Landesarbeitsgericht Hamburg

Urteil vom - Az: 5 Sa 107/12

Anspruch auf eine behindertengerechte Beschäftigung

(1.) Schwerbehinderte Menschen haben gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können (§ 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX). Der Arbeitgeber erfüllt diesen Anspruch regelmäßig dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist.

(2.) Kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer die damit verbundenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dieser Verlust nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruches. Der Arbeitnehmer kann Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben - § 106 GewO - und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, auf eine entsprechende Vertragsänderung.

(3.) Um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der Arbeitgeber auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX). So kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer verlangen, dass er mit leichteren Arbeiten beschäftigt wird, sofern im Betrieb die Möglichkeit zu einer solchen Aufgabenumverteilung besteht. Der Arbeitgeber ist jedoch dann nicht zur Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, wenn ihm die Beschäftigung unzumutbar oder eine solche nur mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist, § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten.

(4.) Hat der Arbeitgeber die Beschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers in einer anderen Filiale insgesamt abgelehnt und Alternativen nicht aufgezeigt, so muss es dem behinderten Menschen gestattet sein, klageweise eine von ggf. mehreren behindertengerechten Einsatzmöglichkeiten zu konkretisieren. Dieser besondere Beschäftigungsanspruch entsteht kraft Gesetzes (BAG 10.05.2005 - 9 AZR 230/04 - juris) und kann unmittelbar unter Benennung der angestrebten Stelle geltend gemacht werden.

(5.) Die Beschäftigung an einem anderen Arbeitsplatz ist dem Arbeitgeber nicht alleine deswegen unzumutbar, weil dies eine "Folge von Personalmaßnahmen" auslösen würde, solange der Arbeitsplatz nicht "freigekündigt" werden muss.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 18. September 2012 - 21 Ca 284/11 - wird auf ihre Kosten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Verpflichtung der Beklagten, die zur Versetzung erforderliche Zustimmung des Betriebsrates einzuholen und ggf. das Zustimmungsersetzungsverfahren zu betreiben, nicht zur Entscheidung ansteht.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um den Einsatzort des schwerbehinderten Klägers.

Der am ... 1979 geborene Kläger begann seine Tätigkeit als Verkaufsmitarbeiter für die Beklagte am 1. August 2003. Der zugrundeliegende Arbeitsvertrag (Anl. K 1, Bl. 4 d.A.) enthält in Ziffer 2.2 einen bundesweiten Versetzungsvorbehalt. Die Beklagte betreibt eine Vielzahl von Filialen für Bürobedarf in Deutschland. Seit Juli 2004 wurde der Kläger in Vollzeit bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden beschäftigt, er verdiente € 2.066,- brutto monatlich (Beiakte LAG Hamburg 5 Sa 49/10). Der Einsatzort des Klägers war zunächst die Filiale H...-H..., seit dem Monat Juli 2004 die Filiale H... O.... Dieser Stadtteil liegt nördlich der Elbe. Der Kläger, wohnhaft in Niedersachsen - südwestlich von Lüneburg - muss bei Nutzung eines PKW deshalb die Elbe mit dem Elbtunnel oder den Elbbrücken queren, um zu diesem Einsatzort zu gelangen.

Der Kläger ist seit dem Jahre 2007 mit einem Grad von 90% als Schwerbehinderter anerkannt (Anl. K 13, Bl. 34 d.A.). Der Bescheid nennt folgende Funktionsbeeinträchtigungen: Hörschwäche, psychische Störungen, Bewegungseinschränkungen des rechten Schultergelenks und des rechten Ellenbogengelenkes, Einschränkung der Gehfähigkeit bei Luftmangel und Minderbelastbarkeit des linken Beines, Migräne und Verschleißleiden der Wirbelsäule mit Schmerzzuständen.

Im August 2010 bewarb sich der Kläger um eine Versetzung in die betriebsratslose Filiale L.... Es folgte eine Arbeitsplatzbegehung seitens des Integrationsamtes. Der Kläger wiederholte sein Versetzungsbegehren nach L... unter Hinweis auf § 81 SGB IX im Februar 2011 (Anl. K 8, Bl. 12 d.A.). Seinen im Ergebnis erfolglosen Antrag stützte der Kläger auf mehrere ärztliche Bescheinigungen, in denen ein solcher Wechsel im Hinblick auch auf bestehende Angstzustände bei der erforderlichen Nutzung eines PKW empfohlen wurde (Anl. K 7, Bl. 11 d.A.; K 10, Bl. 31 d.A.; K 11, Bl. 32 d.A.; später noch: K 12, Bl. 33 d.A.).

Mit seiner am 20. Juni 2011 bei Gericht eingegangenen Klage macht der Kläger geltend, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihn nach L... zu versetzen. Er verweist auf § 81 SGB IX und trägt vor, dass es ihm nicht zumutbar sei, näher an seinen jetzigen Einsatzort zu ziehen, da er an seinem jetzigen Wohnort G... eine Eigentumswohnung besitze. Zur Filiale In H...-O... könne er mit öffentlichen Verkehrsmitteln wegen seiner Angststörung nicht fahren. Insbesondere sei ihm die Fahrt durch den Elbtunnel nicht krankheitsbedingt zumutbar. Mit dem eigenen Pkw zu fahren und der Weg über die Elbbrücken sei wegen der Staugefahr und seines Bandscheibenschadens unzumutbar. Die Filiale in L... sei von G... hingegen aus leicht zu erreichen. Die Beklagte könne und müsse für ihn einen Arbeitsplatz in L... freimachen. Der Kläger verweist darauf, dass die dort beschäftigten Verkäufer ebenfalls Versetzungsklauseln hätten. Nach seiner Antragstellung seien mehrere Mitarbeiter in L... ausgeschieden und die Beklagte hätte die Stellen neu besetzt. Bei einer Vielzahl von Waren handele es sich um leichte Gegenstände, die an einer Theke angeliefert würden. Diese könne er problemlos wegräumen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, den Kläger in ihrer Filiale in L... zu beschäftigen und die zur Versetzung erforderliche Zustimmung des Betriebsrates einzuholen und gegebenenfalls das Zustimmungsersetzungsverfahren zu betreiben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, dass der Kläger nach H...-O... umziehen könne und dass er öffentliche Verkehrsmittel benutzen könne. In der Filiale L... sei kein Arbeitsplatz frei. Es ginge rechnerisch auch nicht auf, einen Verkäufer von L... nach O... zu versetzen und den Kläger auf den dann in L... freiwerdenden Arbeitsplatz einzusetzen, denn der Kläger sei mit 37,5 Stunden wöchentlich zu beschäftigen. Die Arbeitszeiten der in L... eingesetzten Verkäuferinnen und Verkäufer lauteten demgegenüber: 2 à 30 Stunden, 2 à 25 Stunden und 2 à 20 Stunden. Die Beschäftigung von Teilzeitkräften in L... böte außerdem den Vorteil einer größeren Flexibilität, weil die Stundenzahl bei vier Teilzeitkräften um bis zu 25 % erhöht werden könne. Einem Einsatz des Klägers in L... stünde auch entgegen, dass grundsätzlich jeder Verkäufer alles machen können müsse. Ferner sei zu beachten, dass die Filiale L... kleiner sei als die Filiale in C.... Eine größere Filiale könne aber einen Arbeitnehmer, der, wie der Kläger, außerordentlich hohe Fehlzeiten aufweise, besser auffangen. Auch im Hinblick auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers sei sein Einsatz in Lüneburg nicht denkbar. Der Kläger dürfe nicht schwer tragen und nicht über Kopf arbeiten. Üblicherweise seien morgens aber in L... nur zwei bis drei Verkäufer anwesend. Einer hiervon sei regelmäßig ein Fachleiter, der zu Beginn des Tages hauptsächlich organisatorische und administrative Tätigkeiten wahrnehme Die übrigen Verkäufer seien in dieser Zeit für die Betreuung der Kunden und für die Annahme und das Verräumen von Ware zuständig. Diese Tätigkeiten fänden je nach Bedarf im ständigen Wechsel statt. Primär hätten die Verkäufer die im Laden befindlichen Kunden zu beraten und zu bedienen. Daneben seien aber immer dann die angelieferten Waren zu verräumen und Regalplatzlücken aufzufüllen, wenn hierfür entsprechende Zeitfenster bestünden. Dies sei vor allem vormittags aufgrund der geringeren Kundenfrequenz zu erledigen. Einen einheitlichen Grundsatz, wann die Warenverräumung im Markt stattfindet, gebe es nicht. Das Verräumen der Ware finde über mehrere Tage neben der eigentlichen Verkaufstätigkeit statt. Die Zielvorgabe sei, dass die jeweils angelieferte Ware bis zur nächsten Anlieferung verräumt sei. Es sei erforderlich, dass jeder Verkäufer den genauen Standpunkt der Ware im Markt kenne. Diese Kenntnis werde vorwiegend dadurch gewonnen, dass die Waren in das Sortiment eingeordnet werden.

Durch das der Beklagten am 26. Oktober 2012 zugestellte Urteil vom 18. September 2012, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Hiergegen richtet sich die am 9. November 2012 eingelegte und mit am 25. Januar 2013 beim Landesarbeitsgericht Hamburg eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung der Beklagten, nachdem die Berufungsbegründungsfrist am 21. Dezember 2012 bis zum 28. Januar 2013 verlängert worden war.

Sie wiederholt unter Hinweis auf ihre erstinstanzlichen Ausführungen ihre Auffassung, wonach ein Einsatz des Klägers in der Filiale L... nicht zumutbar sei. Seine häufigen Fehlzeiten seien in der dortigen kleineren Filiale schwerer auffangbar. Diese Filiale sei bei einem Einsatz des Klägers überbesetzt, es würde sich eine Vielzahl von personellen Maßnahmen gegenüber Kollegen anschließen müssen. Der Kläger habe einen Einsatz dort unter den einschränkenden Bedingungen seiner Schwerbehinderung im Übrigen gar nicht hinreichend dargelegt. Der Aussagewert der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sei dürftig, die dort gemachten Angaben seien zu bestreiten. Eine etwaige Beteiligung des Betriebsrates in O... solle zweitinstanzlich nicht problematisiert werden.

Die Beklagte beantragt, .

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hamburg vom 18. September 2012 - 21 Ca 284/11 -

die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien, ihrer Beweisantritte und der von ihnen überreichten Unterlagen sowie ihrer Rechtsausführungen wird ergänzend auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Es ist Beweis erhoben worden durch Einholung orthopädischer und psychiatrischer Facharztgutachten. Hinsichtlich des Beweisthemas wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 19. Juni 2013 (Bl. 264 d.A.). Hinsichtlich des Ergebnisses wird auf die Gutachten (Bl. 276 ff und Bl. 318 ff d.A.) und das Folgegutachten (Bl. 355 d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft und im Übrigen form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit zulässig (§§ 64 Abs. 6, 66 ArbGG, 519, 520 ZPO). Sie ist unbegründet.

II. Die Beklagte ist - wie das Arbeitsgericht zu Recht erkannt hat - verpflichtet, den Kläger in ihre Filiale in L... zu versetzen. Anspruchsgrundlage ist § 81 Abs. 4 Satz 1 Ziffern 1 und 4 SGB IX.

1. Es ist von folgenden Rechtsgrundsätzen auszugehen: Nach § 81 Abs. 4 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können. Der Arbeitgeber erfüllt diesen Anspruch regelmäßig dadurch, dass er dem Arbeitnehmer die im Arbeitsvertrag vereinbarte Arbeit zuweist. Kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer die damit verbundenen Tätigkeiten wegen seiner Behinderung nicht mehr wahrnehmen, so führt dieser Verlust nach der Konzeption der §§ 81 ff. SGB IX nicht ohne Weiteres zum Wegfall des Beschäftigungsanspruches. Der Arbeitnehmer kann Anspruch auf eine anderweitige Beschäftigung haben - § 106 GewO - und, soweit der bisherige Arbeitsvertrag diese Beschäftigungsmöglichkeit nicht abdeckt, auf eine entsprechende Vertragsänderung. Um eine behinderungsgerechte Beschäftigung zu ermöglichen, ist der Arbeitgeber nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB IX auch zu einer Umgestaltung der Arbeitsorganisation verpflichtet. So kann der schwerbehinderte Arbeitnehmer verlangen, dass er mit leichteren Arbeiten beschäftigt wird, sofern im Betrieb die Möglichkeit zu einer solchen Aufgabenumverteilung besteht. Der Arbeitgeber ist jedoch dann nicht zur Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, wenn ihm die Beschäftigung unzumutbar oder eine solche nur mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist, § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Der Arbeitgeber ist auch nicht verpflichtet, für den schwerbehinderten Menschen einen zusätzlichen Arbeitsplatz einzurichten (BAG 14.03.2006 - 9 AZR 411/05 - Juris, Rn. 18 u. 19), er ist aber unter Berücksichtigung des Einzelfalls verpflichtet, behinderten Menschen den Zugang zur Beschäftigung, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen (EuGH 04.07.2013 - Rs C-312/11 - Juris). Hierzu gehört auch die Einrichtung des Arbeitsumfeldes (Beyer, Arbeitgeberpflichten gegenüber Arbeitnehmern mit einer Behinderung im Licht der aktuellen Rechtsprechung des EuGH, DB 13, 2270, 2271) bis hin zur Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes (LAG Niedersachsen 06.12.2010 - 12 Sa 860/10 - Juris).

Macht der schwerbehinderte Arbeitnehmer den schwerbehindertenrechtlichen Beschäftigungsanspruch nach § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX geltend, so hat er nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen. Dazu muss er sein eingeschränktes Leistungsvermögen darlegen und ggfs. beweisen, seine Weiterbeschäftigung geltend machen und die Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen, die seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechen sollen. Hierauf hat sich der Arbeitgeber substantiiert einzulassen. Er muss darlegen, aus welchen Gründen die vom Arbeitnehmer vorgeschlagenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Welche Einzelheiten vom Arbeitgeber vorzutragen sind, bestimmt sich nach den Umständen des Streitfalls unter Berücksichtigung der Darlegungen des klagenden Arbeitnehmers. Als Einwände kommen in Betracht, dass entsprechende Tätigkeitsbereiche überhaupt nicht vorhanden seien, keine Arbeitsplätze frei seien und auch nicht freigemacht werden könnten, der Arbeitnehmer das Anforderungsprofil nicht erfülle oder die Beschäftigung aus anderen Gründen unzumutbar sei (BAG, Urt. v. 10.05.2005 - 9 AZR 230/04 - Juris, Rn. 42).

2. Übertragen auf vorliegenden Rechtstreit bedeutet dies zunächst Folgendes: Der mit einem Grad der Behinderung von 90% anerkannte Kläger ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus in seiner Behinderung liegenden Gründen nicht in der Lage, einen nördlich der Elbe gelegenen Arbeitsplatz per PKW durch den Elbtunnel oder über die Elbbrücken zu erreichen. Zwar führen nach dem fachorthopädischen Gutachten körperliche Behinderungen nicht zu diesem Ergebnis. Jedoch führt der psychiatrische Sachverständige aus (S.23 des Gutachtens, Bl. 340 d.A.):

 „Der Proband ist unter anderem an einer chronisch verlaufenden Angsterkrankung leidend, war deshalb mehrfach stationär in psychosomatischen Fachkliniken zur Therapie und eine Kernsymptomatik ist sein aus gutachterlicher Sicht glaubhaft beschriebenes agoraphobisches Vermeidungsverhalten für die Fahren durch den Elbtunnel und über die Elbbrücken ... Die Beeinträchtigung durch die psychische Störung ist so gravierend, dass die Lebensführung durch diese bestimmt wird ... Ihm ist erkrankungsbedingt der jetzige Weg zur Arbeit nicht zuzumuten ... und er ist aus körperlichen und psychischen Gründen (Angstsymptomatik) auf den eigenen PKW angewiesen und öffentliche Verkehrsmittel werden ebenfalls gemieden und bringen für die Bewältigung der agoraphobischen Symptomatik beim Überqueren der Elbbrücken und des Durchqueren des Elbtunnels keinen Vorteil ...“

In seinem Folgegutachten führt der Erstbegutachter dem folgend aus:

 „Die Behinderungen des Klägers führen dazu, dass seine Möglichkeiten, mit dem Auto Arbeitsstätten zu erreichen, augenblicklich so eingeschränkt sind, dass bestimmte Wegstrecken, wie bspw. Tunnel, oder Wegstrecken mit hoher Stauwahrscheinlichkeit vermieden werden müssen ...“

Die Gutachter stützen ihre sachverständigen Erkenntnisse auf eine ausführliche persönliche Untersuchung des Klägers. Zusätzlich konnten sie für ihre Begutachtung Arztberichte über Klinikaufenthalte des Klägers zur Behandlung seiner psychischen Störungen verwerten, die im Ergebnis gleichgelagerte Diagnosen stellten. Die Parteien haben weder schriftsätzlich noch bei der Erörterung vor der Kammer Zweifel an diesen Ergebnissen vorgebracht. Auch die Kammer ist angesichts der Intensität der Untersuchungen und der Breite der verwerteten ärztlichen Unterlagen von der Richtigkeit der gutachterlichen Ergebnisse überzeugt.

3. Wenn somit ein Einsatz des Klägers in der Filiale H... O... aus Gründen seiner Behinderung nicht in Frage kommt, ergeben sich die weiteren Konsequenzen in der Tat aus § 81 Abs. 4 SGB IX:

a. Auch wenn die Frage, an welchem konkreten Ort die Arbeitsleistung von dem schwerbehinderten Mitarbeiter zu erbringen ist, in dem Katalog des § 81 Abs. 4 Satz 1 nicht ausdrücklich Erwähnung wird, so ist die Kammer doch mit dem LAG Niedersachsen (06.12.2010 aaO.) der Auffassung, dass sich diese Frage unter den Oberbegriff der „Beschäftigung" im Sinne von § 81 Abs. 4 Satz 1 Ziffer 1 SGB IX subsumieren lässt. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es, den schwerbehinderten Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen, bei welcher das (Rest-)Leistungsvermögen der schwerbehinderten Menschen optimal zur Geltung kommt. Das erforderliche Korrektiv, welches den Arbeitgeber vor Überforderungen schützt, ist in § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX enthalten. Die Vorschrift des § 81 Abs. 4 SGB IX würde ihren Zweck verfehlen, wenn eine im Einzelfall ohne großen Aufwand mögliche Änderung des Arbeitsortes schon von vornherein als vom Katalog der vom Arbeitgeber zu erwägenden Anpassungsmaßnahmen nicht erfasst angesehen würde.

b. Der Kläger kann - trotz des hier auch arbeitsvertraglich entgegenstehenden Weisungsrechts der Beklagten - verlangen, in der Filiale L... beschäftigt zu werden. Ist eine anderweitige Beschäftigung und Vertragsänderung wegen der Behinderung des Arbeitnehmers notwendig, wird die Dispositions- und Vertragsfreiheit des Arbeitgebers zwar nur in dem Umfang eingeschränkt, wie es der Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX entspricht. Diese Norm räumt den schwerbehinderten Menschen an sich keinen Anspruch auf einen selbstbestimmten Arbeitsplatz ein; sie haben keinen Anspruch auf Zuweisung eines einzigen konkreten Arbeitsplatzes, sondern auf behinderungsgerechte Beschäftigung (LAG Düsseldorf 25.01.2008 - 9 Sa 991/07 - mwN., juris). Vorliegend hat die Beklagte die Beschäftigung des Klägers in einer anderen Filiale als der in O... insgesamt abgelehnt, Alternativen nicht aufgezeigt. In einem solchen Fall muss es dem behinderten Menschen gestattet sein, klagweise eine von ggf. mehreren behindertengerechten Einsatzmöglichkeiten zu konkretisieren, denn der gesteigerten Fürsorgepflicht gegenüber schwerbehinderten Menschen kann nur dadurch Rechnung getragen werden, dass ihnen ein unmittelbar einklagbarer Anspruch auf die ihrer Meinung nach konkrete behindertengerechte Beschäftigung eingeräumt wird (Beyer aaO. S. 2272). Dieser besondere Beschäftigungsanspruch entsteht kraft Gesetzes (BAG 10.05.2005 - 9 AZR 230/04 - juris) und kann unmittelbar unter Benennung der angestrebten Stelle geltend gemacht werden (BAG 03.12.2002 - 9 AZR 481/01 - juris).

Auch im Übrigen ist der Kläger seiner Darlegungslast nachgekommen, indem er im Einzelnen dargelegt hat, wie seine Beschäftigung in der Filiale L... erfolgen kann. Er hat dargelegt, dass im Warensortiment der Beklagten eine Vielzahl von Kleinartikeln anfällt, deren Einräumen auch ihm keine Schwierigkeiten bereitet. Seine Haupttätigkeit ist an der Kasse und die Beratung von Kunden. Das Verräumen schwerer Ware müssten in der Tat die Kollegen übernehmen, die er seinerseits sodann in ihrer eigentlichen Tätigkeit unterstützt. Hierbei wird das Integrationsamt in seiner Zuständigkeit Hilfsmittel zur Verfügung stellen, § 81 Abs. 4 Satz 2 SGB IX.

c. Nach § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX steht auch dieser besonders kodifizierte Beschäftigungsanspruch unter dem Vorbehalt, dass seine Erfüllung für den Arbeitgeber zumutbar und nicht mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist. Die Beklagte hat keine Gründe iSv. § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX vorgebracht, die ihr die Erfüllung des Anspruchs des Klägers unzumutbar machen würden. Es wird auf die ausführliche Auseinandersetzung mit den von der Beklagten vorgebrachten Argumenten in der arbeitsgerichtlichen Entscheidung (S. 8 ff, Bl. 201 ff d.A.) verwiesen, § 69 Abs. 2 ArbGG. Die Kammer folgt dem Arbeitsgericht. Soweit die Beklagte vorträgt, der Einsatz des Klägers in der Filiale L... würde dort zu einer Folge von Personalmaßnahmen führen, ist dies sicherlich zutreffend. Schon zur Vermeidung einer krankheitsbedingten Kündigung eines nicht schwerbehinderten Menschen können derartige Maßnahmen erforderlich sein (BAG 03.12.2002 aaO mwN.). Die Beklagte hat nicht behauptet, andere Arbeitnehmer entlassen zu müssen, um den Kläger beschäftigen zu können. Richtig ist sicherlich auch, dass es in der L... Filiale aufwendiger als in der größeren Filiale O... sein kann, Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers auszugleichen. Unzumutbar sind diese Aufwendungen nicht. Es ist nachvollziehbar, dass aus den verschiedenen Filialen Bedenken geäußert werden, den Kläger zu beschäftigen. Dies begründet aber keine Unzumutbarkeit im Sinne des § 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Im Übrigen soll mit dem Einsatz des Klägers in der Filiale L... gerade auch versucht werden, die Fehlzeitenquote des Klägers zu senken und so eine nachhaltige Beschäftigungsmöglichkeit zu schaffen.

4. Zu der beantragten Beschäftigung in der Filiale L... ist die Zustimmung des aufnehmenden Betriebsrates nicht erforderlich, denn dort ist ein Betriebsrat nicht gewählt worden. Deshalb war eine einschränkende Tenorierung nicht erforderlich. Eine etwaige Beteiligung des Betriebsrates des abgebenden Betriebs war nie im Streit.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.



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