdem die Verletzung durch eine Ersthelferin mit einem Pflaster behandelt wurde, setzte der Kläger seine Arbeit zunächst fort. Im weiteren Verlauf des Arbeitstages verließ der Kläger seinen Arbeitsplatz, um sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Über sein Vorhaben informierte der Kläger zuvor seinen Kollegen. Daraufhin wurde der Kläger von seiner beklagten Arbeitgeberin mit einer Abmahnung gerügt. Der Kläger sei verpflichtet gewesen, sich bei ihr oder einem Vertreter abzumelden und nicht über einen Arbeitskollegen – so die Beklagte.
Diese Ansicht teilte das Arbeitsgericht Emden nicht und entschied, dass die Abmahnung rechtswidrig erfolgte und aus der Personalakte zu entfernen sei.
Grundsätzlich sei der Arbeitnehmer dazu verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen.
Das Gesetz schreibe jedoch keine besondere Form für die Anzeige vor, sodass eine solche Anzeige sowohl schriftlich als auch mündlich oder über Vertreter und Boten erfolgen könne. Damit könne der Arbeitnehmer auch einen nicht zur Entgegennahme von Erklärungen befugten Mitarbeiter als Boten für eine Erklärung – wie im konkreten Fall – einsetzen. In diesem Falle trage jedoch der Arbeitnehmer das Risiko, dass die Botschaft rechtzeitig und fehlerfrei übermittelt werde. Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, dass der Bote die Meldung sowohl unverzüglich als auch fehlerfrei abgegeben hat, da die Beklagte im Prozess nichts beanstandet hatte.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor:

1. Die Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger mit Schreiben vom 23.09.2021 er- teilte Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.804,33 EUR festgesetzt.

4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer Abmahnung.

Der Kläger ist seit dem 15.02.2018 bei der Beklagten als Schlosser beschäftigt. Im beim Ar­ beitsgericht Emden zwischen den Parteien geführten Parallelverfahren zum Aktenzeichen 2 Ca 275/21 streiten die Parteien um die Rechtswirksamkeit zweier ordentlicher Kündigungen zum 31.12.2021.

Der Kläger verletzte sich am 22.9.2021 bei der Arbeit. Streitig zwischen den Parteien ist Aus­ maß und Schwere der vom Kläger erlittenen Verletzung.

Der Kläger war sodann ab dem 22.9.2021 bis zum 8.10.2021 wegen einer Fingerquetschung arbeitsunfähig krankgeschrieben (vergleiche Kopien der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 22.09.2021 sowie vom 30.9.2021, Anlage K2 zur Klage, Blatt 6 der Akte, und Anlage zum klägerseitigen Schriftsatz vom 7.3.2022, Blatt 36 der Akte).

Hinsichtlich des Inhalts des Berichtes der ...-Klinik vom 22.09.2021 und hinsichtlich des Inhalts des Durchgangsarztberichtes wird auf die vom Kläger zur Gerichtsakte gereichten Ablichtungen Bezug genommen (vergleiche Anlagen zum klägerseitigen Schriftsatz vom 7.3.2022, Blatt 34 und Blatt 35 der Akte).

Mit Schreiben vom 23.09.2021 mahnte die Beklagte den Kläger ab. Hinsichtlich des Inhalts des genannten Schreibens im Einzelnen wird auf die vom Kläger zur Gerichtsakte gereichte Ablich­ tung Bezug genommen (vergleiche Anlage K1 zur Klage, Blatt 5 der Akte).

Der Kläger ist der Auffassung, die dem Kläger von der Beklagten erteilte Abmahnung sei rechts­ widrig. Die Beklagte habe im Abmahnungsschreiben den maßgeblichen Sachverhalt unrichtig dargestellt. Er - der Kläger - habe sich zu Recht bei einem Mitarbeiter der Beklagten, Herrn D., abgemeldet, der die Teamleiterfunktion von der vorherigen Schicht übernommen habe. Der zweite Schichtleiter Herr A. habe den Kläger nach seinem Unfall zum Ersthelfer­Raum begleitet und eine ärztliche Behandlung angeregt. Der Teamleiter D. sei an diesem Tag nicht anwesend gewesen, so dass keine Teamleitung vor Ort gewesen sei. In diesen Fällen übernehme der erfahrenste Techniker, an diesem Tag Herr D., diese Aufgabe.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger mit Schreiben vom 23.9.2021 erteilte Abmah­ nung aus der Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte beantragt, 

die Klage abzuweisen.

Die Abmahnung sei rechtmäßig ergangen. Am 22.09.2021 habe sich der Kläger Mitarbeiterin M., einer Ersthelferin im Betrieb der Beklagten, gemeldet. Der Kläger habe eine kleine Wunde auf seinem Fingernagel gezeigt. Die Mitarbeiterin M. habe die kleine Wunde im Rahmen der Erstversorgung mit einem Pflaster versorgt. Danach habe die Mitarbeiterin M. den Kläger gefragt, ob er zurück in die Produktionshalle gehen und weiterarbeiten könne. Der Kläger habe die Frage ohne weitere Einschränkungen sofort bejaht. Augenscheinlich sei der Kläger auch nicht erheblich verletzt gewesen, sondern habe nur die besagte kleine Wunde auf dem Finger­ nagel gehabt. Eine weitere ärztliche Versorgung habe der Kläger ausdrücklich ausgeschlossen. Im weiteren Verlauf des Arbeitstages am 22.09.2021 habe sich der Kläger sodann vor dem Ende der Arbeitszeit zu seinem Kollegen Herrn D. begeben und diesem mitgeteilt, dass er - der Kläger - den Arbeitsplatz vor Schichtende verlassen werde.

Durch dieses Verhalten habe der Kläger gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Bei Verlassen des Arbeitsplatzes vor dem Ende der Arbeitszeit sei der Kläger gehalten gewe­ sen, die Beklagte oder einen Vertreter, namentlich den Vorgesetzten, Herrn B., zu in­ formieren. Dies sei seitens des Klägers unstreitig nicht erfolgt. Der Zeuge B. als Vorge­setzter des Klägers sei vor Ort gewesen. Der Kläger möge darlegen, warum er sich bei diesem nicht abgemeldet habe. Der Kläger habe nach eigenen Angaben nicht unter starken Schmerzen gelitten. Die Beklagte bestreite mit Nichtwissen, dass der Kläger an einer so erheblichen Ver­ letzung wie der Quetschung seines rechten Zeigefingers gelitten habe. Weiterhin bestreite die Beklagte, dass der Kläger sich aufgrund der angeblichen Verletzung ins Krankenhaus habe begeben müssen bzw. begeben habe.

Unzutreffend sei, dass der Mitarbeiter D. am 22.09.2021 zum Zeitpunkt der Abmeldung des Klägers bei dem Mitarbeiter D. die Teamleiterfunktion übernommen habe. Herr D. habe auch keine entsprechenden Teamleiteranweisungen erteilt. Es verbleibe daher dabei, dass sich der Kläger beim Verlassen des Arbeitsplatzes am 22.09.2021 vor Ende der Arbeitszeit weder bei seinem Vorgesetzten noch der Personalabteilung der Beklagten abgemeldet habe.

Ergänzend wird Bezug genommen auf die von den P arteien zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Verhandlungsprotokolle.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

1) Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Entfernung der streitgegenständli­ chen Abmahnung aus seiner Personalakte.

1) Dem Entfernungsverlangen hinsichtlich der streitgegenständlichen Abmahnung steht nicht entgegen, dass die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien gekündigt hat. Zwar führt die Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den Regelfall zu dem Ergebnis, dass dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf Entfernung einer zu Un­ recht erteilten Abmahnung aus der Personalakte nicht mehr zusteht (vgl. BAG, Urteil vom 14.09.1994 - 5 AZR 632/93, Juris, Leitsatz; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.12.2012 - 8 Sa 379/12, Juris Rn. 21). Allerdings hat die erkennende Kammer mit Urteil vom heutigen Tage in dem zwischen den Parteien beim Arbeitsgericht Emden geführten Parallelverfahren 2 Ca 275/21 festgestellt, dass die dort streitgegenständlichen Kündigungen das Arbeitsverhältnis der Parteien gerade nicht beendet haben.

2) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der sich die erkennende Kam­ mer insoweit anschließt, kann der Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung der§§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte verlan­ gen (vgl. BAG, Urteil vom 14.09.1994 - 5 AZR 632/93, Juris Rn. 17 m. w. N.).

3) Die genannten Voraussetzungen liegen hier vor. Die streitgegenständliche Abmahnung ist dem Kläger zu Unrecht erteilt worden. Die Beklagte hat nicht nachgewiesen, dass der Kläger gegen die ihm obliegende (Ab)Meldeverpflichtung verstoßen hätte.

a) Gemäߧ 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist der Arbeitnehmer verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen.

Die Anzeige hat unverzüglich (ohne schuldhaftes Zögern) zu erfolgen,§ 5 Abs. 1 Satz 1 i. V. m § 121 BGB, wobei maßgebend für die Erfüllung der gesetzlichen Pflicht der Zugang der Nach­ richt beim Arbeitgeber, nicht die Absendung ist. ,,Unverzüglich" bedeutet allerdings nicht „so­ fort". Das Gesetz gibt dem Arbeitnehmer nur auf, den Arbeitgeber so schnell zu informieren, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist. Der Arbeitnehmer muss die Anzeige im laufe des ersten Krankheitstages erstatten (vgl. Reinhard, in: Erfurter Kommentar zum Ar­beitsrecht, 22. Auflage 2022,§ 5 EFZG Rn. 6 mit weiteren Nachweisen).

Der Arbeitnehmer hat den Arbeitgeber zu benachrichtigen. Es genügt aber auch die Information eines vom Arbeitgeber zur Entgegennahme von Erklärungen autorisierten Mitarbeiters, was sich in großen Unternehmen und Behörden aus dem Organisationsplan ergibt. Soweit das nicht ausdrücklich geregelt ist, muss ein Vorgesetzter benachrichtigt werden. Keine Benachrichti­ gungsemptänger sind etwa Betriebsratsmitglieder, Telefonisten, Pförtner und andere Betriebs­ angehörige, denen sich der Arbeitnehmer nur als Bote bedienen kann und bei denen er das Risiko der rechtzeitigen und zutreffenden Übermittlung trägt (vgl. Reinhard, in: Erfurter Kom­ mentar zum Arbeitsrecht, 22. Auflage 2022,§ 5 EFZG Rn. 8 mit weiteren Nachweisen).

Das Gesetz schreibt keine besondere Form für die Anzeige vor. Geeignet kann auch die Ein­ schaltung eines Boten sein, der insbesondere dann heranzuziehen ist, wenn die Arbeitsunfä­ higkeit zu einer Einschränkung der Bewegungs- und/oder Kommunikationsfähigkeit geführt hat (vgl. Reinhard, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 22. Auflage 2022,§ 5 EFZG Rn. 7 mit weiteren Nachweisen).

b) Nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar, dass der Kläger seine Verpflichtung gemäߧ 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG verletzt hätte.

Der Kläger hatte sich bei dem Mitarbeiter D. abgemeldet, der offenbar diese Information an die Beklagte weitergab. Zu Gunsten der Beklagten kann damit unterstellt werden, dass der Mitarbeiter D. am 22.09.2022 keine Teamleiter-Funktion und damit keine Vorgesetzten­ Funktion gegenüber dem Kläger ausübte. Denn jedenfalls bediente der Kläger sich des Mitar­ beiters D. nach oben genannten Grundsätzen als Bote. Dass dieser die von ihm an die Beklagte übermittelte Mitteilung über die Abmeldung des Klägers nicht umgehend an die Be­klagte weitergeleitet hätte, trägt die Beklagte allerdings selbst nicht vor. Demnach ist mangels entsprechenden anderweitigen Vortrages der Beklagten davon auszugehen, dass die Nachricht von der Abmeldung des Klägers den Vorgesetzten B. „unverzüglich" im Sinne von§ 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG erreichte.

War die Beklagte allerdings rechtzeitig und hinreichend im Sinne von§ 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG über die Abmeldung des Klägers informiert, kann sie ihm nicht zur Last legen, der Kläger hätte sich aber direkt beim Vorgesetzten Herrn B. abmelden müssen. Vielmehr ist die rechtli­che Würdigung durch die Beklagte im Abmahnungsschreiben vom 23.09.2021 unzutreffend. Folge davon ist, dass der Klage einen Anspruch auf Entfernung des genannten Abmahnungs­ schreibens aus seiner Personalakte hat.

II) Die Kostenentscheidung beruht auf§§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 91 ZPO. Der Wert des Streitgegenstandes war gemäߧ § 61 Abs. 1 ArbGG, 3 ZPO festzusetzen. Die Berufung war nicht gemäߧ 64 Abs. 2 Buchstabe a), Abs. 3 gesondert zuzulassen, da ein Zulassungsgrund nicht vorliegt. Ergänzend wird auf die nachfolgende Rechtsmittelbelehrung verwiesen.

 

Rechtsmittelbelehrung

Da das Gericht die Berufung nicht besonders zugelassen hat, kann gegen dieses Urteil gern. § 64 Abs. 2 Arbeitsgerichtsgesetz Berufung nur eingelegt werden, wenn

1. der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 EUR übersteigt oder

2. es sich um eine Rechtsstreitigkeit über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses handelt.

Soweit die Voraussetzungen zu 1. oder 2. nicht vorliegen, ist gegen dieses Urteil ein Rechts­ mittel nicht gegeben



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